Fliegen auf Sicht? Das war einmal
Bisher hatte der Bundesrat eine relativ kohärente Strategie – basierend auf epidemiologischen Erkenntnissen. Nun aber werden die Entscheidungen repolitisiert. Eine gefährliche Entwicklung.
Von Daniel Binswanger, 02.05.2020
Dieser Mittwoch war ein Wendepunkt. Die Schweizer Landesregierung hat einen Kurswechsel in ihrer Covid-Strategie vollzogen. Nicht weil sie den Fahrplan für die angekündigten Lockerungen präzisiert hätte. Im Gegenteil: Sie hat den bisherigen Fahrplan über den Haufen geworfen. Nicht weil sie das Konzept zur Eindämmung der Epidemie geändert hätte. Im Gegenteil: Sie hat kein konsistentes Konzept mehr.
Während sechs Wochen hat der Bundesrat auf Grundlage des Notrechts seine Eindämmungsstrategie durchgezogen, und obwohl der Lockdown deutlich weniger radikal und die Infektionsrate deutlich höher war als in fast allen andern Ländern Europas, waren die Massnahmen effizient, gezielt und erfolgreich. Trotz der absurden Maskerade um die Masken ist das eine beachtliche Leistung – die auf einer insgesamt funktionierenden Kommunikation und der Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung beruht.
Jetzt aber sind wir eingetreten in die Phase der Repolitisierung der Entscheidungsprozesse. Es gibt keinen Konsens mehr in der Regierung, es gibt keinen Konsens mehr unter den Parteien, es gibt keine Zurückhaltung mehr bei Verbandsvertretern und Sonderinteressen. Wir hatten eine relativ kohärente epidemiologische Strategie. Jetzt haben wir die Wechselfälle der Tagespolitik.
Es ist ein schwacher Trost, aber die Schweiz steht mit dieser Entwicklung nicht allein da. Der Soziologe Armin Nassehi sagt über die heftigen Exit-Querelen in Deutschland: «Wir erleben zurzeit die sehr paradoxe Situation, dass die Leute den Lockdown eigentlich sehr gut ausgehalten haben, solange man nicht über den Exit gesprochen hat. Mit den ersten Lockerungsmassnahmen entstand eine Unruhe, die vorher nicht da gewesen war.» Eine Unruhe, die vernünftiges Regierungshandeln zunehmend schwieriger machen wird. Und die desaströse Folgen haben könnte.
«Die Lockerungen erfolgen schrittweise mit dem Ziel, einen raschen Wiederanstieg von Infektionen zu vermeiden. Der Bundesrat will in Etappen vorgehen», sagte Bundespräsidentin Sommaruga am 16. April, als sie das bundesrätliche Grundkonzept des Lockdown-Exits vorstellte. «Wir brauchen ein Monitoring», sagte Gesundheitsminister Alain Berset. «Der Bundesrat will keinen Blindflug.»
Das war vor gut zwei Wochen. Damals war bekanntlich der Plan, am 11. Mai die Geschäfte zu öffnen und am 8. Juni die Restaurants. Ein genaues Monitoring in der zweiten Maihälfte sollte es erlauben, die Funktionstüchtigkeit der Schutzmassnahmen, die Ansteckungsrisiken bei zunehmendem öffentlichem Betrieb, die Entwicklung der Fallzahlen zu evaluieren. Erst dann und nur dann, wenn sich eine negative Entwicklung nicht feststellen liesse, sollten Gastrobetriebe – gemäss einer ETH-Studie mit die potentesten Verbreitungsvektoren des Virus – wieder geöffnet werden.
Das war, bevor FDP und SVP beschlossen, maximalen politischen Druck aufzusetzen. Das war vor dem Lobbying von Gastrosuisse. Jetzt ist plötzlich alles anders.
Sicherlich: Theoretisch könnte es auch sein, dass es nur deshalb zu einer Neubewertung gekommen ist, weil sich die Gesamtsituation heute anders präsentiert als erwartet. Der Bundesrat hat immer betont, dass sämtliche Massnahmen laufend dem aktuellen Erkenntnisstand angepasst werden müssen. Zum Beispiel könnten die Neuansteckungen heute plötzlich tiefer liegen, als dies vor zwei Wochen antizipiert wurde. Dafür gibt es jedoch keinen Hinweis. Schon am 16. April waren die Fallzahlen stark am Sinken, sie lagen damals bei etwa 300 Neuansteckungen pro Tag. Dass am 29. April die Zahlen noch einmal deutlich tiefer liegen würden – es gab letzten Mittwoch 143, am Donnerstag 179 Neuansteckungen –, dass sie sich allmählich den 100 Fällen nähern würden, die als obere Zielgrösse angegeben wurden, um spätestens am 11. Mai flächendeckend zum Contact Tracing übergehen zu können, muss erwartet worden sein. Der Epidemieverlauf entspricht bisher sehr präzis dem Fahrplan, der nun hau ruck ausser Kraft gesetzt wird.
Oder hat sich die Lage etwa geändert, weil am letzten Montag erste Öffnungsschritte vollzogen worden sind? Ja, die Lage hat sich geändert, aber nicht weil bereits ein paar Tage später neue Schlüsse hinsichtlich einer allfälligen Veränderung der Infektionsraten gezogen werden könnten. Geändert hat sich die politische Situation: Es wurden Begehrlichkeiten geweckt, Ungerechtigkeitsgefühle angestachelt, Handlungsspielräume eröffnet für Druckversuche. Was sich geändert hat, ist nicht die epidemiologische Beurteilung, sondern die politische Dynamik.
Verstörenderweise schien die Botschaft der beiden bundesrätlichen Medienkonferenzen vom Mittwoch diktiert zu sein von den beiden einzigen Regierungsmitgliedern, die persönlich nicht anwesend waren. Ist das die Art von Krisenkommunikation, mit der man Klarheit schafft, Farbe bekennt, Führung zeigt?
Ueli Maurer, der am Mittwochmorgen per NZZ-Interview den Tarif durchgab, bevor die Landesregierung überhaupt eine Ansage machen konnte; und Ignazio Cassis, der schon im Vorfeld offensiv kommunizierte, dass er die bundesrätliche Strategie für viel zu zögerlich hält. Sie beide glänzten durch Abwesenheit. Es ist bemerkenswert, dass ein Teil der Landesregierung selbst unter Notstandsbedingungen eine nur als sehr gelockert zu bezeichnende Auffassung von Kollegialität an den Tag legt. Oder wie es Bundesrat Maurer in einem sich selbst erfüllenden Sprechakt in der NZZ gleich selber deklarierte: «Das alles kollegial mitzutragen, war wirklich nicht immer einfach.»
So wird die Schweiz am 11. Mai mit Ausnahme von Grossveranstaltungen und Kulturveranstaltungen eine reiche Aktivitätenpalette simultan wiedereröffnen: Geschäfte, Restaurants, Bars, Schulen, Museen, Bibliotheken, als krönende Zugabe die Fitnesscenter. Letztere werden uns eine geradezu petrischalenartige Versuchsanordnung für Aerosol-Infektionen liefern.
Von Etappierung ist nicht mehr viel zu sehen. Und dies, obwohl die Wissenschaft dringlich vor der Gefahr einer zweiten Welle warnt. Tanja Stadler, ETH-Professorin für Biosysteme und verantwortlich für massgebliche Modellrechnungen zu den Reproduktionsraten in der Schweiz, sagt im «Tages-Anzeiger»: «Wichtig ist, dass man schrittweise lockert, danach findet man heraus, welche Massnahmen etwas bringen. Ansonsten kommt es wieder zum Lockdown.»
Jacques Fellay, Professor in Lausanne und Mitautor eines epidemiologischen Modells, das von der EPFL und der Johns Hopkins University in Baltimore entwickelt wurde und auf das sich verschiedene ausländische Behörden abstützen, hält es für «ein sehr realistisches Szenario», dass die Basisreproduktionsrate im Sommer auf 1,2 zu liegen kommt und die Gesamtzahl der Covid-Toten auf 5000 bis 15’000 Menschen steigen wird. Das heisst, dass die bisherigen Todesfälle nicht einmal ein Zehntel der Gesamtopferzahl darstellen könnten. «Einige Festivals im Sommer zu verbieten, wird den R0-Wert nie unter 1,2 bringen», sagt Fellay.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die wirklich grossen Prüfungen nicht hinter, sondern vor uns liegen – hier herrscht ein nicht vollständiger, aber weitgehender Konsens unter Epidemiologen –, ist leider hoch. Doch es ist kaum mehr erkennbar, dass diese Erkenntnis für das Regierungshandeln leitend wäre. Die Politik ist wieder mit sich selber beschäftigt.
Das ist nicht nur deshalb beunruhigend, weil wir nun blinder in die Öffnung gehen als ursprünglich geplant. Die Ansteckungsrate in Bars? Wir werden es sehen – ex post. Es ist vor allen Dingen beunruhigend, weil nichts in den kommenden Wochen so wichtig sein wird wie ein reaktiver, agiler und handlungsfähiger Bundesrat. Wenn die Fallzahlen wieder steil zu steigen beginnen, bei bestimmten Aktivitäten, in bestimmten Regionen oder auch flächendeckend, wird es darauf ankommen, schnell und entschieden zu reagieren.
Diese Landesregierung hat offensichtlich weder die Einigkeit noch die Autorität, um die Lockerung des Lockdown planmässig und etappenweise zu vollziehen. Wer würde darauf wetten, dass sie noch die Autorität hat, um einen neuen Lockdown beizeiten durchzusetzen?
Illustration: Alex Solman