Mensch, Meyer!

Schüttelzüge, Baustellen und Verspätungen kratzen am guten Ruf der SBB. Hat der laute, streitbare und egozentrische Chef Andreas Meyer seinen Job nicht gemacht? Eine kritische Bilanz zu seinem Abgang.

Von Philipp Albrecht (Text) und Aline Zalko (Illustration), 27.03.2020

Stellen Sie sich vor: Sie führen seit vielen Jahren ein grosses Unter­nehmen. Ihnen ist bewusst, dass Sie vieles richtig gemacht haben. Doch Journalisten fragen immer nur nach Ihren Fehlern. Ist es da nicht selbst­verständlich, dass Sie lieber über Ihre guten Entscheide sprechen wollen?

Eben. Da sind Sie gleicher Meinung wie SBB-Chef Andreas Meyer.

In seinem Leben dreht sich seit dreizehn Jahren alles um die Schweizerischen Bundes­bahnen. Kein anderes Unter­nehmen im Land löst mehr Gefühls­wallungen aus. Rollt der Interregio zweimal in einer Woche fünf Minuten zu spät ein, geraten ausgeglichene Personen aus der Fassung. Die anderen Tage, wenn der Zug pünktlich auf die Sekunde ans Perron fährt, sind die gleichen Menschen stolz auf die Bahn. Und finden Andreas Meyer trotzdem arrogant, wenn er darauf hinweist, dass neun von zehn Zügen keine Verspätung haben.

Dass er nicht mit Blumen überhäuft wird, mag auch mit seiner Eitelkeit zu tun haben. Meyer ist bekannt dafür, dass er sehr viel von sich selbst hält.

Und das wird ihm gerne angekreidet. «Der Mann kommt irgendwie einfach nicht an», schrieb die «NZZ am Sonntag» vor vier Jahren in einem Porträt mit der Überschrift: «Buhmann des Service public». Das Newsportal Watson warf ihm vergangenen Herbst vor, die Bodenhaftung verloren zu haben.

Auch in der Politik hat Meyer wenig Freunde. Bürgerliche haben sich immer daran gestört, dass er «einen auf Unter­nehmer» macht, obwohl er einen Staats­betrieb führt. Linke verachten ihn derweil, weil er auf SBB-Land teure Wohnungen bauen liess, die sich nur Topverdiener leisten können.

Nun tritt Meyer als SBB-Chef ab. Am 1. April räumt er seinen Posten. Angekündigt hat er das schon letzten September. Die «Neue Zürcher Zeitung» titelte: «Unschöner Abgang des Schönfärbers».

Hat der Mann diesen Abschied verdient? Wie steht es wirklich um den Zustand der viel kritisierten SBB?

Die drei Probleme der SBB

Andreas Meyer wird am 9. April 59 Jahre alt, er wuchs in Birsfelden als Sohn eines Bähnlers auf. Während des Studiums reinigte er im Nebenjob Züge. Danach wurde er Rechts­anwalt, machte eine Management­ausbildung, ging in die Industrie und landete in einer hohen Kader­position bei der Deutschen Bahn.

Als die SBB im Jahr 2007 einen neuen Chef und Nachfolger von Benedikt Weibel suchten, war der damalige Leiter Personen­verkehr, Paul Blumenthal, der grosse Favorit – er stand für Kontinuität und wusste das gesamte Kader hinter sich. Doch Meyer, der Outsider, setzte sich gegen ihn und 28 weitere Mitbewerber durch.

Der Bundesrat wollte die Bahn endlich zu einem modernen Unter­nehmen machen. Noch bis 1999 war sie Teil der Bundes­verwaltung gewesen. Sie war teuer und ineffizient, Gewinne waren kein Thema. Benedikt Weibel, Chef seit 1993, hatte es zwar geschafft, den Betrieb zu modernisieren – nicht aber die Organisation. Darum holte man Meyer. Er sollte aufräumen.

Und das tat er auch. Manchmal auch radikal und ohne Fingerspitzen­gefühl. 2008 etwa lief er fast in einen Streik, als er aus Spar­gründen das SBB-Werk in Bellinzona schliessen wollte und die Arbeiter dort auf die Barrikaden gingen. In den ersten drei Meyer-Jahren flüchteten neun Topmanager aus der Konzern­leitung. Der neunte, Ex-Schweiz-Tourismus-Direktor Jürg Schmid, ging schon nach sechs Wochen. Es hiess, Meyers Macht­anspruch habe ihn geradezu erdrückt.

Permanente Hektik in der Führungsetage, mediale Auftritte in der Badehose – für vieles wurde der SBB-Chef seither kritisiert. Zu reden gab auch sein Salär: Mit rund einer Million Franken war Meyer zeitweise der bestbezahlte Chef eines Bundesbetriebs. Als Bundes­rätin Simonetta Sommaruga 2019 seinen Lohn unter die symbolische Grenze von einer Million drücken wollte, warnte SBB-Präsidentin Monika Ribar davor, weil sonst das Risiko bestehe, dass Meyer die SBB verlasse. Der Bundesrat gab schliesslich nach.

Nach dreizehn Jahren sprechen viele Beobachterinnen deshalb von einem Reputations­schaden, wie man ihn bei den SBB nie zuvor gesehen habe. Und verweisen auf Mess­grössen wie die Kunden­zufriedenheit. Sie ging zeitweise zurück und ist heute leicht tiefer als vor Meyers Antritt im Jahr 2007.

Passagiere sind nicht glücklicher geworden

Kundenzufriedenheit mit den SBB

Achse gekürzt200720112015201975,873757779 Indexpunkte

Befragung von monatlich 1200 Personen zu den Themen Wert­schätzung, Aufmerksamkeit Personal, Platz­angebot, Sicherheit, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Kunden­information, Preis/Leistung, Mobilfunkempfang. Quelle: SBB

Doch den Chef allein dafür verantwortlich zu machen, wäre zu kurz gedacht. Nüchtern betrachtet gibt es drei Hauptachsen, auf denen die Bahn heute zu kämpfen hat:

  1. Die Baustellen: Das SBB-Netz mit Schienen, Leitungen und Signalen gelangt an seine Grenzen. Es muss so viel geflickt werden wie noch nie.

  2. Der Bombardier-Zug: Eine Anhäufung von Fehlern und Problemen seitens des Herstellers führte zu einer jahrelangen Verzögerung beim dringend benötigten Doppelstock-Schnellzug.

  3. Die Lokführer: Die SBB haben zu wenig Personal im Führer­stand. Die Rekrutierung des Nachwuchses wurde komplett verschlafen.

Für diese Probleme muss der SBB-Chef als oberster Bähnler geradestehen. Doch die eigentlichen Ursachen dafür gehen über ihn hinaus.

1. Verbogene Schienen

Ein Schienennetz zu unterhalten, ist teuer. Keine Bahn der Welt kann dies aus ihren Billett­einnahmen selbst finanzieren. Auch in der Schweiz nicht: Der Bund zahlt den SBB dafür jedes Jahr rund 2 Milliarden Franken.

So hoch war der Betrag nicht immer. Darum wurde lange Zeit beim Netzunterhalt nur das Nötigste gemacht. Meyer erwähnt in Gesprächen gerne, wie er zwei Jahre nach Amtsantritt mit weichen Knien und einer Hiobs­botschaft unter dem Arm vor das Parlament trat, um neue Mittel anzufordern. Das Netz sei «in einem schleichenden Zustand der Verschlechterung», formulierte er vorsichtig. Was er konkret meinte: Die Schienen verbogen und senkten sich, bekamen Risse. Schwerere Züge, mehr Waren­transporte und extremes Wetter belasteten die Infra­struktur. Oft wurde nur geflickt anstatt erneuert.

Die Politik beschloss, dass die SBB in einem ersten Sanierungs­schritt die Kosten selber tragen sollten. Dafür sollten die Billett­preise erhöht werden. In einem zweiten Schritt machte der Bund Steuer­gelder locker. Daraus entstand später die sogenannte FABI-Initiative, die 2014 angenommen wurde. Bis 2025 fliessen damit 6,4 Milliarden Franken in den Ausbau der Bahn­infrastruktur.

Trotzdem bleibt das Schienen­netz bis heute anfällig. «Die Zustands­berichte sind nicht erfreulich», sagt Walter von Andrian, Chefredaktor der «Schweizer Eisenbahn-Revue», zur Republik. Meyer habe zwar einen Notstand verhindert. «Aber man repariert oft nur kurze schadhafte Stücke statt ganzer Strecken­abschnitte, was effizienter wäre.» Inzwischen hat sich die Lage stabilisiert. Aber das heisst lediglich, dass sich das Netz nicht noch weiter verschlechtert.

«Die Lernkurve war etwas langsam», sagt ein früherer SBB-Angestellter aus dem Bereich Infra­struktur. Meyer sei immer der Überzeugung gewesen, man müsse nicht ganze Linien unterbrechen, um Schienen zu reparieren. Er wollte keine Ersatz­busse. Also wurde in den meisten Fällen nur eine Fahrt­richtung aufs Mal bearbeitet. Doch das kostet Zeit und führt dazu, dass immer irgendwo gebaut wird. Und die Verspätungen nehmen nicht ab.

Mittlerweile sind auch Ersatz­busse kein Tabu mehr. Ganze Strecken und Bahnhöfe werden für Infra­struktur­sanierungen geschlossen. Bis 2021 soll das so weitergehen – keine grosse Hinter­lassenschaft des SBB-Chefs.

Unter Bähnlern hat sich allerdings auch die Einsicht durchgesetzt, dass alles noch schlimmer geworden wäre, hätte Meyer nicht voll auf Verdichtung gesetzt. Also auf den Einsatz von immer mehr Zügen auf denselben Schienen.

Seit seinem Antritt im Jahr 2007 hat die Anzahl der Passagiere um 50 Prozent zugenommen. Die SBB transportieren jeden Tag über 1,3 Millionen Menschen.

Immer mehr Schweizer nehmen den Zug

Passagierzahlen der SBB

200720102013201620190500’0001’000’0001’500’000 Passagiere pro Tag

Quelle: SBB

Um das zu bewältigen, setzte Meyer nicht nur auf den Bau neuer Spuren und Strecken. Sondern er taktete vor allem den Fahrplan enger. Das brachte ihm internationale Anerkennung ein: Dichter aufeinander als in der Schweiz fahren die Züge in keinem Land der Welt.

Zusammen mit vier Regional­bahnen schalten die SBB sogar noch einen Gang höher: Mit dem Modernisierungs­programm Smartrail 4.0 soll über den Einsatz zusätzlicher Digital­technologie der Fahrplan noch dichter werden. Ob es funktioniert, weiss niemand – der Zeitplan reicht bis 2040.

Es ist eine von Meyers Lieblings­disziplinen, die Leute um ihn herum mit seiner Digitalisierungs-Euphorie anzustecken. Als er bei den SBB anfing, stellte er gern sein Blackberry-Handy zur Schau und wunderte sich über die vielen Bundes­ordner, die seine Kader­leute mit an Sitzungen nahmen. Eines Tages sprach er nicht mal mehr von Eisenbahn, Bussen, Trams und Schiffen, sondern von einer vernetzten Mobilität, von Tür-zu-Tür-Transport, von einer Welt, in der keiner mehr ein Auto besitzt, alles geteilt wird und die Transport­mittel miteinander kommunizieren.

Die alten Bähnler liessen sich davon nicht anstecken. Sie spotteten, Meyer solle lieber dafür sorgen, dass die Züge pünktlich fahren, anstatt von selbstfliegenden Taxis zu träumen.

Dass er zu schnell zu viel wollte, sieht Meyer ein. «Im letzten Jahr haben wir versucht, viel mehr Mittel zu verbauen, als im Fahrplan unterbringbar war», sagt er im Gespräch mit der Republik. «Wir haben uns übernommen.»

Die Realität, sie konnte nicht immer mit dem Tempo in Meyers Kopf mithalten. Das gilt auch fürs Rollmaterial. Aber aus ganz anderen Gründen.

2. Der Schüttelzug

Beim Rollmaterial ging in Meyers Ära alles schief, was hätte schiefgehen können. 2010 erhielt der kanadische Konzern Bombardier den Zuschlag für den Bau der neuen doppel­stöckigen Schnellzug­generation FV-Dosto. 2013 hätten die ersten der insgesamt 59 Züge ausgeliefert werden sollen. Aber in den Produktions­hallen in Villeneuve am Genfersee standen zu diesem Zeitpunkt erst ein paar hohle Wagen­kasten. Ein Hunderte Millionen Franken teurer Rechts­streit begann, der die SBB Nerven und Ansehen kostet. Nach wie vor sind nicht alle bestellten Bombardier-Züge geliefert.

«Es war ein überbordendes Projekt mit unglaublich vielen Neuerungen», sagt Bahn­journalist von Andrian. «Die SBB hatten übertriebene Ansprüche an den neuen Zug, und Bombardier versprach, dass sie alles umsetzen würden.» Allerdings würden bei Ausschreibungen alle Anbieter solche Versprechen machen, weil sie sonst den Auftrag nicht bekämen.

Bombardier hat dann tatsächlich einen schwer­wiegenden Konstruktionsfehler gemacht, worauf die Ingenieurinnen nach zwei Jahren praktisch wieder bei null anfangen mussten. Dazu kommt, dass sich die SBB mit dem Behinderten­dachverband seit sieben Jahren über Zusatz­toiletten, Einstiegs­rampen und Speise­wagen­lifte streiten. Ein finaler Entscheid des Bundes­gerichts steht noch aus.

Inzwischen räumt Meyer Versäumnisse ein. «Vielleicht hätte ich mehr Druck machen können.» Aber man müsse auch die technologische Entwicklung und die verschärften Sicherheits­normen berücksichtigen: «Früher waren die Züge technisch simpel. Heute haben wir hoch klimatisierte Wagen, zentimeter­genaue Schiebe­tritte, ausgeklügelte Belüftungen – alles software­gesteuert», sagt er. «Daneben ist jeder PC ein kleines Lichtlein.»

SBB-intern ist der FV-Dosto umstritten. Die einen lieben ihn gerade wegen seiner Hyper­modernität oder weil er so einfach zu reinigen ist. Die anderen stören sich an den vielen Sonder­funktionen. «Man wollte unbedingt den besten Zug und legte immer noch eins obendrauf», erzählt ein ehemaliges Kader­mitglied. «Dabei ist zweifelhaft, ob es wirklich eine Wank­kompensation brauchte.» Gemeint ist eine Technologie, die es ermöglicht, schneller in die Kurven zu fahren.

Das Bombardier-Debakel – zweifellos ein Klecks im Notenheft von Andreas Meyer. Doch es ist auch ein Symptom der immer höheren Ansprüche ans Rollmaterial. Hier will die Schweiz ganz vorne mit dabei sein und sich nicht mit vorgefertigten Zügen aus anderen Ländern zufriedengeben.

Als der Zug 2018 mit fünf Jahren Verspätung in Betrieb ging, fing er auch noch an zu vibrieren. Passagierinnen wurde übel, Zugbegleiter mussten wegen Gelenk­schmerzen krank­geschrieben werden. Seither ist vom «Schüttelzug» die Rede. Auch heute noch, obschon das Problem gelöst ist.

«Bei fast jeder neuen Zuggeneration gab es am Anfang Schwierigkeiten», gibt Bahn­journalist von Andrian, der die Einführung mehrerer Loks und Wagen mitverfolgt hat, zu bedenken. «Der Zug läuft inzwischen sehr gut.»

Und immerhin: Trotz Engpässen beim Roll­material gelang es im Schnitt über die letzten drei Jahre, die Pünktlichkeit deutlich zu steigern. Beinahe 90 Prozent der Kundinnen erreichten in dieser Zeit den Zielbahnhof mit weniger als drei Minuten Verspätung (wobei ein voll besetzter Intercity-Zug viel stärker gewichtet wird als ein Regionalzug zu später Stunde auf einer Neben­strecke). In den Jahren zuvor war die Quote zeitweise unter 88 Prozent gefallen.

Neun von zehn Zügen sind pünktlich

Weniger als drei Minuten Verspätung gilt als pünktlich

Achse gekürzt20112015201989,5 %86889092 %

Gewichtung nach Belegungs­zahlen der einzelnen Züge. Quelle: SBB

3. Zu wenig Lokführerinnen

Das Problem liegt derzeit noch anderswo: Es fehlt an Lokführern. Jeden Tag sind es 30 zu wenig. Gestopft wird das Loch notfall­mässig mit Pensionierten. Und wer freiwillig seine Freizeit opfert, kriegt inzwischen 80 Franken pro Tag extra bezahlt. Burn-out-Fälle nehmen zu, die Lokführerinnen sind am Anschlag.

Meyer spricht von Planungs­fehlern: «Wir haben in der langfristigen Einsatz­planung der Lokführer nicht miteinberechnet, dass die Dynamik im Zusatz­verkehr und im Unterhalt so gross sein würde. 2019 haben wir über 1900 Extrazüge zur Erschliessung der Gross­veranstaltungen eingesetzt.» Unter anderem fanden in jenem Sommer in Zug das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (alle drei Jahre) und in Vevey die Fête des Vignerons (etwa alle fünfundzwanzig Jahre) statt.

Fehler wurden aber auch schon früher gemacht. Bei den SBB hört man dazu sehr unterschiedliche Darstellungen. Dass sich ein Lokführer­mangel abzeichne, habe man schon länger gewusst, heisst es: wegen der Bahn 2000, eines Megaprojekts, das die Schweizer Eisenbahn komplett umkrempelte. Ende der 1990er-Jahre wurden dafür Hunderte neue Lokführer rekrutiert. Man wusste zwar damals schon, dass die meisten von ihnen um 2020 herum in Pension gehen würden. Trotzdem wurde nicht früh genug für Nachschub gesorgt.

Der Umgang mit den Lokführerinnen war bereits lange vor Meyers Zeit schwierig. Sein Vorgänger Benedikt Weibel und SBB-Präsident Thierry Lalive d’Epinay kämpften sich schon früher mit den Zugpiloten ab. 2001 forderten diese vom Bundesrat, dass er den Präsidenten absetze, weil dieser es gewagt hatte, die Lokführer in zwei Divisionen – Personen­verkehr und Güter­verkehr – aufzuteilen. Sie fürchteten sich aber nicht etwa vor Lohn­einbussen oder Stellen­abbau, sondern vor einer «Monotonisierung» ihrer Arbeit.

Später legten sie sich erfolgreich mit Meyer an, als dieser ihnen Uniformen schmackhaft machen wollte. Dabei wollte der CEO der «Königs­klasse» seiner Angestellten nur die Möglichkeit geben, sich so stolz als SBB-Angestellte zu erkennen zu geben wie die Zugbegleiterinnen, die einheitliches Tuch tragen.

«Die Lokführer sind die mit Abstand heikelste Berufs­gruppe im Konzern», sagt ein ehemaliger Angestellter der Bundes­bahnen. «Richtige Jammeri.»

«Im Umgang mit uns gibt es alle paar Jahre einen Philosophie­wechsel», verteidigt sich ein Lokführer, der seit sieben Jahren für die SBB fährt. Die Vertrags­parteien kommen sich regel­mässig in die Quere. Auch weil die Nachfrage nach Lokführerinnen immer wieder schwankt. 2005 lagerte Weibel die Schulung aus, was ein paar Jahre später dazu führte, dass sich die Qualität verschlechterte. 2013 holte Meyer die Ausbildung wieder zurück ins Haus.

Aber noch lockt die 14- bis 16-monatige Zweitausbildung zu wenig Interessierte an. Dies, obwohl vergangenen Winter der Ausbildungs­lohn angehoben wurde, um mehr Umsteiger anzulocken. Der Job ist nicht schlecht bezahlt: Einsteigerinnen verdienen ab 70’000 Franken, nach zwanzig Berufs­jahren wird üblicherweise die 100’000-Franken-Marke geknackt. «Der gute Lohn ist der Grund, warum sie heute nicht mehr auf die Barrikaden gehen», glaubt ein Ex-Angestellter.

Eine Erklärung für den Mangel könnte die eingeschränkte Flexibilität sein. Vor einigen Jahren setzte sich ein System der Spezialisierung durch: Lokführerinnen müssen nicht zwingend alle Zugtypen beherrschen und erst recht nicht das ganze Stecken­netz kennen. Seither sind sie regionalen Depots zugeteilt und fahren in einer beschränkten Anzahl von Zugtypen eine beschränkte Zahl von Strecken ab. Das bringt zwar eine gewisse Konstanz in das Berufs­leben der Lokführer, macht das System aber nicht geschmeidiger.

Immer mehr Lokführer würden nach neuen Jobs Ausschau halten, heisst es. In der Westschweiz sei das Klima unter den Kollegen sogar «apokalyptisch», sagt ein Lokführer: «Viele haben das Gefühl, alles zu geben und trotzdem nichts recht machen zu können.»

Mit diesem Problem sind die SBB freilich nicht allein. Die Rekrutierung stockt auch in anderen Ländern: In Österreich fehlen aktuell 1000 Leute, und die Deutsche Bahn plant, dieses Jahr 25’000 neue Lokführerinnen einzustellen. Fakt ist: Lokführer ist nicht mehr der Traumjob, der er einmal gewesen ist.

Jetzt spricht der Aktionär

In welchem Zustand hinterlässt Meyer nun die SBB? Der ramponierte Ruf deutet eher in eine für ihn wenig schmeichelhafte Richtung. Die betriebs­wirtschaftlich viel wichtigere Frage ist aber: Wie zufrieden ist der Aktionär?

Die Antwort darauf führt zum Bundesrat. Die Bahn ist zu 100 Prozent im Besitz des Staates. Sie gehört dem Volk – und das Volk hat der Landes­regierung die Kompetenz übertragen, den SBB spezifische Ziele vorzugeben.

Um welche Ziele geht es? Der Bundesrat formuliert einerseits allgemeine Perspektiven wie eine nachhaltige und ethische Unternehmens­strategie oder eine Steigerung der Kunden­zufriedenheit. Andererseits hat die Regierung konkrete Vorgaben. So erwartete sie nach Meyers Amtsantritt unter anderem, dass er

  • die Produktivität im ganzen Unternehmen steigert;

  • den Bereich Güterverkehr (SBB Cargo) profitabel macht;

  • die Immobilien der SBB marktorientiert bewirtschaftet

  • und die Pensionskasse saniert.

Obendrauf kommen noch messerscharfe Gewinn­erwartungen. Für das Jahr 2010 verlangte der Bundesrat etwa einen Gewinn von mindestens 170 Millionen Franken (erreicht wurden dann 300 Millionen).

Und in etwas umständlicher Formulierung wurde von Meyer verlangt, zu sparen oder die Billett­preise zu erhöhen, falls es nicht reichen sollte:

Der Bundesrat erwartet, dass die SBB zur Erreichung der aufgeführten Ziele verschiedene betriebs­wirtschaftlich notwendige Massnahmen ergreift, insbesondere auch Elemente einer nachfrage­orientierten Preis­gestaltung zur Optimierung der Erträge und der Auslastung von Roll­material und Infrastruktur.

Quelle: Uvek, Punkt 3.8

Über die Erreichung dieser Ziele zieht der Bundesrat jedes Jahr Bilanz: Wo hat der Konzern die strategischen Erwartungen erfüllt? Wo nicht?

Im Rückblick über Meyers Amtszeit zeigt sich, vielleicht überraschend, dass sich der CEO kaum Fehler geleistet hat. Kein einziges Mal hat er die Ziele nicht erreicht. Fünfmal hat er sie erreicht und achtmal zumindest teilweise.

Akzeptable Bilanz

Zielerreichung der SBB

teilweise erreicht
erreicht
20072010201320162019Ergebnis

Quelle: Uvek

Kein Wunder, hatte der Bundesrat am Ende wenig an Meyer auszusetzen. Infrastruktur­ministerin Doris Leuthard kam meistens gut mit ihm zurecht. Auch Leuthards Vorgänger Moritz Leuenberger, der für Meyers Anstellung mitverantwortlich war, hatte seine Freude am zielstrebigen Manager.

Wenn Meyer nicht alle Vorgaben des Bundesrats erreicht hat, lag das auf der einen Seite an der ramponierten Infra­struktur, die den Betrieb vor allem zwischen 2013 und 2015 an seine Grenzen brachte. Diese übernahm Meyer allerdings von seinem Vorgänger, der zuerst mit dem Megaprojekt Bahn 2000 und dann mit einem harten Spar­programm zu kämpfen hatte. Die Probleme beim Schienen­netz sind auch eine Spätfolge davon.

Andererseits lag es am Güter­verkehr, der zwischen 2007 und 2010 unter schrumpfendem Volumen litt und in die roten Zahlen gerutscht war. Auch dieser Bereich war jedoch schon länger ein Sorgen­kind. Unter Meyer wurden im Cargo-Management die Zügel gestrafft: 2013 wurden sogar zum ersten Mal seit über 40 Jahren schwarze Zahlen geschrieben. Und die Aussichten sind gut: Vergangenen Herbst haben vier Schweizer Logistik­unternehmen zusammen eine 35-Prozent-Beteiligung an SBB Cargo gekauft. Das dürfte mehr Aufträge und mehr Einnahmen bringen. Zudem könnte die CO2-Abgabe mehr Güter von der Strasse auf die Schiene bringen.

Im Grunde sind die SBB für die nächsten Jahre gut aufgestellt. Expertinnen gehen von einer weiteren Zunahme bei der Nutzung des öffentlichen Verkehrs aus. Kurzfristig werden zwar die Auswirkungen des Corona­virus das Ergebnis für das Jahr 2020 belasten: Der Fahrplan wurde ausgedünnt, Kundinnen haben ihre General­abonnemente hinterlegt, an den Bahnhöfen wird viel weniger konsumiert, und der Waren­transport läuft nur noch eingeschränkt. Möglich, dass der Konzern deswegen in die roten Zahlen rutscht.

Doch zuletzt lief der Laden gut. Die Staatsbahn schrieb 2019 einen Gewinn. Obwohl das Betriebs­ergebnis zuletzt um fast 20 Prozent schrumpfte, blieben unter dem Strich knapp eine halbe Milliarde Franken in der Kasse.

Natürlich hat es etwas Widersprüchliches, von Gewinnen zu sprechen, während der Staat Milliarden in den Betrieb steckt. Doch bei den SBB ist der subventionierte – «abgeltungsberechtigte» – Bereich klar definiert: Geld von Bund und Kantonen gibts hauptsächlich für die Infra­struktur und für bestellte Linien im Regional­verkehr. Der Rest muss selbsttragend sein.

Und ist es auch. Der Fernverkehr etwa, das Kerngeschäft der SBB, ist profitabel. Wo Geld erwirtschaftet werden muss, war der Chef in den vergangenen dreizehn Jahren erfolgreich. Will die Politik den Kurs der Bundes­bahnen entscheidend ändern, liegt es an ihr, entsprechende Signale zu geben.

Ein letzter Auftritt

Als Andreas Meyer am 10. März ein letztes Mal zur Bilanz­medienkonferenz lud, war nicht er es, der im Zentrum stand. Auch nicht Vincent Ducrot, der routinierte Bähnler und jetzige Direktor der Freiburgischen Verkehrs­betriebe TPF, der auf Meyer folgen wird. Es war das Corona­virus, das ihm die Show stahl. Die Medien­leute hatten es nur auf Zitate zur Epidemie abgesehen.

In Meyers laute, sägende Stimme gesellte sich ein launischer Unterton, als er erklärte, was die SBB alles gegen das Virus unternähmen. Erst als er auf seine Person zu sprechen kam, wurde seine Ansprache feierlich. Und provokativ: «Ich weiss, dass die Medien am Kämpfen sind und gute Schlag­zeilen brauchen», sagte er an die Adresse der Journalisten, «ich habe mich nie gescheut, Unangenehmes anzusprechen, und Ihnen gute Geschichten geliefert.» Doch sollten sie bitte den SBB Sorge tragen, «dieser Ikone der Schweiz».

Hochmut, Eingeständnisse und Gestichel in einem Atemzug – was wird nun aus dem scheidenden SBB-Chef? Für den Ruhe­stand ist es zu früh, einen neuen Posten hat Meyer noch nicht. Er brauche keinen Job mehr mit grosser Exponiertheit, sagt er. Nach einer längeren CEO-Karriere wäre ein Verwaltungsrats­mandat üblich, vorzugs­weise als Präsident. Doch dazu hat es bis heute nicht gereicht, obschon Meyer seit 2016 auf der Suche ist.

«Neben den Verpflichtungen als Chef der SBB wäre ein VR-Mandat nicht dringelegen», musste er schliesslich selber einsehen. Spricht man mit Head­huntern, kommt aber noch ein anderes Problem hinzu: Meyer wird wegen seiner Dominanz weitherum als «schwierig» eingestuft.

«Ich bin einer mit Ecken und Kanten», sagt er dazu und meint das durchwegs positiv. «Wer viel gemacht hat wie ich, der zeigt eben Konturen.»

Mensch, Meyer!

In einer früheren Version schrieben wir, dass im Schnitt über die letzten drei Jahre «beinahe 90 Prozent der Züge» den Zielbahnhof mit weniger als drei Minuten Verspätung erreichten. Ein kundiger Leser hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass das so nicht korrekt ist. Richtig ist: Weniger als drei Minuten Verspätung hatten 90 Prozent der Kundinnen und Kunden – und beinahe 93 Prozent der Züge. Zudem haben wir in einer früheren Version geschrieben, dass Meyer in Muttenz aufgewachsen ist, es war Birsfelden.