Eine Siedlung will nicht weichen
Die Bewohner des Brunauparks in Zürich sollen einem Neubau Platz machen. Sie schliessen sich zusammen und wehren sich. Sogar eine Uno-Sonderberichterstatterin schaltet sich ein.
Von Sina Bühler, 27.05.2020
Eine Immobilienbesitzerin spricht eine Massenkündigung aus, um Hunderte von gut erhaltenen Wohnungen abzureissen und durch eine neue Überbauung mit teureren Wohnungen zu ersetzen. Wie wehrt man sich dagegen? Manuela Schiller, Anwältin und Präsidentin des Mieterinnen- und Mieterverbands Stadt Zürich, argumentiert, das neue Projekt könne aufgrund von Planungsfehlern und Versäumnissen gar nicht gebaut werden, womit auch die Kündigungen missbräuchlich seien.
Ort: Mietgericht Stadt Zürich
Zeit: 7. Mai 2020, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: MB190023
Thema: Kündigung der Mietwohnung
Kaum hat Manuela Schiller, die Anwältin der klagenden Mieterinnen, nach knapp zwei Stunden den 48 Seiten dicken Stapel ihres Einführungsreferats wieder auf den Tisch gelegt, wird die Verhandlung auch schon unterbrochen. Der Vertreter der Gegenseite, Urban Hulliger, hält eine sofortige Replik auf diesen Vortrag für unzumutbar. Er hat nicht damit gerechnet, dass Schiller, die diverse Wohnungskündigungen anficht, ihre Argumentation fast nur auf das Baurecht abstützt. Hulliger beantragt eine Verschiebung, Mietrichter Roger Weber gewährt sie: Somit geht der Streit um den Zürcher Brunaupark in eine weitere Warteschleife.
Begonnen hat er im Dezember 2018. Damals schreckt ein Artikel die Bewohnerinnen des Zürcher Brunauparks auf. Journalist Lukas Hässig schreibt auf «Inside Paradeplatz», die Besitzerin des Zürcher Brunauparks, die CS-Pensionskasse, wolle in rund zwei Jahren Hunderte von Mietern rauswerfen. Die Siedlung solle abgerissen und durch eine neue Überbauung ersetzt werden. Es gehe darum, die für die Stadt Zürich vergleichsweise günstigen Wohnungen gegen «teure Bleiben für wohlhabende Mieter» zu tauschen.
Die Planung, von der die Mieterinnen nichts wussten, läuft zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren, in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich. Davon ist nichts durchgesickert, auch nicht aus den diversen Architekturbüros, die an einem Wettbewerb für den Neubau teilnahmen.
Die Verwaltung Wincasa versucht zu beruhigen. Doch die Mieter sind in Panik. Sie rechnen damit, dass die Mietzinsen für sie in Zukunft nicht mehr erschwinglich sein werden. Aussergewöhnlich daran ist: Die ältesten Gebäude der Siedlung wurden vor neun Jahren totalsaniert, die jüngsten Häuser sind erst 23 Jahre alt. Alles ist gut erhalten.
Der Mieterinnenverband, der einen Teil der Bewohnerinnen bereits in anderen Fragen vertritt, lädt im Januar 2019 zur Versammlung, an der rund 250 Personen teilnehmen. Es entstehen eine Interessengemeinschaft und ein Forderungskatalog: Die Planung der Pensionskasse müsse pausiert werden, die Betroffenen müssten ein Mitspracherecht haben, und es sei ein Anteil günstiger Wohnungen einzuplanen.
Im Frühling 2019 reicht die Linke im Gemeinderat eine dringliche Interpellation ein, die Mieter demonstrieren vor dem Rathaus, die Geschäftsprüfungskommission des Gemeinderats wird beauftragt, den Fall zu untersuchen. Und dann, kurz vor Ostern, geht der Pöstler mit einem Sack eingeschriebener Kündigungsbriefe von Wohnung zu Wohnung. Vier der fünf Gebäude sollen abgerissen werden. Betroffen sind rund 400 Mieterinnen in 239 Wohnungen, von denen die meisten Ende März die Kündigung erhalten haben.
In den Tagen darauf organisieren die IG und der Mieterinnenverband innerhalb kürzester Zeit in einer organisatorischen Meisterleistung den Widerstand: Manuela Schiller und ihre Kolleginnen betreiben in der Pizzeria der Siedlung eine Woche lang ein Beratungsbüro. Sie holen pensionierte Rechtsberater aus dem Ruhestand, die bereits früher mit den Siedlungsbewohnerinnen gegen Mieterhöhungen und für korrekte Nebenkostenabrechnungen gekämpft haben. Sie stellen Scanner und Kopierer auf, die Wartenden bekommen Nummernzettel. Wer die notwendigen Unterlagen nicht dabei hat, wird wieder heimgeschickt, bis alles stimmt, was penibel überprüft wird. «Wir haben mit jedem einzelnen Mieter, jeder einzelnen Mieterin geredet», sagt Schiller.
Das Resultat: 120 Einsprachen gegen die Kündigung. Heute sind nicht mehr ganz alle davon übrig geblieben, weil einige Bewohnerinnen schon ausgezogen sind. Das sieht man auch, wenn man die Briefkästen der Siedlung betrachtet: Auf verschiedenen steht kein Name mehr.
Der Brunaupark ist keine besonders hübsche Überbauung. Die wild zusammengewürfelten Blöcke sind optisch kaum aufeinander abgestimmt. Hier helle und dunkle Schindeln, dort unverputzte graue Backsteine, da brauner Putz, dort Hellblau, Weinrot, Orange. Gebaut wurden die Blöcke auf einer Parkgarage und einem Einkaufszentrum. Gelungen ist immerhin die Gartenanlage, die das Ganze zusammenhält. Die uneinheitliche Gestaltung hat einen Grund: Die Siedlung ist in vier Etappen erstellt worden. Der erste Wohnblock entstand 1980, der zweite 1982, Etappen drei und vier wurden 1993 und 1996 fertiggestellt. Insgesamt umfasst die ganze Siedlung 405 Wohnungen.
Sie liegt im Schatten des Uetlibergs, auf einem Gelände, auf dem früher Lehm abgebaut und Ziegel gebrannt wurden. 1970 wird es von der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) gekauft, der heutigen CS. Sie plant, auf dem Areal ein Bürogebäude zu erstellen. Nur geht das nicht so einfach. Die 100’000 Quadratmeter grosse Parzelle liegt in der falschen Zone: in der Wohnzone C, in der Wohnhäuser mit bis zu drei Geschossen erlaubt sind.
Doch die SKA findet eine Lösung: Sie kann mit der Stadt einen Vertrag abschliessen, in dem sie sich verpflichtet, gut ein Drittel des Areals als Wohnfläche zu bebauen und dafür 30 Jahre lang nur Kostenmiete zu verlangen. Im Gegenzug gibt die Stadt der Bank die Erlaubnis, auf die fünfgeschossige Wohnzone A aufzustocken, und erteilt eine Sondererlaubnis, damit auf dem Rest der Parzelle das Verwaltungsgebäude Uetlihof erstellt werden darf. Jedes Mal, wenn dieses ausgebaut wird, muss auch die Zahl der Wohnungen erhöht werden. Die Bank baut die Siedlung in verschiedenen Etappen und hält sie gut in Schuss.
Zwischen 2009 und 2012, kurz bevor die ersten Häuser aus der Mietzinskontrolle entlassen werden, saniert die CS die Wohnungen der ersten zwei Bauetappen. Danach werden die Mieten um bis zu 60 Prozent erhöht: Für bestehende Mieter kostet eine 4½-Zimmer-Wohnung statt 1400 Franken neu plötzlich 2245 Franken brutto. Neumieter bezahlen mehr als 3000 Franken für eine 3½-Zimmer-Wohnung.
Bereits im Jahr 2001 war eine weitere Einschränkung entfallen: Die CS muss nicht mehr jedes Mal Wohnungen erstellen, wenn das Bürogebäude erweitert wird. Das nützt die Bank aus: 2012 fanden über 2000 zusätzliche Mitarbeiterinnen Platz im Uetlihof. Inzwischen ist das Gebäude für eine Milliarde Franken an den norwegischen Staatsfonds verkauft worden.
Nun soll also fast der ganze Brunaupark weg. Geplant sind 500 neue Wohnungen «im mittleren Preissegment», 725 Parkplätze, 1400 Veloabstellplätze, viel Grün, grosse Bäume. Am 20. März 2019 reicht die Pensionskasse der CS das Baugesuch für die neue Siedlung ein – sieben Tage bevor sie die Kündigungsbriefe verschickt. Die Mieter sollen gestaffelt ausziehen, einige Ende Juni 2020, andere Ende Juni 2023. «Sie alle werden bei der Wohnungssuche bestmöglich unterstützt», steht in einer Medienmitteilung.
Doch ganz so einfach wird es nicht für die CS: Die Stadt stellt klar, dass sie bis zum Ablauf des Vertrags auf der noch gültigen Mietzinskontrolle besteht. Im Juni 2019 kommt Leilani Farha, Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen, zu Besuch und protestiert gegen den Abbruch. Fünf Monate später doppelt sie mit einem Brief an die Immobilienbesitzerin und an den Bundesrat nach.
Die Bausektion des Stadtrats brauchte ein ganzes Jahr, um das Baugesuch zu bewilligen: Immer wieder muss es ergänzt werden. Als die Bewilligung am 10. März 2020 publiziert wird, ist sie gespickt mit Auflagen und Bedingungen. Inzwischen sind auch drei fristgerechte Rekurse gegen die Baubewilligung eingegangen: aus der Nachbarschaft, vom Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) und von der Bauherrin selber, die sich gegen gewisse Auflagen wehrt. Der Entscheid des Baurekursgerichts wird wohl nicht vor dem Herbst gefällt.
Für die rund 80 Verfahren, die heute noch am Laufen sind, haben die beiden Seiten ein Abkommen getroffen. Die Kündigungen werden in acht Kategorien eingeteilt und als Musterprozesse geführt: Deren rechtskräftiger Ausgang ist für alle Fälle derselben Kategorie verbindlich. Am 7. Mai sind die ersten beiden Kategorien an der Reihe. Die Mieteranwältin Manuela Schiller richtet ihre Strategie nicht auf die Massenkündigung, sondern auf das «nicht ausgereifte noch bewilligungsfähige Projekt» aus. Sie zitiert die Auflagen, die Fehler, Verstösse gegen das kantonale Planungs- und Baugesetz, gegen die städtische Bauordnung und diverse eidgenössische Gesetze – beispielsweise, was den Schattenwurf angeht und die Zahl der Parkplätze.
Zuerst fehlten Machbarkeitsstudien, dann die Hälfte eines Lärmgutachtens: Schiller glaubt nicht, dass die geplante Siedlung überhaupt gebaut werden kann, und ist der Ansicht, dass damit auch die Wohnungskündigungen missbräuchlich seien. Denn begründet wurden diese einzig mit dem Neubauprojekt.
Auf Anfrage schreibt die Pressestelle der Credit Suisse: «Wir haben den positiven Bauentscheid von der Stadt Zürich erhalten. Die Rekursfrist ist beendet und wir wollen im Dialog mit den Rekurrenten tragfähige Lösungen erarbeiten. Parallel zum baurechtlichen Verfahren ist es weiterhin unser Ziel, mit den betroffenen Wohnungsmietern gute Lösungen zu finden. Auch uns ist es wichtig, dass möglichst viele, die das wünschen, im Brunaupark bleiben können.»
Mietrichter Roger Weber wird für den Fall einen neuen Termin im Sommer ansetzen. Noch vorher folgen die weiteren Pilotprozesse. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass zumindest einige davon bis ans Bundesgericht gezogen werden. Was heute schon klar ist: Ende Juni 2020 muss niemand aus dem Brunaupark ausziehen.
Illustration: Till Lauer