Vorsicht vor Me-first-Attitüden!
Plötzlich gibt es Lockdown-Exit-Experten wie Sand am Meer – dabei wissen wir vieles ganz einfach nicht. So zu tun, als wäre es anders, ist fahrlässig.
Von Daniel Binswanger, 25.04.2020
Vieles ist unklar, vieles ist umstritten, aber auf folgende Tatsachen sollten wir uns eigentlich einigen können:
Es kommt ausnahmslos allen Beteiligten zugute, wenn der Ausstieg aus dem Lockdown so schnell wie möglich und so langsam wie nötig erfolgt. Ausnahmslos jede Bürgerin hat ein eminentes Interesse daran, dass einerseits die Epidemie unter Kontrolle gebracht wird, die aktiven Fälle, statt exponentiell zu steigen, weiter abnehmen, und dass andererseits die wirtschaftlichen Verhältnisse sich so schnell und so weit wie möglich normalisieren. Das gilt für die Physiotherapeutin genauso wie für den Bundesbeamten, für den betagten Rentner genauso wie für seine Enkelin, die das Leben vor sich hat.
Das schlimmstmögliche Szenario, sowohl in medizinischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, ist eine massive zweite Welle. Es ist verständlich und nachvollziehbar, wenn in ihrer Existenz akut bedrohte Unternehmer um jeden Tag feilschen, den sie früher öffnen dürfen. Aber die Behörden müssen das Gesamtinteresse im Blick haben: noch einmal sechs, sieben, acht Wochen Lockdown im September oder Oktober? Kein Wirtschaftsvertreter, der bei Verstand ist, kann es darauf anlegen.
Die Verantwortungsträger fällen Entscheidungen unter Bedingungen weitestgehender Unwissenheit. Entscheidende medizinische Fragen sind offen: Wie hoch sind die realen Fallzahlen? Wie hoch ist die reale Sterblichkeitsrate? Wie hoch ist der Durchseuchungsgrad? Werden geheilte Covid-19-Infizierte immun? Für wie lange? Auf keine dieser Fragen gibt es gesicherte Antworten. Nicht besser ist es mit den Kenntnissen über die Wirksamkeit von Eindämmungsmassnahmen: Was ist der exakte Wirkungsgrad von Hygienemasken im Alltagsgebrauch? Welche Ansteckungsraten werden einhergehen mit vollen öffentlichen Verkehrsmitteln? Welche Risiken verbinden sich mit den Schulöffnungen? Wie vorsichtig oder unvorsichtig werden die Bürger sich im statistischen Mittel verhalten, wenn Restaurants, Seepromenaden und Sportanlagen wieder geöffnet sind? Es gibt Indizien, Prognosen, Modellrechnungen. Gewissheiten gibt es nicht.
Unter diesen Bedingungen sollten folgende Prinzipien der Exit-Strategie eigentlich vollkommen unbestritten sein:
Das Prinzip der Vorsicht: Der Lockdown hat funktioniert und lässt die Neuinfektionen abnehmen. Der Exit bringt die sofortige Gefahr, dass sie wieder exponentiell zunehmen. Die Lockerung ist folglich behutsam anzugehen.
Das Prinzip der sequenziellen Schritte: Da wir nur begrenzt wissen, welchen Effekt einzelne Exit-Massnahmen haben, muss laufend beobachtet werden, in welche Richtung sich die Fallzahlen bewegen, wenn die nächste Phase eingeleitet wird. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass wir uns vorantasten. Die Lockerung muss folglich stufenweise erfolgen.
Der lange Atem: Solange es keinen Impfstoff und keine zuverlässig wirksamen Medikamente gegen das Virus gibt, wird die Normalisierung relativ bleiben. Wir haben berechtigterweise während mehrerer Wochen einen Quasi-Belagerungszustand auf uns genommen, um die Epidemie einzudämmen. Es ist eine halsbrecherische Illusion, jetzt über Nacht zum «alten Leben» zurückkehren zu wollen.
Diese Prinzipien sollten eigentlich von allen vernünftigen Akteuren in diesem Land völlig selbstverständlich mitgetragen werden. Eigentlich.
Was wir diese Woche stattdessen erlebt haben, ist eine Orgie der parteipolitischen Profilierungsversuche, des betriebsblinden Branchenlobbyismus, der forcierten, kopflosen Ungeduld. Von den publizistischen Beiträgen allwissender Verteidiger der «Wirtschaftsfreiheit», den Aufrufen gegen eine bundesrätliche «Diktatur», den Visionen selbst ernannter Durchseuchungsexperten erst gar nicht zu reden. Kaum je ist so offensichtlich gewesen, dass das Prinzip der Vorsicht geboten ist. Aber plötzlich wissen alle alles besser, müssen Epidemiologen dringlichst «entmachtet», alle Konzepte sofort umgestossen werden: Subito, es reicht!
Wenn die «Weltwoche» neuerdings befindet, social distancing sei ein gottloser Anschlag auf den christlichen Glauben, muss das weiter nicht beunruhigen. Töte deinen Nächsten: die Köppel-Version der Nächstenliebe. Aber wenn FDP-Präsidentin Petra Gössi so tut, als wäre ihr intellektuell nicht zugänglich, dass die Lockerungsmassnahmen sequenziert werden müssen, hört der Spass auf. Auch Parteipräsidentinnen, auch wirtschaftspolitisch verbandelte, tragen ein Minimum an gesellschaftlicher Verantwortung.
«Es ist einfach nicht konsistent», sagt Gössi über den bundesrätlichen Exit-Plan. Gartencenter dürften aufmachen, Modegeschäfte nicht. Richtig, genau das ist der Punkt: Die einen dürfen, die anderen nicht. Die Öffnung erfolgt sequenziert. Man kann es als seine Aufgabe betrachten, dies der Öffentlichkeit zu vermitteln – oder das unweigerliche Ressentiment ausschlachten. Auch dass persönliche Dienstleistungen wie das Tattoo-Stechen erlaubt sein sollen, Ladenbesuche hingegen nicht, will Gössi partout nicht einleuchten. Dass Dienstleistungen in der Regel auf Anmeldung erfolgen und die Kunden im Ansteckungsfall ermittelt werden können – dass dies bei Läden aber nicht der Fall ist, erwähnt sie hingegen nicht. Ist auch dieser Unterschied der FDP-Präsidentin intellektuell nicht vermittelbar?
Natürlich kann und soll über jede einzelne Massnahme debattiert und, wenn nötig, gestritten werden. Es werden sich in den nächsten Wochen unzählige Fragen bezüglich Fahrplan und Konzepten zur Umsetzung von Lockerungsschritten stellen, und unsere Erfahrungsbasis ist viel zu schmal, als dass wir sofort die optimalen Antworten hätten. Aber das Prinzip der Vorsicht als solches, das Prinzip der Sequenzierung infrage zu stellen, ist fahrlässig.
Allerdings führt das Profilierungsbedürfnis auch in anderen Lagern zu erratischen Positionierungen. Dass beispielsweise die staatspolitische Kommission des Nationalrats es als ihre dringendste Aufgabe betrachtet, die Freiwilligkeit der kommenden Tracing-App im Gesetz festzuschreiben, erscheint bizarr. Natürlich: Es ist gut und richtig, wenn das Parlament genau hinschaut, wieweit eine Tracing-App den Schutz der Privatsphäre bedroht, dass sie eine (dezentrale) Lösung festschreiben will, die möglichst kein Missbrauchspotenzial hat, dass sie eine transparente Gesetzesgrundlage fordert. Niemand will den Überwachungsstaat. Aber es gibt einen soliden Konsens unter Epidemiologen, dass eine effiziente Tracing-App das vielversprechendste Mittel darstellt, um das Virus ohne Dauerquarantäne in den Griff zu bekommen. Ob eine nicht obligatorische App überhaupt effizient genug sein kann, ist vorderhand völlig offen.
Heute wissen wir es nicht, aber wir könnten bereits in kurzer Zeit vor der Alternative stehen, entweder die Tracing-App für obligatorisch zu erklären oder schon bald wieder Schulen und Geschäfte zu schliessen. Dass der notrechtliche Lockdown legitim, ein sinnvoll geregeltes, obligatorisches Tracing aber absolut unzulässig sein soll, ist völlig irrational. Wenn von Cédric Wermuth bis Christian Wasserfallen Nationalräte verschiedenster Couleur jetzt verkünden, die Freiwilligkeit einer App sei unverhandelbar, dürfte das sehr viel mit der politischen Botschaft zu tun haben, die sie aussenden wollen. Und sehr wenig mit dem Offenhalten der vernünftigsten Optionen.
Wir sind dazu verdammt, sehr clever zu sein, wenn wir die Epidemie bezwingen wollen, ohne dass die wirtschaftlichen Schäden zu massiv werden. Wir müssen einen klugen Umgang damit finden, dass wir viele Antworten noch nicht kennen, und um jeden Preis verhindern, dass Profilneurotiker, Ideologen und selbst ernannte Experten die Leerstellen unseres Wissens besetzen. Wir müssen um jeden Preis versuchen, eine zweite Welle zu verhindern.
Nichts wird uns dabei so sehr behindern wie unsinnige Scharmützel, verbandspolitische Me-first-Attitüden, parteitaktische Positionierungsspielchen. Könnten wir das bitte einfach bleiben lassen?
Illustration: Alex Solman