Binswanger

Betet, freie Schweizer, betet

Die Entwicklung ist positiv, die Corona-Ansteckungen sinken. Die Frage ist: Wird das um Himmels willen so bleiben?

Von Daniel Binswanger, 23.05.2020

Grossartig, uff, bis jetzt läuft es gut! In diesen feierlichen Tagen zwischen Christi Himmel­fahrt und pfingstlicher Ausgiessung des Heiligen Geistes werden die liturgischen Gesänge – ab nächster Woche sind Gottes­dienste ja wieder zulässig – von einer sehr profanen Bitte übertönt: Möge es um Himmels willen so bleiben! Der bisherige Schweizer Lockdown-Exit zeugt von überwältigendem Gott­vertrauen. Um nicht zu sagen von jenseitiger Leichtfertigkeit.

In den Tagen vor dem Pfingst­wochenende wird es deshalb jetzt so richtig spannend werden: stay tuned! Man wird definitiv zu sehen anfangen, ob die Lockerungen vom 11. Mai sofort zu steigenden Ansteckungs­raten geführt haben – oder eben nicht. Die Wieder­erweckung des öffentlichen Lebens ist schnell und grossflächig vollzogen worden. Teilweise unter Umsetzung penibler Schutz­konzepte – wie beispiels­weise in den Gastro­betrieben –, und teilweise in erstaunlicher Sorglosigkeit.

Zwischen 2 und 5 Prozent: So hoch soll gemäss einer Erhebung der Zürcher Verkehrs­betriebe der Anteil der Fahrgäste sein, die sich selber beziehungs­weise alle anderen mit einer Maske schützen. Eine Aktion zum Verteilen von Gratis­masken, welche die verzweifelten VBZ organisiert haben, ist wirkungslos verpufft. Der Bundesrat seinerseits empfiehlt mittler­weile ganz explizit das Tragen einer Maske in vollen Zügen und Bussen. Der Gesichts­schutz ist zwar unbequem und lästig, aber weder führt diese Massnahme zu einer Schädigung der Wirtschaft, noch ist ihre Implementierung heute eine logistische Unmöglichkeit. Masken im öffentlichen Raum senden auf potente Weise das Signal aus: Leute, wir wollen zwar so viel Normalität wie möglich, aber die Sache ist nicht vorbei. Doch da die Masken nicht obligatorisch sind, werden sie von einer über­wältigenden Mehrheit ignoriert.

Das wirft erstens ein sehr ernüchterndes Licht auf das mittler­weile zur obersten Staats­räson erhobene Prinzip der Freiwilligkeit. Und zeigt zweitens, welchen Einfluss lavierende und defensive Kommunikation, wie sie der Bundesrat in der Masken­frage an den Tag gelegt hat, auf das Verhalten der breiten Bevölkerung hat. Keine Bundes­rätin wagt es noch, öffentlich das Wort zu ergreifen, ohne in jedem zweiten Satz die «Eigen­verantwortung der Bevölkerung» zu loben. Ist das eine Beschreibung der realen Verhältnisse oder Ausdruck des eigenen Autoritäts­verlustes?

Wir werden zu den Schweden Zentral­europas. Auch bei den skandinavischen Durch­seuchungs­pionieren werden Masken nicht getragen – mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass dort das Konzept wenigstens schlüssig ist und die Regierung die Hygiene­masken auch gar nicht empfiehlt. Alle Nachbar­länder der Schweiz haben jedoch ein drakonisches Masken­obligatorium verordnet, nicht nur für den öffentlichen Verkehr, sondern auch für Einkaufs­läden. Es ist ein steiler Allein­gang, auf den sich die Eidgenossenschaft hier kapriziert. Und von dem die Schweizer Öffentlichkeit noch nicht einmal Notiz zu nehmen scheint.

Es mag ja dennoch so sein, dass sich der Verzicht auf Masken am Ende als nicht falsch erweist. Noch immer gibt es keinen soliden Experten­konsens darüber, wie effizient nun der Gesichts­schutz tatsächlich ist, obschon die Annahme immer besser abgestützt erscheint, dass sein gross­flächiger Einsatz zur Senkung der Ansteckungs­raten in der Tat einen Beitrag leistet.

Allerdings kommt der gelobte schwedische Heilsweg mit jedem Tag, der ins Land geht, noch stärker unter Druck. Eine neue Untersuchung der Behörden hat ergeben, dass die Durchseuchungs­rate der Bevölkerung von Stockholm Ende April erst bei 7,3 Prozent lag und damit weit hinter den Berechnungen der Epidemiologen zurück­bleibt, die auf eine rasch steigende Herden­immunität setzen wollten und sich auf dieser Basis gegen den Lockdown entschieden. Doch auch Schweden scheint von Durch­seuchungs­raten, die irgendwann die Viren­ausbreitung substanziell zu verlangsamen beginnen, weit entfernt zu sein. Wenn man die aktuellen Todes­zahlen nimmt, ist es inzwischen zum Land mit der höchsten Pro-Kopf-Sterberate in ganz Europa geworden. Vor Gross­britannien, vor Spanien, vor Italien.

Hierzulande ist die Saat des Lockdown-Bashings dennoch aufgegangen. Es ist die klassische Schweizer Geschichte, nur diesmal mit stark verschärftem Ansteckungs­potenzial: Die SVP leckt Blut, die FDP knickt ein – und plötzlich gibt es kein Halten mehr. Noch immer ist die Twitter-Timeline voll von grotesken Beweisen, weshalb der Erfolg des Lockdown die Über­flüssigkeit des Lockdown belegen soll. Noch immer wird insinuiert, herbei­geredet, das Missverständnis bewirtschaftet, die Reproduktions­rate sei schon vor dem Lockdown unter 1 gesunken. Denn nach allem, was wir bisher wissen, hat sich der Wert erst danach dort stabilisiert. Noch immer werden die Postfächer mit Verschwörungs-Spam geflutet, zum Beispiel dem Fake-Bericht «aus dem deutschen Innenministerium», und manchmal von den erstaunlichsten Absendern.

Die psychologische Belastung durch die Massnahmen und die Angst vor einer Erkrankung, die für viele Menschen existenz­bedrohende Wirtschafts­krise, die Betreuungs­probleme aufgrund der Schul­schliessungen, die Folgen der immer länger dauernden sozialen Isolation und des Eingesperrt­seins, die Zukunfts­ungewissheit: Das destabilisierende Potenzial der gegenwärtigen Lage kann man wohl gar nicht überschätzen. Wir bräuchten Parteien und Behörden, die mit maximaler Nüchternheit, Klarheit und Unbeeindruckbar­keit agieren. Wir sehen etwas anderes.

Natürlich tragen auch die Schweizer Medien eine schwere Verantwortung. Ein absoluter Tiefpunkt der Corona-Bericht­erstattung war die letzte Ausgabe der «Schweiz am Wochenende». Dass die «Weltwoche» nun «Es braucht keine Schutz­massnahmen mehr» auf die Titelseite setzt? Geschenkt. Es fragt sich höchstens noch, zu welchem Zeitpunkt die «Weltwoche» die jetzigen Bill-Gates-Lobgesänge durch altbewährte George-Soros-Verteufelungen ersetzen wird. Aber die «Schweiz am Wochenende» ist eine andere Liga: Wo Chef­redaktor Patrik Müller steht, da steht der Schweizer Mainstream.

Müller ist durchaus auch zu Opportunismus der unschönen Spielart fähig – man denke etwa an die Geri-Müller-Affäre –, aber dass es ihm jetzt opportun erscheint, ins Lockdown-Bashing einzusteigen, ist kein gutes Zeichen. «War das wirklich nötig?» lautet der letzte «Schweiz am Wochenende»-Titel, und die Antwort hätte eindeutiger kaum sein können.

Als wissenschaftliche Zeugen wurden der Epidemiologe John Ioannidis, der Ökonom Stefan Homburg und die Politologin Regula Stämpfli aufgeführt. Sicherlich: Auch die Thesen von «Querdenkern» haben ein Recht darauf, ernst genommen, dargestellt und diskutiert zu werden. Aber hätte man nicht wenigstens einen Hinweis darauf machen sollen, wie extrem kritisch die Studie von Ioannidis in der scientific community bewertet wird? Hätte man nicht anmerken müssen, dass Homburg zwar der neue Star der «Querfront» ist, dass aber seine Inter­pretation der Zahlen des Robert-Koch-Instituts von wissenschaftlicher Seite als falsch zurück­gewiesen wird? Und hätte man uns wenigstens einen Grund nennen können, weshalb die streitbare Regula Stämpfli nun plötzlich als Corona-Expertin firmiert? All dies hielt man nicht für nötig in Aarau. Die Leute haben genug vom Eingesperrt­sein. Da liefert man die «Querdenker» am besten ohne Einordnung.

Aber sicher: Es gibt gute Nachrichten. Die Fallzahlen sind weiterhin sehr tief. Die Eigen­verantwortung ist zwar zu guten Teilen ein Diskurs-Phantom, die Bühne gehört den Amok­läufern, und erstaunlich viele Medien schwimmen einfach mit dem Strom. Aber wie heisst es doch in der Apostel­geschichte über das Pfingst­wunder? «Alle wurden mit dem heiligen Geist erfüllt.» Glückliche Fügungen gibt es, Wunder sollen geschehen. Wir werden darauf zählen müssen.

Illustration: Alex Solman