Es soll wieder Leben sein in Bazar. Ewgenjia Kuschnarenko ist mit ihrem Ehemann Aleksei und ihren beiden Töchtern Mascha (links) und Dascha (rechts) ins Dorf gezogen.

Nach der Katastrophe

Wie geht das, vom Ausnahmezustand zurück in die Normalität? Die Menschen um Tschernobyl haben sich diese Frage nach dem Reaktorunfall stellen müssen. Ein Besuch bei Überlebenden.

Eine Reportage von Lena von Holt (Text) und Ilir Tsouko (Bilder), 28.03.2020

Langsam ruckelt der Traktor über den sandigen Feldweg, biegt dann rechts auf einen Acker und hält an. Ein Mann mit kantigem Gesicht und breitem Kreuz springt aus der Fahrer­kabine. Aleksei Kuschnarenko, Mitte vierzig, hat kräftige Hände und eine ruhige Stimme.

Gemeinsam mit zwei Mitarbeitern hievt er die schweren weissen Säcke vom Anhänger. Wenig später springt die grosse Saat­maschine an. Behäbig zieht sie ihre Bahnen und verteilt die Buchweizen­samen in der schwarzen Erde – in dem ukrainischen Boden, der eigentlich für seine Frucht­barkeit berühmt ist.

Eigentlich. Denn Kuschnarenkos Feld liegt keine zwei Autostunden vom ehemaligen Atomkraft­reaktor in Tschernobyl entfernt, der vor 34 Jahren in die Luft flog und eine radioaktive Wolke ausstiess, die weite Landstriche verseuchte. Von einem Tag auf den anderen schlossen damals fast alle Geschäfte. Es gab keine Arbeit, viele Leute zogen fort, die Region verfiel.

Ausgerechnet hier erntet Kuschnarenko heute wieder Getreide.

Seine Familie ist eine von 57, die heute wieder in Bazar leben. Vor der Reaktor­katastrophe waren es viermal so viele gewesen. Das Dorf liegt in einer der Zonen, die 1991 vom ukrainischen Staat auf Grundlage damaliger Strahlen­werte eingeteilt wurden. In die Sperrzone, die Zone 1, haben heute nur Wissenschaftler und begleitete Touristen Zutritt. In Zone 2, in der auch Bazar liegt, sind Leben und wirtschaftliche Produktion offiziell noch immer verboten – inoffiziell wird beides praktiziert. Und in Zone 3, in der Kuschnarenkos Felder liegen, ist es zwar erlaubt, Land­wirtschaft zu betreiben – bis vor kurzem hat sich aber niemand für die Äcker interessiert.

Ein Neuanfang, der auf fruchtbaren Boden fallen soll: Aleksei Kuschnarenko lädt mit Kollegen Säcke mit Buchweizensamen aus.

Es ist Juni, und am Nachmittag steht die ukrainische Sonne noch steil am Himmel. Auf Kuschnarenkos moosgrünem T-Shirt hat sich ein kreisrunder Schweiss­fleck gebildet. Im Schatten eines Baumes beginnt er zu erzählen.

Seine Geschichte ist eine über Flucht und Vertreibung. Aber auch die eines Neuanfangs. Sie handelt von Überlebenden, davon, wie sie nach einer unvorstellbaren Katastrophe wieder den Mut finden, neu anzufangen.

Vom Donbass nach Tschernobyl

Fünf Jahre ist es her, dass Kuschnarenko mit seiner Familie nach Bazar gezogen ist. Ursprünglich stammt er gar nicht von hier, sondern aus der Ostukraine. Er ist einer von etwa 2 Millionen Vertriebenen, die seit dem Kriegs­beginn im Jahr 2014 aus der umkämpften Region geflohen sind.

Kuschnarenko spricht Ukrainisch und Russisch. Er wurde in Russland zum Kampf­piloten ausgebildet, aber sein Herz, so sagt er, gehöre der Ukraine. Sobald er auf den Krieg zu sprechen kommt, beginnt seine Stimme vor Anspannung zu zittern. In der Ostukraine hat er einen landwirtschaftlichen Betrieb geleitet: 4000 Hektar Land, 200 Mitarbeitende, 5000 Schweine. Es war halb sechs morgens und hatte stark geregnet, da seien die örtlichen Separatisten und eine Gruppe aus Russland vorbei­gekommen und hätten ihre Gebäude beschossen. «Wir haben nur mit Glück überlebt.»

«Ich liebe es, mit der Erde zu arbeiten», sagt Kuschnarenko und geht in die Hocke, um mit der Hand zu überprüfen, ob die Samen tief genug in der Erde liegen. Nach Ausbruch des Krieges hatte er im Internet nach günstigem Land gesucht. Überall anders seien die guten Ländereien schon vergeben gewesen, erinnert er sich. Bloss hier nicht, in der Nähe von Tschernobyl. Was seiner Meinung nach aber mehr am sandigen Boden liegt als an der Strahlung.

Schutzzone 3: Hier ist es grundsätzlich erlaubt, Landwirtschaft zu betreiben. Aber noch sind viele Felder unberührt.
Verfall: Vor der Reaktorkatastrophe lebten über 200 Familien in Bazar, jetzt sind es wieder 57.

Noch immer stehen viele Häuser in Bazar leer. Im Dorf gibt es eine kleine Schule und einen grossen Friedhof. Der Lebensmittel­laden ist geschlossen. Verlässt man die Ortschaft, sieht man nichts ausser Felder und Wiesen.

Angst hat Kuschnarenko nicht. «Eigentlich ist alles in Ordnung, wir trinken Wasser, sammeln Pilze, Beeren.» Er gibt die Lebens­mittel regelmässig in ein Strahlen­labor, misst selbst mit seinem Dosimeter nach. «Es ist alles sauber.»

Fingerabdrücke der Kontamination

Wie gefährlich ist die Strahlung 34 Jahre nach dem Atomunfall noch? Wie sicher sind die Menschen, die heute in der Region um Tschernobyl leben?

Jemand, der diese Fragen beantworten kann, sitzt gut 100 Kilometer entfernt in einem holzvertäfelten Büro am Rande von Kiew. Hinter einer hohen Steinmauer steht dort das Ukrainische Institut für Land­wirtschaftliche Radiologie. Schon kurz nach der Katastrophe haben Wissenschaftler hier begonnen, die Auswirkungen der Strahlung zu untersuchen. Seitdem haben sie zahlreiche Studien veröffentlicht. Gerade bereitet sich die Gruppe wieder auf eine Forschungs­exkursion vor. Noch heute soll es in die Sperrzone gehen. Hektisch werden letzte Ausrüstungs­stücke verstaut.

«Wir wollen den Stoffwechsel von Cäsium und Strontium im Körper der Fische untersuchen», sagt Wissenschaftler Valeri Kaschparow. Trotz der Hektik um ihn herum lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, hat sogar Zeit, um an seinem Computer eine Powerpoint-Präsentation zu öffnen und die Auswirkungen der Strahlungen auf die Land­wirtschaft zu erklären. An der Wand seines Büros hängen Fotos, die ihn auf Konferenzen zeigen oder zusammen mit seinen Kollegen in der Sperrzone, beim Proben­sammeln. Durch einen langen, sterilen Flur geht er in sein Labor und bleibt vor zwei grossen, runden Behältern stehen. Darin hat er die Goldfische verstaut, die später in der Sperrzone in den kontaminierten See gesetzt werden sollen. Er will herausfinden, ob die Strahlung über Nahrung an die Fische weiter­gegeben wird und so am Ende in die Körper der Menschen gelangt.

Kaschparow sagt, dass die meisten Orte, die damals verstrahlt wurden, heute weitestgehend ungefährlich seien. Während eines einwöchigen Aufenthalts in den Dörfern würde man weniger externe Strahlung aufnehmen als während eines zwei­stündigen Fluges. Damit ist die Strahlung gemeint, die man nicht über Nahrung, sondern über die Luft zu sich nehmen würde.

An einer Wand hängt eine grosse Karte. Sie zeigt die Gegend rund um Tschernobyl in verschiedenen Rottönen eingefärbt. «Finger­abdrücke der Kontamination» nennen die Instituts­mitarbeiter das Muster. Je dunkler das Rot, desto höher die Belastung mit Strontium und Cäsium. Grund für die unterschiedlich starken Kontaminationen seien unterschiedliche Wetter­bedingungen, die die Ausbreitung der Wolke damals beeinflusst hätten.

Heute gibt es noch etwa zehn Dörfer, in denen Kartoffeln, Milch, Beeren und Pilze erhöhte Strahlungs­werte aufweisen. Für die dortigen Bewohner ist das ein echtes Problem: Kontaminierte Nahrung gilt als Auslöser für Krebs.

In anderen Dörfern wie Bazar gibt es Entwarnung.

Wodka aus der Sperrzone

Die Strahlungs­dosis, die Menschen dort über die Luft oder die Nahrung aufnehmen, hat abgenommen. Sie liegt inzwischen unter dem zulässigen Höchst­wert von 1 Millisievert pro Jahr. Aus diesem Grund ist vor sechs Jahren die Zone 4 aufgelöst worden, die unter schärferer Beobachtung stand.

Nun sollen weitere Umzonungen folgen – zumindest wenn es nach den Wissenschaftlern geht. Die Radio­nuklide (radio­aktiven Atome) seien seit dem Unfall gealtert, weshalb die Strahlung weniger stark über Nahrung an die Menschen weiter­gegeben werde. Deshalb sei es selbst auf so verseuchtem Gebiet wie in Bazar jetzt möglich, land­wirtschaftliche Produkte unter Einhaltung der Grenz­werte herzustellen. Die Zonen würden längst nicht mehr ihre einstige Funktion erfüllen: die Menschen zu schützen. Stattdessen würden sie oft verhindern, dass sich die Dörfer wirtschaftlich erholten.

Die Natur holt sich ihren Raum zurück.

Deshalb plädieren Kaschparow und sein Team dafür, dass weite Teile der Zone 2 als Zone 3 deklariert werden sollen und Menschen dort wieder Ackerbau betreiben können. Das Leben der Menschen werde sich verbessern, so die Theorie, weil sie endlich Einkommen hätten und Steuern zahlen könnten, sodass auf diese Weise die ganze Region profitiere.

Über dreissig Jahre lang stand Tschernobyl für Warnung und Veränderung zugleich. Die Reaktor­katastrophe hat dazu beigetragen, dass Atom­energie in Ländern wie der Schweiz und Deutschland vermehrt infrage gestellt wurde. Doch nun fordert auch der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski, die Sperrzone vermehrt für Touristen und Wissenschaftler zu öffnen und so das Image Tschernobyls zu verbessern. Seit kurzem kann man sogar einen Wodka kaufen, der in der Sperrzone hergestellt wird.

Doch es gibt auch Gegner einer Wieder­belebung. Zu ihnen zählt die Politik­wissenschaftlerin und Historikerin Melanie Arndt. Sie warnt davor, die niedrigen Strahlen­werte vor Ort zu verharmlosen, über deren Gefährlichkeit es in der Wissenschaft bisher keinen Konsens gebe. Auch würden durch Brände in der Sperrzone immer wieder verseuchte Partikel in angrenzende Gebiete getragen, was durchaus eine Gefahr für die Bevölkerung darstelle.

Ist die Region um Tschernobyl also wirklich bereit für einen Neuanfang?

Das gelobte Land

Besuch in Dytyatky, eine gute halbe Autostunde südlich von Tschernobyl. Auch von hier wurden damals Menschen evakuiert – heute fahren Reise­busse am Kontroll­posten vorbei in die Sperrzone, die unmittelbar hinter dem Dorf beginnt.

Organisierte Touren in die Sperrzone boomen seit Jahren. Allein 2018 kamen über 70’000 Touristen. Die Bilder sind einprägsam: geplünderte Häuser, ein Schwimm­bad ohne Wasser, ein verrostetes Riesenrad, das nie in Betrieb war.

Direkt hinter dem Grenzzaun, weit weg vom Katastrophen­tourismus, qualmt schwarzer Rauch in den blauen Sommer­himmel. In einem Radius von 30 Kilometern wilder Natur ist die Metall­fabrik von Wadym Minsjuk das erste Lebens­zeichen an einem sonst verlassenen Ort. Viele Häuser stehen leer, die Ruinen der Kolchosen aus der Sowjetzeit erinnern an bessere Zeiten.

Wadym Minsjuk ist ein Mann, der viel lacht. In diesen Momenten blitzen seine goldenen Backen­zähne hervor. Mit grossen Schritten läuft er in schwarzer Jogginghose und vollgerusstem T-Shirt durchs kniehohe Gras. Vorneweg: sein weiss-brauner Neufundländer Sultan.

Leben im Schatten des Reaktors: Für Wadym Minsjuk und Sultan ist das zum Alltag geworden.

Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Ein zwei Meter hoher Drahtzaun ragt in den Himmel. «Hier ist die Zone! Und das ist der Durchgang für die Stalker.» Minsjuk zeigt auf ein Loch im Zaun, gross genug, dass ein Mensch hindurch­schlüpfen kann. Immer wieder würden sich junge Menschen hier Zutritt zur Sperrzone verschaffen. Genau wie die Touristen suchen sie drinnen den besonderen Kick. Die Armen, sagt er über eine Gruppe Jugendlicher, die er hier total durchnässt aufgesammelt und nach Hause gebracht hat.

Leben im Schatten des Reaktors – für Minsjuk ist das Alltag geworden. Den Weg entlang der Sperrzone geht er jeden Tag. Er nennt es sein «gelobtes Land». Dabei hatte er schon fast aufgegeben, als er Dytyatky vor fünf Jahren gefunden hat. Damals lebten er und seine Familie in Horliwka, in der ostukrainischen Region Donezk. Minsjuk leitete dort eine Fabrik für Auto­batterien.

Doch als prorussische Separatisten in Donezk und in der Nachbar­region Luhansk 2014 die Macht an sich rissen, änderte sich alles. Vor allem für jene, die sich wie Minsjuk für die Ukraine aussprachen. Er verlor Freunde, musste mitansehen, wie Menschen ermordet wurden. Er selbst wurde während einer Autofahrt mit einem Sturm­gewehr bedroht, die Kinder auf dem Rücksitz.

Minsjuk entschied sich zu gehen. Aber wohin?

Geld machen mit Schrott

Ein Jahr reiste Minsjuk mit seiner Familie durchs Land. «Wir konnten keinen Ort finden, wir hatten ja kein Geld.» Sogar in Mexiko sei er gewesen. «Aber das ist nicht meine Mentalität da.» Einen Moment lang habe er sogar überlegt, in die Ostukraine zurück­zugehen. Doch dann brachte sein Pate ihn hierher, nach Dytyatky, wo Land und Wohnraum günstig zu haben sind.

Sonnenstrahlen brechen durch das Wellblech­dach der Fabrik­halle und machen den aufgewühlten Staub sichtbar. Es dampft aus einem Kessel, das Atmen fällt schwer. In den Ecken der Fabrik türmen sich Autoreifen, Flaschen und Metall­schrott. Minsjuk verdient sein Geld mit dem, was andere wegwerfen: Aus Autoreifen macht er Gas, aus Schlacken Metall, aus Holzresten Kohle­briketts. Einer seiner Mitarbeiter schaufelt gerade Soda, dann Glasflaschen in den glühend roten Kessel und weicht dann schnell wieder zurück vor der Hitze.

Schwarz vor Hitze: Ein Arbeiter in Minsjuks Metallfabrik in Dytyatky.
1140 Euro: Minsjuk hat sein Erspartes eingesetzt, um daraus eine Fabrik zu bauen.
Schrott einschmelzen, um daraus Metall zu gewinnen: Die Metallfabrik bietet die Chance auf Arbeit und Lohn.

Das Glas haben sie vorher auf der Müllhalde gesammelt. «Wir brauchen es, damit sich die Schlacken bilden», erklärt Minsjuk. Die Technologie haben sie sich selbst beigebracht. Sie sei primitiv, sagt er und zieht die Schultern hoch: «Aber wir hatten keine andere Möglichkeit, wir mussten irgendwie anfangen.»

Vor dem Krieg, erinnert sich Minsjuk, hatte er alles: einen Betrieb, ein grosses Haus, zwei Wohnungen. «Plötzlich stehst du ohne alles da.» Vom Staat bekommt er umgerechnet 14 Euro im Monat. Davon soll er sich eine Wohnung mieten. Doch in Städten wie Kiew kostet eine Einzimmer­wohnung mindestens 300 Euro. «Das reicht nicht mal für eine Hundehütte.»

Die herunter­gekommene Fabrik in Dytyatky hat er mit seinem Ersparten gekauft, für umgerechnet 1140 Euro. Sie ist Minsjuks Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen.

Ein Hostel für Katastrophentouristen

Vom Hof der Fabrik führt ein kleiner Trampel­pfad zu einem weiss gestrichenen Ziegelhaus. Hier steht, was Minsjuk seine Zukunft nennt. Gerade einmal 180 Euro hat er für die alte Schule bezahlt, die seit 1986 leer stand. Alles, was er mit der Fabrik verdient, steckt er hier rein: in neue Böden, neue Türen, ein neues Dach. Ein Hostel im ehemaligen Katastrophen­gebiet soll hier entstehen. Im Sommer sollen erste Touristen darin übernachten.

Vor der blauen Holztür eines alten Gebäudes steht Wolodymyr, ein drahtiger Mann mit zerbrechlicher Stimme. Er hilft Minsjuk, die Schule zu renovieren.

Seine Schule. Zumindest war sie es, bevor sie nach der Nuklear­katastrophe vom 26. April 1986 geschlossen wurde. «Hier gab es einen Garten mit Apfel- und Birnbäumen. Dort vorne war ein kleiner Sportplatz, auf dem wir Fussball gespielt haben», sagt Wolodymyr und zeigt auf einen kleinen Kartoffelacker.

Er war dreizehn, als er aus dem Fernsehen von der Explosion erfuhr. Verlassen hat er den Ort seitdem nie. Es sei schwer gewesen, irgendwann habe er angefangen zu trinken. Vor sieben Jahren sei Schluss gewesen damit, ein Hexen­meister habe ihn geheilt, erzählt er. Inzwischen habe er ein Kind, das manchmal nach Spanien fahre. So wie viele andere Kinder, um sich von den Folgen des GAUs zu erholen.

Damals, als die Betriebe hätten schliessen müssen, erklärt Minsjuk, hätten die Menschen plötzlich nicht mehr ihrer geregelten Arbeit nachgehen können. Von heute auf morgen hätten sie sich wertlos gefühlt. Vor allem junge Menschen hätten das Dorf auf der Suche nach Arbeit verlassen. Mit dem Hostel hofft Minsjuk wieder Menschen anzulocken. Er überlegt nun sogar, sich für das Amt des Dorf­vorstehers zu bewerben, um zu helfen, es wiederaufzubauen.

570 Menschen leben heute in Dytyatky, in den vergangenen Jahren haben sich einige landwirtschaftliche Betriebe angesiedelt. Neben Wadyms Metall­fabrik gibt es noch ein Sägewerk und ein Lebensmittel­geschäft. Im Frühjahr eröffnet zudem neben dem Hostel auch ein grösseres Hotel für die «Katastrophen­touristen».

Hauptsache, man überlebt

Es hat fast schon etwas Ironisches, dass die Geschichte nun beide Gruppen zusammen­führt: die Gebliebenen, die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe, und die Zugezogenen, die Opfer des Ostukraine-Kriegs, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollen. Beide zählen sie zu den Schwächsten im Land.

Ihre Geschichten sind jedoch keineswegs identisch. Das meint zumindest Minsjuk: «1986, als hier die Katastrophe war und die Leute umgesiedelt wurden, gab es staatliche Programme, die Menschen haben Geld und Häuser bekommen.» Heute sei das ganz anders: «Die Leute erhalten keinerlei Hilfe.»

Ob die Menschen, die aus den Kriegs­gebieten geflohen sind, jemals wiederbekommen, was sie verloren haben – zum Beispiel in Form von Kompensationen –, wird sich erst zeigen, wenn der Krieg vorüber ist. Ein Drittel von ihnen lebt heute anderswo im Donbass, ein Drittel in anderen Regionen der Ukraine und ein Drittel im Ausland, vor allem in Russland.

Aleksei Kuschnarenko hat die Not nach Bazar getrieben, einen Ort, den die meisten aus Angst um ihre Gesundheit meiden würden. Neben ihm leben hier noch weitere Vertriebene: Ärzte, Lehrer, Rentner. Man kennt sich untereinander, hilft sich. Anders als in den Vororten der Hauptstadt Kiew, wo Flüchtlinge auch nach sechs Jahren in Container­behausungen wohnen, gibt es hier draussen im Hinterland immerhin ein festes Dach über dem Kopf.

Nicht weit von Kuschnarenkos Haus steht eine über 200 Jahre alte, in den ukrainischen National­farben Blau und Gelb gestrichene Holz­kirche. Einen Gottes­dienst gibt es längst nicht mehr. Seit er hier lebt, besucht er die Kirche regelmässig. Der Holzboden ist mit alten Teppichen ausgelegt, die Fenster sind mit dichten Stoff­gardinen verhängt, sodass kaum Tageslicht hineinfällt.

Gott hört immer zu: Aleksei Kuschnarenko in der Kirche, die er regelmässig besucht.

Behutsam schreitet Kuschnarenko zum Altar, bekreuzigt sich. Der Boden unter seinen Füssen knarrt. Er zündet eine Kerze an. «Wenn du mit Gott sprichst, wenn du alles aussprichst, dann verschwindet das Negative, und du bekommst sogar einen Rat», sagt er leise. «Du überdenkst das Leben.»

Das mit dem Glauben habe erst mit dem Krieg begonnen, sagt Kuschnarenko. Mittlerweile sei er wieder ruhig, ihm gehe es gut. Aber als er hierher­gekommen sei, habe sein ältester Sohn jeweils noch angefangen zu zittern, wenn ein Löffel zu Boden fiel.

«Die Hauptsache ist, dass wir überlebt haben.»

Zur Autorin und zum Fotografen

Lena von Holt ist freie Journalistin und arbeitet vor allem zu sozialen und gesellschafts­politischen Themen. Sie hat Philosophie, Literatur­wissenschaften und Politik­wissenschaften studiert und lebt in Wien. Ihre Reportagen erscheinen in deutsch­sprachigen Medien wie dem «Freitag», der WOZ, dem «Datum» und dem Deutschlandfunk – auf diesem Sender ist auch eine Reportage von Lena von Holt über Aleksei Kuschnarenko zu hören.

Ilir Tsouko ist griechisch-albanischer Fotojournalist und lebt abwechselnd in Berlin und Athen. Er hat Fotojournalismus und Dokumentar­fotografie an der Hochschule Hannover studiert und arbeitet an Langzeit­projekten zu den Themen Migration, Identität und soziale Gerechtigkeit.