Wer managt in Bern die Corona-Krise?
Es ist kompliziert. Und zeigt die Machtverhältnisse im Land.
Eine Recherche von Andrea Arežina, 15.05.2020
Das Telefonat läuft bereits seit 45 Minuten. Und Vizekanzler André Simonazzi hat es noch nicht geschafft, die Frage aus dem Weg zu räumen, die überzeugende Antwort zu liefern, die kurvenreiche Erklärung zu glätten, um endlich, endlich zufrieden den Hörer aufzulegen.
Kurz vor Schluss des Telefonats greift Simonazzi zu Worten, die für einen Vizekanzler und Bundesratssprecher nicht üblich sind. Er sagt zuerst, dass er, der seit elf Jahren im Bundeshaus ein- und ausgehe, so eine Krise noch nie erlebt habe. Dass alle überfordert sind, sagt er nicht. Was er hingegen sagt: «Das ist ausserordentlich, noch nie hat man in einer Krise die Grenzen, die Läden und unsere politischen Rechte so eingegrenzt.» Lockdown.
Doch auch das erklärt nicht, wieso das Rückgrat der Macht, der sogenannte Ad-hoc-Krisenstab, zuständig für
a) die Lageverfolgung, Lagebeurteilung und Orientierung zuhanden des Bundesrates;
b) die Vorbereitung von Handlungsoptionen und Entscheidgrundlagen für den Bundesrat;
c) die Koordination mit anderen im Einsatz stehenden Krisenstäben;
d) die Steuerung und Koordination des Krisenmanagements durch den Bundesrat;
e) die Sicherstellung der Koordination mit der Krisenkommunikationszelle BK;
ein Gremium ist, in dem genau drei Gruppen sitzen:
die Wissenschaft,
die Wirtschaft und
die sogenannte Zivilgesellschaft.
Wieso es genau diese drei sind – und wieso beispielsweise niemand für die Pflege –, dafür fehlt die stringente, klare Antwort.
Aber der Reihe nach.
Wer genau sitzt im Krisenstab?
In den vergangenen Wochen las man in den Schweizer Medien immer wieder vom «Krisenstab». Diesen einen Krisenstab gibt es jedoch gar nicht, es gibt mehrere Krisenstäbe, doch um das zu erfahren, brauchte es viele Telefonate, Mailwechsel und eine Zeichnung. Schliesslich schickte die Bundesverwaltung ihr Organigramm.
Die Covid-19-Organisation des Bundes
Bundesrat
Kantone (z. B. GDK,
RK MZF …)
EDI
Krisenstab des Bundesrats Corona (KSBC)
GS-EDI
BAG
VBS
EDA
WBF
UVEK
EJPD
EFD
BK
KdK
Bundesstab
Bevölkerungsschutz (BSTB)
Taskforce BAG
Leitung Kontaktstellen
FF BAG
KSBC
FF BAG
Wirtschaft
SANKO
Forschung
sKV Covid-19
Sanitätsdienstliche
Kapazitäts- und
Versorgungsplanung
Zivilgesellschaft
weitere AG
bei Bedarf
Quelle: Bundeskanzlei
Die Covid-19-Organisation des Bundes
Bundesrat
Kantone
(z. B. GDK,
RK MZF …)
EDI
Krisenstab des Bundesrats Corona (KSBC)
GS-EDI
BAG
VBS
EDA
WBF
UVEK
EJPD
EFD
BK
KdK
Bundesstab Bevölkerungsschutz (BSTB)
FF BAG
SANKO
sKV Covid-19
Sanitätsdienstliche
Kapazitäts- und
Versorgungsplanung
weitere AG
bei Bedarf
Taskforce BAG
FF BAG
Leitung Kontaktstellen
KSBC
Wirtschaft
Forschung
Zivilgesellschaft
Quelle: Bundeskanzlei
Ganz oben auf diesem Organigramm steht der Bundesrat, der die Entscheidungen fällt, auch in der Pandemie. Eine Ebene tiefer steht das Eidgenössische Departement des Innern, das die Federführung in dieser Krise hat. Noch eine Stufe weiter unten sitzt der Krisenstab, in dem die strategischen Diskussionen geführt werden, aufgrund deren unter anderem die politischen Grundlagen ausgearbeitet werden. Sie dienen dem Bundesrat bei der Entscheidungsfindung. Je nach strategischer Diskussion und Fragestellung im Krisenstab arbeitet ein anderes Departement die Vorlage aus, die von einem oder einer der entsprechenden Bundesräte oder Bundesrätinnen an der Bundesratssitzung eingebracht wird.
Der Krisenstab – genau genommen der Ad-hoc-Krisenstab (Punkt 4) – besteht aus mindestens einem Mitglied jedes Departements. Häufig ist das der Direktor oder auch die stellvertretende Direktorin. Mitglieder können auch persönliche Mitarbeiter aus den Stäben der Bundesräte sein. Ebenfalls im Krisenstab vertreten ist die Bundeskanzlei mit zwei Mitgliedern. Für die Kantone nimmt der Generalsekretär der Konferenz der Kantone teil.
Der Krisenstab besteht aus 12 Männern und 2 Frauen. Dafür können die entsprechenden Herren nicht allzu viel, es liegt daran, dass die meisten Direktionen der Bundesbehörden von Männern geleitet werden. So wie das auch in der Wirtschaft der Fall ist. Beispielsweise beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, bei Gastrosuisse, Hotelleriesuisse, Swiss Tourismus, dem Hauseigentümerverband, bei den grössten Banken, den Airlines Swiss und Edelweiss – überall sind es Männer, die an der Spitze stehen. Und auch das ist ja nicht weiter ungewöhnlich, aber es wird eben besonders schön sichtbar, wenn Krise ist.
Das Rückgrat der Macht in diesem Land, es besteht vor allem aus Männern.
Wer gibt hier die Inputs?
Zum Ad-hoc-Krisenstab gehört auch ein sogenanntes Soundingboard, das im Organigramm als «Leitung Kontaktstellen KSBC» bezeichnet wird. Das Soundingboard besteht aus drei Gruppen. Der Gruppe Wirtschaft, die durch Economiesuisse-Chef Heinz Karrer vertreten ist. Der Gruppe Zivilgesellschaft, die durch das Start-up staatslabor von Alenka Bonnard und Danny Bürkli vertreten wird und in dem auch Köpfe des Thinktanks foraus hirnen. Und aus der dritten Gruppe, der Forschung, die durch den Epidemiologen Matthias Egger vertreten ist, der zugleich Chef der Taskforce Science ist.
Was dieses Soundingboard genau macht? Vizekanzler André Simonazzi erklärt es so: «Sie liefern Inputs und Impulse. Sie bringen ihre Meinung ein, damit wir nebst der aus dem Bundesamt für Gesundheit und dem Innendepartement auch Stimmen aus der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft haben.» Diese Vertreter der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft würden aber nicht Partikularinteressen einbringen. Vielmehr wolle der Krisenstab von ihnen wissen, was die Massnahmen «an der Front» bewirken beziehungsweise wie sie sich auswirken könnten.
Das Soundingboard solle mithelfen, dass der Bundesrat keine wesentlichen Elemente vergesse.
Ach so.
Frage: Wieso sitzen die Arbeitgeber – die Wirtschaft – drin, nicht aber die Arbeitnehmerinnen – die Gewerkschaften? Vizekanzler Simonazzi sagt: «Für die Sozialpartner, Gewerkschaften und Arbeitgeber gibt es den runden Tisch – sie werden in diesem Rahmen zu Gesprächen eingeladen. Der Krisenstab hat keine Schlichtungsfunktion zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er hat eine andere Aufgabe, er bestimmt die Stossrichtungen bei der Bewältigung der Krise.»
Für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund scheint der Ad-hoc-Krisenstab nicht besonders relevant zu sein. Jedenfalls will sich niemand dazu äussern. Wieso auch, schliesslich kennt Daniel Lampart, der Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, das Berner Machtnetzwerk. Lampart verfügt nicht nur über langjährige Kontakte ins Innere des Bundeshauses, er weiss sie auch für die Interessen der Arbeitnehmenden zu nutzen. So hat es Lampart zum Beispiel geschafft, dass das Thema Kurzarbeit schnell angegangen wurde. Doch stand offenbar auch bei ihm das Anliegen der Pflegefachfrauen nicht zuvorderst. Oder gingen die Gewerkschaften davon aus, dass sich andere für sie einsetzen würden?
Und was ist mit den anderen?
Weder der Pflegeverband noch der Kita-Verband sitzen im Krisenstab. Klar, man kann nun argumentieren, dass sie über das Innendepartement indirekt vertreten sind. Aber wieso reicht es dann umgekehrt nicht auch, die Wirtschaft über das Wirtschaftsdepartement einzubinden?
Vizekanzler Simonazzi betont, dass es wichtig sei, dass die Wirtschaft im Krisenstab vertreten sei. Und der Chef des Krisenstabes, Lukas Bruhin, unterstreicht das mit einem konkreten Beispiel: «Wenn die Masken auf dem Weltmarkt nicht mehr oder nur schwierig erhältlich sind, müssen wir schauen, ob unsere Wirtschaft Masken produzieren kann.»
So sitzt nun halt einfach niemand im Krisenstab, dem strategischen Organ, der hätte rückmelden können,
wie sich die Lockerungen der Ruhezeiten beim Pflegepersonal auswirken,
wie viele Kinder überhaupt noch in die Kitas kommen, nachdem der Bundesrat allen, die Homeoffice machen können, empfohlen hatte, die Kinder selbst zu betreuen,
und was das wiederum für die Kitas finanziell bedeutet.
Oder wie sich Homeoffice und Homeschooling vereinbaren lassen, ohne dabei komplett durchzudrehen.
Zu den Kitas sagt der Chef des Krisenstabs: «Der Kibesuisse-Verband war mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Innendepartement in Kontakt. Die Anliegen der Kitas flossen über diese Stellen in den Bundesrat ein.»
Bei der Frage, wie sich Homeoffice und Homeschooling vereinbaren lassen, gibt der Chef des Krisenstabes eine persönliche Antwort: «Das ist in der Tat eine Belastung. Ich bin selber Vater eines Kindes, das sonst in der Kita ist.» Und kommt nochmals auf die Pflege-Gruppe zurück: «Ihre Themen fliessen über das Bundesamt für Gesundheit und die Kantone in die Krisenorganisation ein. Und auch über die Kontaktstelle Zivilgesellschaft sind Kontakte sehr gut möglich. Wenn sie sich bei uns gemeldet hätten mit dem Wunsch, auch Einsitz zu nehmen im Krisenstab, hätten wir uns dem Gespräch nicht verweigert.»
Das scheiterte allerdings nicht zuletzt daran, dass der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) nichts davon wusste, dass es einen Krisenstab und ein Soundingboard gibt, wie es beim Verband heisst.
Die Leiterin der Abteilung Pflegeentwicklung beim Pflegefachverband, Roswitha Koch, hat eine klare Meinung zum Krisenstab: «Nicht eine einzige medizinische Fachperson, Ärztin oder Pflegefachperson ist darin eingebunden.» Überhaupt sei der SBK in keinem Gremium formal eingebunden. «In der ganzen Bundesverwaltung gibt es keine Stelle, die explizit da ist, um die Pflegefachleute und ihre Teams zu vertreten, damit man ihre Sicht auch kennt.» Und Roswitha Koch macht einen Vorschlag, den andere Länder bereits kennen: «An vielen Orten gibt es die Government Chief Nurse, die explizit die Sicht und die Expertise der Pflegefachleute im Gesundheitsministerium einbringt.»
Was wäre, wenn?
Krisenstäbe, Expertengruppen, Soundingboards. Prallvoll mit Wirtschaftsvertretern, Wissenschaftlerinnen, Direktoren. Es ist nicht besonders abwegig anzunehmen, dass sie alle in einer ähnlichen Umgebung gross geworden sind und sozialisiert wurden – und darum ähnliche Fragestellungen besprechen wollen. Andere werden vergessen gehen.
Ob mehr Frauen im Krisenstab oder eine Government Chief Nurse im Soundingboard dazu geführt hätten, dass sich der Bundesrat in der Krise da und dort anders entschieden hätte? Aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ist nicht davon auszugehen. Aber womöglich wären in dieser Krise das Pflegepersonal, die Verkäuferinnen, die Kinderbetreuerinnen nicht nur sichtbarer geworden – sie wären auch Thema gewesen im Krisenstab, und ihre Herausforderungen wären mindestens ein Stück weit mehr ins Rampenlicht gerückt.
Dass die Zusammensetzung des Krisenstabes nicht so bleiben muss, findet auch der Chef des Krisenstabes. Zum Schluss des Gesprächs sagt er: «Ich bin nicht dagegen, dass wir bei der nächsten Krise weitere Kreise einbeziehen könnten.»