«Die Corona-Krise wurde direkt auf uns abgewälzt»

In den letzten Wochen hat Tina Müller auf der Intensivstation in 13-Stunden-Schichten schwer kranke Covid-Patienten betreut. Einige starben. Draussen klatschte man für sie. Am 1. Mai beschloss sie, diese Solidarität auf die Probe zu stellen.

Von Daniel Ryser, 06.05.2020

Tina Müller (der Name ist geändert, der Rest dieser Geschichte ist wahr) arbeitete die letzten acht Wochen als Pflege­fachperson auf der Corona-Abteilung einer Intensiv­station eines Spitals in der Stadt Zürich. Während ihrer 13-Stunden-Schichten drehte sie zum Beispiel Menschen auf den Bauch: die letzte Möglichkeit, einem schwer lungen­kranken Menschen mehr Luft zuzuführen, wenn nichts anderes mehr hilft.

«Wenn du in der Intensiv­medizin arbeitest und du läufst an ein Bett ran und die Person liegt auf dem Bauch, dann weisst du, es geht ihr lungen­technisch ganz schlecht», sagt die 35-jährige Pflege­fachfrau. Einige Covid-Patienten starben vor ihren Augen.

«Als man im März realisierte, dass die Corona-Welle kommt, hat die Spital­leitung als Erstes von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Arbeits­schutz­gesetz zu sistieren», sagt Müller. «Unsere Schichten wurden von drei auf zwei umgestellt. Statt 8,5 Stunden arbeiten wir im Moment pro Tag 12 Stunden und 45 Minuten.»

Sie arbeite schon seit mehreren Jahren auf der Intensiv­station. «Das Problem ist: Schon vor Corona herrschte Notstand», sagt Müller. «Die Menschen werden heute immer älter, es fehlt in der Pflege an Nachwuchs. Wegen der unattraktiven Arbeits­bedingungen springen viele bald nach der Ausbildung ab. Auf unserer Intensivstation fehlten schon vor Corona über 1000 Stellenprozente.»

Dann spricht sie vom «decent minimum», einem Begriff aus der medizinischen Ethik: «Dabei geht es um die Diskrepanz zwischen Bedarf und Ressourcen. Im besten Fall kümmert sich bei uns auf der Intensiv­station eine Pflege­fach­person um einen oder maximal zwei Menschen. Aber durch die ständige Ökonomisierung der Pflege sieht die Realität anders aus, das decent minimum wird immer mehr angekratzt.»

Auf der Corona-Intensiv­station pflegte Tina Müller in den letzten Wochen teilweise bis zu drei kritisch kranke Personen gleichzeitig. «Man kann dann schauen, dass die Patienten überleben. Viel mehr nicht. Unsere Überstunden explodierten wegen Corona teilweise bereits auf über 150 im laufenden Jahr, bei Vollzeitpensen.»

Das Spital offerierte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Mineral­wasser, das sonst aus Kosten­gründen nur Patienten vorbehalten ist. Eine Firma schickte Schokoladen­eier. Wenn Müller von der Arbeit nach Hause fuhr, standen manchmal Menschen auf Balkonen und klatschten. Auf Plakaten bedankte sich irgendwer bei jenen, die jetzt «Ausser­gewöhnliches leisten». «Aber unser Lohn wurde nicht erhöht. Eine Gefahren­zulage gab es auch nicht, obwohl wir zum Teil die Schutz­masken länger tragen mussten als erlaubt, weil einfach zu wenig Material vorhanden war. Die Bettenzahl auf der Intensiv­station wurde verdoppelt. Aber unsere fehlenden Stellen­prozente wurden ebenfalls nicht aufgestockt, sondern die Verdopplung mehr oder weniger allein durch die Schicht­verlängerung des bestehenden Personals ermöglicht. Unsere Stations­leitung hat zwar versucht, die Situation für uns zu entschärfen, indem sie Medizin­studenten rekrutierte oder Pflegende von anderen Abteilungen holte. Die Einarbeitung dieser Leute bedeutete aber eine weitere Mehrbelastung für das Team. Die Corona-Krise wurde direkt auf uns abgewälzt.»

Weil man von Applaus allein nicht leben kann, entschied sich Tina Müller zusammen mit einer weiteren Pflege­fachfrau und einer Ärztin vor dem Stadt­zürcher Rathaus am 1. Mai zum Protest. Sie hielten ein Banner hoch mit der Aufschrift «Care Work Unite». Nach fünf Minuten fuhr die Stadt­polizei mit einem Gross­aufgebot vor. Die Protestierenden wurden verhaftet. Kein Applaus. Keine Pointe. Das Bild von Müllers Verhaftung in Spital­kleidung verbreitete sich im Netz.

Aus der Reihe "@StadtpolizeiZH ist ein verantwortungsloser Scheissverein": Hier verhaftet sie am 1.Mai eine Pflegerin, die darauf aufmerksam machte, dass sie unter Wertschätzung nicht unbedingt 13-Std-Tage versteht. Und der Polizist hält den Abstand nicht ein und hat keine Maske. pbs.twimg.com/media/EXA4EFtXsAA1Ryc.jpg

«Wir haben beim Protest die Covid-Verordnung berücksichtigt», sagt die Pflege­fachfrau. «Die Verordnung wurde geschrieben, um das Virus einzudämmen. Also zwei Meter Abstand halten, Gruppen von maximal fünf Leuten. Und so weiter. Ich trug einen Mund­schutz, Haube, Kittel, um meine Berufs­gruppe darzustellen. Was praktisch war, weil man damit auch gleich geschützt war. Auf Initiative der Gruppe ‹Zürich bleibt öffentlich› waren wir insgesamt 25 Leute: Menschen von Care Work Unite, einer Arbeits­gruppe des Frauenstreik­kollektivs. Gruppen aus dem Umfeld der Gewerkschaft VPOD, Menschen aus dem öffentlichen Dienst. Auch Kita-Mitarbeiterinnen. Sozial­arbeiter. Menschen aus der Logistik. Also alles Menschen aus Gruppen, die in den letzten Wochen unter extremen Bedingungen Sonder­schichten leisten mussten. Alle protestierten unter Berücksichtigung der Verordnung in kleinen Gruppen, mit Abstand. Trotzdem wurden wir umgehend von der Stadt­polizei aufgefordert, den Protest mit Verweis auf die Covid-Verordnung aufzulösen. Dem sind wir nachgekommen, auch wenn wir gar nicht gegen die Verordnung verstossen haben. Ich wurde dann mit anderen verhaftet und abgeführt.»

Inzwischen spricht SVP-Finanz­minister Ueli Maurer im Interview mit der NZZ bereits von neuen Spar­runden. Der ägyptische Tourismus­unternehmer Samih Sawiris sagte am Wochenende in der «SonntagsZeitung»: «Milliarden gehen verloren, damit es einige hundert Tote weniger gibt.»

Und Tina Müller ist überzeugt, dass sich durch die Krise die Situation in der Pflege nicht verbessert.

«Seit Jahren stehen wir unter massivem Beschuss», sagt sie. «Die ständige Debatte um eine mögliche Privatisierung der Spitäler in der Stadt Zürich etwa. Oder dann, quasi als Tüpfelchen auf dem i in dieser ganzen Debatte, dass Gesundheit ein Geschäft sein muss, die Fall­pauschale: Ein Spital kriegt pro Blinddarm, sagen wir, zum Beispiel 2000 Franken. Ein Teil vom Kanton, ein Teil von der Versicherung, vom Patienten. Eine ältere Dame, die nach dem Blind­darm noch eine Lungen­entzündung kriegt und nicht wie geplant drei Tage bleibt, sondern zwei Wochen: Da liegt das Spital weit über den 2000 Franken. Alles, was über der Grenze liegt, muss das Spital selber zahlen. Die Patientin ist ein Defizit. Wirtschaftlichkeit ist heute ein entscheidender Faktor. Kommt der junge, gesunde Patient Ryser mit Blinddarm: Den schaffen wir mit 1300 Franken. Ryser ist für uns ein Plus von 700 Franken. Es ist eine ständige, riesige Rechnerei.»

Und diese Rechnerei, sagt Müller, sei durch die Corona-Krise noch verschärft worden. «Spitäler haben wegen Corona zum Teil pro Tag eine Million Franken Verlust gemacht. Weil man nur noch Notfall-Operationen machen konnte. Das bedeutet: Man muss nach Corona mehr Betten fahren, wie wir das nennen, um die Verluste wieder auszugleichen. Es wird also nicht so schnell einen Normal­betrieb geben. Man muss wegen der Defizite mehr operieren, und am besten gleich auch Operationen, die viel Geld bringen: grosse Operationen also. Herz­chirurgie. Solche Dinge. An unserem Spital ist das schon per Mail kommuniziert: dass die Betten­zahl jetzt über das Normale raufgefahren werden muss. Bei gleichbleibenden Ressourcen. Während wir noch immer Covid-Patienten betreuen müssen, denen es sehr schlecht geht. Das heisst: Trotz Applaus von allen Seiten ist die Situation für uns im Pflege­bereich noch schlechter als vorher.»

Umso mehr fürchte man sich auf der Intensiv­station vor einer möglichen zweiten Corona-Welle.