Binswanger

Das Stockholm-Syndrom

Die Exit-Debatten drehen sich obsessiv um Schweden. Es ist ein Irrtum zu glauben, es gehe dabei um die optimale ökonomische Strategie. Es geht um Werte – und ist wirklich zum Fürchten.

Von Daniel Binswanger, 09.05.2020

Man hätte ja glauben können, die Welt durchlebe eine Pandemie, welche die Menschen an Leib und Leben bedroht. Aber seit dieser Woche herrscht hierzulande eine Stimmung, als sei dies eine optische Täuschung, eine fahrlässige Fehl­beurteilung, eine flüchtige Illusion: Covid-19 wird mehr und mehr zum Codewort für eine Jahrhundert-Wirtschafts­krise – eine Wirtschafts­krise und sonst nichts.

Es handelt sich offenbar um eine Wirtschafts­krise, die nicht durch ein Virus, sondern durch überzogene Lockdown-Massnahmen ausgelöst worden ist. Eine Wirtschafts­krise, die kommende Generationen mit unerträglichen Schulden belasten wird und dringend bekämpft werden muss durch eine sofortige Rückkehr zu maximaler Normalität. Und sofern trotzdem noch epidemiologische Bedenken bestehen sollten: alles kein Problem!

Es sterben ja die Alten. Die Tracing-App? Können wir ruhig auch erst später startklar haben. Eine Telefon­nummer im Restaurant hinter­lassen? Das wäre ein unerträglicher Eingriff in den Daten­schutz und ein unzumutbarer bürokratischer Aufwand für die Restaurateure. Masken? Da müssen wir unbedingt auf Freiwilligkeit setzen, was sich nur schon daraus ergibt, dass in der Deutsch­schweiz Masken in den Super­märkten und den öffentlichen Verkehrs­mitteln eigentlich kaum getragen werden. Mitten in einer Wirtschafts­krise brauchen wir keinen Behörden­firlefanz. Da ist es viel zielführender, stattdessen die Evergreens der eidgenössischen Polit­rhetorik aus der Kiste zu kramen: Eigen­verantwortung. Vertrauen. Mündige Bürger. Diese Pathos-Formeln sind in unserem Land Gott sei Dank ja nie die falsche Antwort.

Das Problem ist nicht nur, dass sich die öffentliche Auseinander­setzung gerade mit exponentiellen Zuwachs­raten in ihre eigene zynische Karikatur verwandelt. Das Problem ist, dass die breite Wahr­nehmung der Corona-Krise nun tatsächlich in diesen Bahnen verläuft. Die Sotomo-Umfrage vom Donnerstag kommt zum Ergebnis, dass sich 48 Prozent der Befragten vor einer Wirtschafts­krise fürchten – und noch 6 Prozent vor einem potenziellen Zusammen­bruch des Gesundheits­wesens. 57 Prozent haben inzwischen Bedenken, dass ihre persönliche Freiheit durch Anti-Corona-Massnahmen übermässig eingeschränkt wird, während nur noch 34 Prozent darüber beunruhigt sind, dass sie sich anstecken könnten. Wer sich wundert, weshalb sich Politiker aller Verantwortungs­ebenen plötzlich mit Vehemenz dagegen verwahren, dass «Wissenschafter die Politik und die Medien vor sich hertreiben» (O-Ton der Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli), braucht nichts weiter zu suchen als diese Umfrage. Welchen Einfluss solche Ansagen wohl auf das «eigen­verantwortliche» Verhalten der Bürger haben werden?

Sicherlich: Es ist eine Tatsache, dass wir in eine Jahrhundert-Wirtschafts­krise geraten. Das Seco prognostiziert mittler­weile einen Rückgang von 6,7 Prozent des BIP für 2020. Das übertrifft sogar das Ausmass der Ölkrise von 1975 – und diesmal wird es nicht möglich sein, den Einbruch aufzufangen, indem über 200’000 «Gastarbeiter» zurück in ihre Herkunfts­länder geschickt werden. Dass sich die Bürger massive Sorgen machen um ihre wirtschaftlichen Perspektiven, ist alles andere als irrational. Absurd ist allerdings, dass die epidemiologischen Risiken mehr und mehr behandelt werden, als wären sie eine Fata Morgana oder ein vernachlässigbarer Neben­aspekt. Aber schliesslich gibt es den strahlenden Beweis dafür, dass man problemlos die Wirtschaft hochfahren und auf den Lockdown verzichten kann: Schweden!

Die Köppels, Maurers und Eichen­bergers dieser Welt werden weiterhin nicht müde, das schwedische Vorbild auf allen Kanälen zu besingen. Das ist nicht nur deshalb bizarr, weil gemäss den Zahlen der Johns Hopkins University die Todes­fälle pro 100’000 Einwohner in Schweden Stand heute fast 50 Prozent höher sind als in der Schweiz (und sagenhafte 600 Prozent höher als im benachbarten Norwegen), und dies bei weiterhin hohen täglichen Todes­zahlen. Aber hey: Es sterben nur die Alten.

Ein zweites kleines Problem müsste der ungezügelten Schweden-Begeisterung aber selbst aus Sicht der ideologischen Rechts­ausleger einen Dämpfer versetzen: Die Rezession im neuen skandinavischen Muster­staat wird genauso stark sein wie in der Schweiz – wenn nicht noch einiges desaströser.

Eine Studie der schwedischen Zentralbank prognostiziert einen Einbruch von 6,9 Prozent, im besten Fall. Als zweites plausibles Szenario werden minus 9,7 Prozent vorausgesagt. An Orten, wo man sich noch um volks­wirtschaftliche Analysen bemüht, zum Beispiel in der «Financial Times», wird die Daten­lage folgender­massen zusammen­gefasst: «Der behauptete Trade-off zwischen Massnahmen gegen das Virus und wirtschaftlicher Gesundheit ist, jedenfalls in der mittleren Frist, eine Illusion.» Es ist die Illusion, die inzwischen die Prämisse der helvetischen Debatte bildet.

Allerdings geraten die Fürsprecher des neuen Stockholm-Syndroms allmählich doch ein wenig unter Rechtfertigungs­druck – weshalb man die Bewunderung für den schwedischen Weg mit fluktuierenden Begründungen versehen muss. Letzte Woche gab unser Finanz­minister noch treuherzig – und selbst­verständlich unwidersprochen – in der NZZ zu Protokoll: «Gerade am Montag habe ich mit meiner schwedischen Amts­kollegin telefoniert. Dort lebt man mehr oder weniger normal weiter. Das Brutto­inland­produkt ist viel weniger stark eingebrochen.» Als diese Woche aber der «Club» des Schweizer Fernsehens über die wirtschaftlichen Folgen der Krise diskutierte – was selbst­verständlich nicht mehr denkbar ist, ohne dass eine Liveschaltung nach Stockholm dem Zuschauer die Vorzüge des schwedischen Modells so nahe bringt wie möglich – musste Reiner Eichenberger unverhofft die Argumentations­ebene wechseln. Wirtschaftlich bringe der schwedische Weg zwar nicht ganz so viel. Aber erstens können die armen Schweden da nichts dafür, und die Schuld trifft die verfehlte Quarantäne-Strategie von Italien, Frankreich, Spanien, Gross­britannien (also Staaten, die unter strikten Lockdown-Bedingungen bisher je zwischen gut 25’000 und 30’000 Tote zu beklagen haben). Und zweitens, so Eichen­berger: «Es ist staats­politisch besser.» Wenn die ökonomische Vernunft ökonomisch keinen Unter­schied macht, argumentieren wir eben staatspolitisch.

Wie erklärt sich das epidemische Stockholm-Syndrom? Weshalb sind weite Kreise dagegen so wenig resistent, obwohl Schweden nach heutiger Daten­lage ökonomisch nicht besser fährt und stark erhöhte Todes­zahlen hat? Die kurze Antwort dürfte lauten: weil die Todes­zahlen höher sind. Weil in einer bestimmten Weltsicht die realistische, virile, eben «rationale» Haltung zwangs­läufig auf der Seite der grösseren Härte liegt. Weil jede andere Güter­abwägung ja nur zu «Moralisieren» führt. Weil man nur dann wirklich sicher sein kann, vernünftig zu handeln, wenn man vor Ruchlosigkeit nicht zurück­geschreckt hat.

Wir führen hier ganz offensichtlich nicht eine Debatte über wirtschaftlich optimale Strategien. Wir führen eine Werte­debatte. Wir gehen auf eine langfristig extrem heraus­fordernde Zeit zu, und der heutige Befund ist nicht ermutigend: Ein guter Teil der Meinungs­macher und Entscheidungs­träger lässt sich leiten von einem ideologischen Pathos der Härte.

Wer sich davor nicht fürchtet, hat nichts begriffen.

Illustration: Alex Solman