Idee für eine Corona-Maske? Gipsmodell von Anna Vasof an «Performance Homework» in Graz. Anna Vasof/Bildrecht, Wien 2020

Anwesenheit in der Abwesenheit

Theater, Konzerthäuser, Galerien sind geschlossen – und versuchen alles, um im Internet präsent zu sein. Das macht nicht immer Sinn. Manchmal schon.

Von Max Glauner, 29.04.2020

Was macht die Kunst, wenn ihr das Publikum, die Öffentlichkeit fehlt? Wenn Museen, Theater, Galerien geschlossen bleiben? Im besten Fall nutzt sie den Corona-Shutdown zur Besinnung, zur kreativen Sammlung. Kunst entsteht nicht daraus oder jedenfalls nicht ausschliesslich daraus, dass ein Schauspieler oder eine Musikerin einen Betrachter oder eine Zuschauerin unterhalten will. Sie entsteht aus innerer Notwendigkeit und Leidenschaft für die Sache. Künstlerisches Schaffen darf als emanzipatorischer Akt verstanden werden, der nicht danach fragt, was das Publikum will, was die Öffentlichkeit sagt, woher das Geld kommt. Künstler sind deshalb immer auch Überlebens­künstler.

Wenn nun Kunstschaffende vorerst nichts sagen, nichts kundtun, ist das nicht nur beunruhigend. Denn Öffentlichkeit heisst in Corona-Zeiten zunächst digitale Öffentlichkeit im Internet, heisst Klicks und Likes im virtuellen Raum. Im Netz konkurriert jede automatisch mit flotten Clips der Werbe­industrie in Social-Media-Feeds, die «Social Distancing» propagieren, um im gleichen Atemzug für einen Paket­dienst Reklame zu machen. Splitscreen-Konferenz­schaltungen formatieren Gemeinschaft und Geselligkeit am Schirm. Da hat die Kunst erst mal nicht viel zu melden.

Verwackelte Pausenfüller neben feinster Konserve

Oder doch? Landauf, landab stellen Theater, Opern­häuser, Orchester Aufzeichnungen ihrer Aufführungen ins Netz. Museen, Galerien veranstalten Video-Rundgänge durch ihre verlassenen Ausstellungen, streamen Live-Schaltungen aus Ateliers und Wohn­zimmern ihrer Künstlerinnen. Und Musiker greifen zu Hause vor dem Mobilfunkgerät in die Tasten oder auf die Plattenteller.

Der verwackelte Homeoffice-Pausen­füller mit Einblick in die Gäste­toilette (Mark Waschke für die Schaubühne) oder auf Makramee-Gehänge im Schlaf­zimmer (Isabelle Redfern liest «Oblomow», Schaubühne) steht neben digitalen HD-Produkten der Kultur­industrie wie zum Beispiel die «Digital Concert Hall» der Berliner Philharmoniker. Dieser Anbieter ist schon länger am Start. Er bietet in einem Konzert­archiv Bild und Ton vom Feinsten, zu Corona-Zeiten gratis – ein live moderiertes Oster-Potpourri aus der Konserve inklusive. Freilich nicht ganz uneigennützig, denn man signalisiert, solange der Konzert­betrieb eingestellt ist, Anwesenheit in der Abwesenheit und hofft auf neues Publikum und Abonnentinnen.

Wir können nicht hin, also kommen sie zu uns: die Berliner Philharmoniker mit Flötist Emmanuel Pahud. BerlinPhil

Die Philharmoniker bedienen das digitale Medium auf höchstem Niveau, allerdings mit der Konsequenz, dass sich der Konzert­auftritt vor Live-Publikum im Grunde abschafft. Der Sound ist nicht mehr vom Sitzplatz abhängig, der Huster vom Tonmeister aus der Aufnahme geschnitten, die Musikerinnen erscheinen in Nahaufnahme. Dabei gilt für jedes Konzert, jede Performance, jedes Theater und auch für jedes Werk der bildenden Kunst, dass es, auch wenn es ganz «für sich ist», erst als Gemeinschafts­erlebnis zu sich selber kommt. Das Internet sorgt dagegen für Vereinzelung und narzisstischen Privatismus.

Der Charme des Unfertigen

Darauf reflektiert auch ein Grossteil der Livestreams der Theater, wie das «Corona-Passions­spiel», das etwas versteckt auf der Website des Schauspiel­hauses Zürich zu finden ist. Schnell im Homeoffice gedrehte Clips reflektieren in sarkastischen Songs – «Ich bleib zu Hause» – die Situation aus Sicht der isolierten Künstlerinnen und Zuschauer. Die Vision des Initiators und Texters, Co-Intendant Nicolas Stemann, besteht darin, hier mit dem Ensemble das Fundament für ein Passions­spiel zu bauen, das post Corona als Gedenk­veranstaltung auf die Bühnen­bretter kommen könnte. Der Internet-User kann, so die Idee, an der Entstehung eines Theater­ereignisses von Anbeginn teilhaben.

Gelingt der Übergang? Diese Frage stellt sich auch bei einem zweiten ambitionierten Projekt des Schauspiel­hauses – nur in quasi gegenteiliger Richtung. Der Regisseur Christopher Rüping bietet mit seinem «Dekalog» «eine Theater­inszenierung für den digitalen Raum in zehn Folgen» an. Es handelt sich um eine Dreifach­übersetzung: Die unmittelbare Anregung gab nicht das Alte Testament, sondern Krzysztof Kieślowskis Episoden­film «Dekalog».

Rüping hat den Dekalog bereits 2012/2013 am Schauspiel Frankfurt auf die Bühne gebracht. Jetzt erfolgt die Adaptierung fürs Netz: zehn Monologe an zehn Abenden. Man darf gespannt sein auf die fünf Live-Folgen, die noch kommen werden. Die Nächste ist an diesem Samstagabend um 21 Uhr zu sehen. Das Projekt verdient schon deshalb Aufmerksamkeit, weil es durch die EU-geförderte Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund und die Initiative Digitale Dramaturgie Unterstützung findet. Die Erwartungen sind entsprechend hoch.

Mitbestimm-Projekt aus dem «Zuhauspielhaus» Zürich: «Dekalog» mit Alicia Aumüller. Schauspielhaus Zürich

Aus dem Theater borgt «Dekalog» sich die Exklusivität von Ort und Zeit: Nur einmal wird an einem Abend­termin gespielt, nur live kann man die Webcasts verfolgen. Gestreamt wird nicht aus dem Wohn­zimmer, sondern aus einem spärlich mit Requisiten ausgestatteten White Cube im Schiffbau. Das Publikum zu Hause vor den Schirmen wird beteiligt: Per Mausklick darf es pro Abend zwei- bis dreimal über Gut und Böse und den weiteren Verlauf der Handlung entscheiden. Ein Chatroom ermöglicht Kommentar und Diskussion.

Das Rohe, Unfertige des Settings, die Einmaligkeit der Live-Ausstrahlung und der Spielwitz der Darstellerinnen und Darsteller besitzen ausser­gewöhnlichen Charme: Dieses Aufführungs­format ohne Rewind-Taste schafft grosse Intensität – und bereitet Vergnügen. Man hat tatsächlich den Eindruck, einer neuen Aufführungs­praxis beizuwohnen, die dabei ist, sich zu entwickeln. Der Slogan des Abends: «Sie entscheiden, was richtig und was falsch ist» erschöpft sich momentan allerdings in einer plebiszitären Balken­diagramm-Logik. Es gäbe andere Möglichkeiten der Partizipation im Netz: Die Feedback­schleife zwischen User und Bühne könnte wohl noch nachjustiert werden. Man darf gespannt sein auf die fünf Live-Folgen, die noch kommen werden.

Die Splitscreen-Gemeinschaft

Um Teilhabe und diskursive Öffentlichkeit braucht sich das partizipatorische Format des «Social Muscle Club» keine Sorgen zu machen. Gestartet wurde das Projekt 2012 in Berlin, angeregt durch Initiativen britischer Arbeiter­vereine, die Bildung und Gemeinschaft des Proletariats um 1900 mit organisierten Spielrunden an Biertischen verbanden. Der Kurator Benedikt Wyss brachte den Club 2015 nach Basel.

Anfang der 2010er-Jahre hat er zuerst in Berlin ein Setting für öffentliche Räume entwickelt, in dem das Publikum bei Speis und Trank zusammen­kommt und, von einem kleinen Unterhaltungs­programm begleitet, eine gruppen­dynamische Wunsch­maschine in Gang gesetzt wird. Ende März ging die Veranstaltung zum ersten Mal von Zürich aus online. Björn Müller von der Stride UnSchool für soziale Innovation hat sich mit Wyss und der Interaktions­designerin Ramona Sprenger zusammengetan, um das Format für den digitalen Raum neu zu erfinden. Über eine Zoom-Konferenz­schaltung nahmen knapp hundert Menschen teil.

Wünsch dir was! Der «Social Muscle Club» in Basel. Nicolas Gysin/Social Muscle Club

Die Übertragung von der realen in die virtuelle Live-Sphäre gelang technisch-dramaturgisch reibungslos. Der Abend war nicht nur beschwingt und unterhaltend – jeder brachte Wein, Bier, Tee an den PC –, sondern stiftete aus der unverbindlichen Spiel­gemeinschaft heraus Beziehungen über die lockere Runde hinaus.

Dazu wurde die Hundertschaft Splitscreen-tauglich in Sechser- bis Neuner­gruppen eingeteilt, in «Tische», die von einem Gastgeber «gehostet» wurden. Jeder Teilnehmer hatte einen Wusch, den er gerne erfüllt hätte, auf einem Zettel zu notieren und musste im Gegenzug auch einen Wunsch aufschreiben, den er erfüllen könnte. Per Los ging es dann reihum, und es wurde ausgehandelt, wer Erikas Torte bekommt oder ein Lied für Jasper aus Berlin singen würde. Das scheinbar Belanglose wuchs sich über den Abend, in dem nebenbei viel Leben besprochen wurde, zu überraschenden Erzählungen und Verbindlichkeiten aus.

So simpel das Prinzip, so überzeugend und funktions­tüchtig war diese Splitscreen-Zusammenkunft, die jenseits des gängigen Zoom-Konferenz-Gefühls für einige Stunden eine Gemeinschaft stiftete.

Stimmen aus Berlin und Paris

Das ist umso beachtlicher, als die Kluft zwischen analoger und digitaler Ordnung gross ist, wie gerade auch starke Versuche, sie zu thematisieren und zu schliessen, eindrücklich vorführen können. Als erster Beitrag einer Online-Reihe des Berliner Ensembles, «Stimmen aus einem leeren Theater», trägt der Schauspieler Wolfgang Michael auf der ebenso leeren Bühne einen Text des Autors Roland Schimmel­pfennig vor. Er erzählt vor allem von der misslichen sozialen Lage seiner Theater­kollegen, trocken, unsentimental und ernst. Er hinterlässt eine Ahnung von der ökonomischen und kulturellen Verarmung, die uns postpandemisch droht. Kleine Theater, Projekt­räume, Kultur­initiativen werden schliessen, wenn sich die Gesellschaft nicht eines Besseren besinnt.

Ohne Zuschauer fehlt der Resonanzraum: «Stimmen aus einem leeren Theater» mit Wolfgang Michael im Berliner Ensemble. Berliner Ensemble

Doch so eindringlich die Botschaft gemeint und inszeniert ist, sie erreicht ihr Publikum mit einem Auftritt, der der medialen Öffentlichkeit des 20. Jahr­hunderts abgelauscht ist, unter heutigen Bedingungen kaum. Der Text von Schimmel­pfennig ist gut, aber auf dem Computer­schirm entsteht keinerlei theatralische Spannung.

Ein Ausweg liegt da in der Besinnung auf das künstlerische Kern­geschäft. Der Autor und Theater­leiter Wajdi Mouawad macht diesen Versuch: Auf der Website seines Hauses Théâtre national La Colline in Paris beschwört er eine intellektuelle, geistige Gemeinschaft, die einzig auf die Sprache setzt – ein basales Element des Theaters. Statt Bewegtbilder bietet er ein poetisches «journal de confinement», ein Tagebuch aus der Ausgangs­sperre an, eingelesen und als Audiofile abrufbar. Nicht mehr. «Wir können einander nicht mehr sehen, geschweige denn miteinander in physischen Kontakt treten, sodass der Geist hier seine ganze Kraft entfalten muss», schreibt er auf der Website seines Hauses. «Es ist in diesem Unglück und in dieser Traurigkeit auch die Möglichkeit gegeben, sich wieder mit der Macht des Geistes zu verbinden.»

Und La Colline bietet ein zweites, nur auf das Wort gegründetes Format an: Telefon­gespräche mit Ensemble-Mitgliedern und Mitarbeitenden, eine weitere Einladung, sich auf die Unmittelbarkeit der Stimme einzulassen. Wer immer es wünschte, konnte sich bis zum 24. April per Mail zu einem Telefonat anmelden. Ensemble-Mitglieder und Freunde des Hauses rufen einen dann an und sprechen einen Text oder ein Gedicht vor, darunter so prominente Bühnen­figuren wie Jane Birkin, Maruschka Detmers oder Theater­leiter Mouawad selbst. Es ist sicherlich ein berührender und intimer, für beide Seiten ungewöhnlicher, vielleicht auch peinlicher Moment, der sich konsequent jenseits der digitalen Ordnung situiert.

Bildbetrachtung der besonderen Art

Und die bildende Kunst? Absurder­weise fehlt gerade ihr im Netz diese Unmittelbarkeit. Kein Videozoom kann den Gang durch ein Museum, ein Atelier oder eine Installation ersetzen. Die Textur eines Ölbilds, einer Zeichnung kann auf der digitalen Oberfläche nicht wiedergegeben werden, ganz zu schweigen davon, dass ihre Reproduktionen in der Netz-Bilderflut untergehen. Selbst noch Videoarbeiten, die vollständig im Netz abrufbar sind, wirken ohne den Kontext einer spezifischen Aufführungs­situation, häufig blutleer und stumpf. Und doch gibt es auch Glücksfälle.

Die Ausstellung ist geschlossen, der Künstler bringt sein Werk nun im Netz näher: Thomas Hirschhorn, «Eternal Ruins», 2020. Martin Argyrolglo/Courtesy of the artist and Galerie Chantal Crousel, Paris

Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn zum Beispiel geht einen Tag nach der Schliessung seiner Ausstellung «Eternal Ruins» in Paris mit der Handy­kamera durch die Galerie­räume. Er erklärt Bild für Bild, «Chat-Poster», wie er sie nennt. Dadurch, dass die Werke wie ein Smartphone-Display mit Bild- und Text­blasen aufgebaut sind, finden sie eine Analogie im Videobild­ausschnitt seiner improvisierten Führung. In den 25 gezeigten «Chat-Postern» konterkariert das triviale Layout der Sprech­blasen die Tiefe der Gedanken der Revolutionärin, Spanien­kämpferin, Philosophin und Mystikerin Simone Weil.

Die Textzitate erscheinen in dem Rahmen wie Slogans: «Beauty is the harmony of chance.» Hirschhorn, sonst für seine ausufernden Installationen bekannt, projiziert die Sätze auf Ruinen­bilder aus allen Epochen und versieht zudem die Leinwände mit Kristallen als konventionellen Ewigkeits­metaphern. Es entsteht eine seltsame Gemengelage aus Kitsch und Tiefsinn, ein krasser Gegensatz, der die Gedanken­welt der Philosophin in ein neues Spannungs­feld bringt. Zwar erfahren wir die Bilder nicht haptisch. Doch im Online-Setting entsteht dennoch eine starke Unmittelbarkeit, eine Gemeinschaft mit dem Künstler, den Bildern und der Gedanken­welt von Simone Weil.

Do it yourself ad absurdum geführt

Obwohl es starke Arbeiten und kreative Neuentwicklungen gibt: Es bleibt eine heraus­fordernde Frage, wie sinnfällig ein guter Teil der künstlerischen Online-Betriebsamkeit wirklich ist. Eine starke Antwort gibt das Projekt «Performance Homework» von Michikazu Matsune in Kooperation mit dem Kunsthaus Graz. Auch hier musste umgestellt werden: Die Website bietet originelle Handlungs­anweisungen für den Haus­gebrauch. Der Künstler Thomas Anderson schlägt ein halsbrecherisches «Table Climbing» vor, David Sherry montiert sich in «Proving» Brotteig auf den Kopf, Anna Vasof modelliert eine «Hand Mask» aus Gips – allesamt Aufforderungen an das Publikum, das in der Regel mit dem Reenactment der Performances überfordert sein dürfte.

Die Stärke dieser Arbeiten besteht gerade darin, dass die Einladung zur Partizipation ad absurdum geführt wird. Ihre Handlungs­anweisungen sind ein Überforderungs­programm. Sie machen den Entzug, den Verlust unmittelbarer künstlerischer Begegnung fühlbar.

Die Kunst, der schöpferische Akt braucht uns, das Publikum, nicht zwingend, sagen sie. Ihr braucht uns.

Zu den Veranstaltungen

– Schauspielhaus Zürich: «Dekalog»

Zum Autor

Max Glauner arbeitet als freier Kultur­journalist für den «Freitag», den «Tages­spiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung», Frieze.com, «Artforum» und «Kunst­forum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hoch­schule der Künste, wo er zu innovativen Produktions- und Aufführungs­formaten sowie Strategien der Partizipation und Kollaboration lehrt und forscht.