Liebe Leserinnen und Leser (und heute besonders: liebe Eltern)
Seit mehr als einer Woche können in der Schweiz rund 600’000 Kinder nicht mehr in die Schule. Ihre Freunde dürfen sie nicht treffen. Das Fussballtraining wurde gestrichen und die Chorprobe vorläufig suspendiert. Plötzlich sind alle Strukturen weggefallen. Wie gehen Eltern mit dieser neuen Situation um – und welche Rezepte gibt es gegen den familiären Quarantäne-Koller?
Das haben wir Seraina Kobler gefragt. Sie ist freischaffende Autorin, Journalistin und vierfache Mutter. Für den Covid-19-Uhr-Newsletter berichtet sie aus ihrem Alltag:
«Der Mann im Radio sagt, dass wir nicht mehr in die Schule müssen!» Mein Sohn tanzt durch die Wohnung, bevor er im Klassenchat verschwindet. Der Moment muss für ihn und seine Freunde so etwas wie die Mondlandung ihrer Generation sein. Die kommenden Wochen werden sie prägen. Anders, als sie das in diesem Moment vielleicht glauben – aber das behalte ich für mich.
Kurz darauf sehe ich in den sozialen Medien schon die ersten Corona-Stundenpläne, von Kindern gezeichnet. Yoga steht da. Englisch. Schreiben. Warum machen das meine nicht? Auf Twitter schreibt die Professorin für Erziehungswissenschaften Margrit Stamm: «Das Jahr 2020 geht vielleicht als verlorenes Jahr in die Bildungsgeschichte der Kinder und Jugendlichen ein.»
Ich rufe nach meinen beiden Söhnen, 9 und 12 Jahre. Stille. Ich rufe noch mal. Dann sperre ich über die App «Family Link» ihre internetfähigen Geräte.
«Wir müssen uns vorbereiten», sage ich, als sie aus ihren Zimmern schlurfen. Ihre Antwort: «Können wir nicht noch ein bisschen gamen?»
Eine Viertelstunde später kleben Post-its an ihren Türen. Ehrlicherweise muss ich gestehen: Ich habe sie geschrieben. Aber sie haben sie sich angeschaut. Immerhin. Und keine Einwände. Fernschule steht da. Feuer machen im Wald. Sperrzeiten für das Smartphone. Stundenplan schreiben. Frühsport. Im Hintergrund brüllt meine Jüngste. Die Wohnung ist ein Schlachtfeld.
Die nächsten Tage irren wir durch das Vakuum, das der Lockdown hinterlassen hat. Nachts schlafen wir spät. Morgens wachen wir viel zu früh auf. Bald schon wünschen sich meine Söhne die Schule zurück. Ein bisschen habe ich auf diesen Moment gewartet. Im Internet recherchiert. In guten Momenten denke ich mir, jetzt bist du nicht nur vierfache Mutter und freischaffende Autorin, die kommenden Wochen bist du auch Fachfrau Betreuung und Mittelstufen-Lehrerin.
«Und was machen die beiden Kleinen, wenn wir lernen?», fragt mein Ältester. Gute Frage!
Es gibt immer wieder Momente, wo wir alle den Tritt verlieren, unserer täglichen Gewohnheiten und Routinen beraubt. Ich habe gelernt, uns allen etwas Zeit zu geben, von der wir nun eigentlich mehr haben sollten. Das mit dem Stundenplanzeichnen haben wir sein lassen. Denn nur eines wäre schlimmer, als keinen Stundenplan zu haben. Nämlich einen zu haben und ihn dann nicht einzuhalten.
Also haben wir uns ein paar ganz einfache Regeln für den Anfang aufgestellt:
Wir machen alle zusammen 3 mal 45 Minuten pro Tag Homeoffice.
Die Kinder bestimmen zuerst, was sie machen. Hauptsache, sie kommen irgendwie in die neue Situation rein. Auch wenn das mit Anime-Zeichnen geschieht.
Einmal pro Tag rennen wir ein paar Runden. Draussen. Solange wir noch können.
Die Geräte werden erst entsperrt, wenn das erledigt ist.
Ein- bis zweimal pro Woche externe Nachhilfe via Skype.
Wir gehen freundlich und wohlwollend miteinander um.
Weitere Tipps:
Wer in der Mathematik eingerostet ist: Auf seinem Videochannel erklärt der Lerntutor Dinge wie eine Spiegelung eines Dreiecks an einem Punkt.
Corona-Lernkanal: Hier können sich Schülerinnen und Schüler ein paar Stunden mit einem Thema aus dem Bereich Natur, Mensch und Gesellschaft beschäftigen.
Erfolgreich lernen mit ADHS: Gerade für Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen ist ein Bruch mit der Routine schwierig zu verarbeiten. Wie Eltern sie in der neuen Situation unterstützen können, erfahren sie in diesem Ratgeber, der in Kooperation mit der Universität Freiburg entstanden ist.
Schlaumeier: Interaktive und kostenlose Online-Lektionen. Von Montag bis Freitag um 9 Uhr morgens können Kinder während 30 Minuten mit den Schlaumeiern interagieren, Fragen stellen oder an Umfragen teilnehmen – wie in der Schule.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Heute zählt die Schweiz gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) 8060 infizierte Personen. Am Freitag waren es noch 4840 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von etwa 3 bis 4 Tagen. Wie schon mehrfach an dieser Stelle erwähnt, stimmen die Daten nicht auf den Tag genau. Am Freitag hatte die Republik über mangelhafte Abläufe beim BAG berichtet. Neu können Fälle auch per E-Mail gemeldet werden.
Bund holt Touristen zurück: 15’000 Schweizerinnen und Schweizer stecken im Ausland fest. Viele Grenzen sind geschlossen; der Flugverkehr in die Schweiz wurde massiv reduziert. Am Montag und am Dienstag sind drei Flüge nach Costa Rica, Kolumbien und Peru geplant, um insgesamt 750 Schweizer Touristen zurückzuholen. Innerhalb der nächsten zwei Wochen sollen alle Kontinente angeflogen werden. Nach ihrer Ankunft in der Schweiz müssen sich die Touristen in eine 10-tägige Selbst-Quarantäne begeben.
Umzüge weiterhin möglich: Der 31. März ist der wichtigste Zügeltermin des Jahres. Viele Menschen in der Schweiz ziehen kommendes Wochenende um. Dem stehe nichts im Weg, teilte das Bundesamt für Wohnungswesen am Wochenende mit.
Bund und Kantone geraten in Konflikt: Der Tessiner Staatsrat hat am Wochenende beschlossen, alle Baustellen und industriellen Produktionsstätten zu schliessen. Gemäss dem Bundesamt für Justiz dürfe aber nur der Bundesrat über solche Massnahmen befinden. Der Kanton Tessin will trotz der Rüge aus Bern an seinen Massnahmen festhalten. Was das für die betroffenen Unternehmen konkret bedeutet, ist noch unklar. Es ist das zweite Mal innert kurzer Zeit, dass der Bund einen Kanton zurückpfeift: Am Wochenende musste der Kanton Uri seine Ausgangssperre für über 65-Jährige zurückziehen.
Deutschland beschränkt Kontakte weiter: Draussen dürfen sich nun nur noch maximal 2 Menschen treffen. Grössere Gruppen sind nur erlaubt, wenn alle im selben Haushalt wohnen. Das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag verfügt. Kurz darauf begab sie sich in Selbstisolation. Dies als Vorsichtsmassnahme, weil ein Arzt, zu dem sie Kontakt hatte, positiv auf das Virus getestet worden sei. Sie sei gesund und mache derzeit Homeoffice, sagte Vizekanzler Olaf Scholz am Montag. Ein erster Test sei negativ ausgefallen.
Die besten Tipps und interessantesten Artikel
Okay, heute zuerst etwas Eigenwerbung. «Handle kühn, handle zielgerichtet, handle fair – und handle weitsichtig»: An diesen Maximen müsse sich die Krisenbekämpfung orientieren, schreibt Republik-Autor Simon Schmid in seinem Drehbuch für den akuten Corona-Konjunktur-Notfall. Sein Plan hat 4 Phasen:
Das Finanzsystem schützen: Zentralbanken «beruhigen die Märkte», wie es so schön heisst. Konkret: Sie senken zum Beispiel die Zinsen. Damit können sie verhindern, dass die realwirtschaftliche Krise auch gleich noch zur Finanzkrise wird.
Den Unternehmen helfen: Der Staat steckt Gelder in bedrohte Unternehmen, um Insolvenzen und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern.
Das Einkommen stabilisieren: Der Staat verhindert Lohneinbussen über die Arbeitslosenversicherung oder die Kurzarbeit. So verdienen die Menschen weiterhin und können Geld ausgeben.
Neue Entwicklungen anstossen: Sobald die Quarantänemassnahmen gelockert werden, sollte der Staat massiv investieren. In klimafreundliche Häuser zum Beispiel – oder in Elektroauto-Tankstellen. Und in höhere Löhne im Gesundheitsbereich.
Was sich auch zu lesen und zu browsen lohnt:
Wie entwickeln sich die Fallzahlen in der Schweiz und im Ausland? Der «Tages-Anzeiger» visualisiert auf einer Übersichtsseite alle relevanten Daten – und zeigt, wie stark die Massnahmen des Bundes zu wirken beginnen.
Die «New York Times» zeigt in einer aufwendigen Grafik, wie sich Sars-CoV-2 innert dreier Monate von der Millionenmetropole Wuhan über den ganzen Globus verteilt hat.
Die österreichische Zeitung «Der Standard» hat recherchiert, wie Tirol neben dem chinesischen Wuhan, dem Iran und der norditalienischen Lombardei zum weltweiten Corona-Hotspot wurde.
Frage aus der Community: Darf ich noch joggen gehen?
Sie dürfen. Das Virus Sars-CoV-2 verbreitet sich über Tröpfchen- oder Schmierinfektion. Anders als oft dargestellt sind Viren keine Tierchen, die das Bein hochkrabbeln oder sich über die Luft an Menschen heranmachen. Viren sind immobile Molekülhaufen, die sich nicht aktiv bewegen. Daher spricht nichts gegen einen Spaziergang im Wald oder das Sonnenbad im Garten – solange Sie dabei die physische Distanz zu Ihren Mitmenschen wahren und die Hygieneregeln strikt befolgen. Das Risiko, sich draussen in der Natur anzustecken, sei «praktisch null», selbst wenn man dabei anderen Menschen begegne, meint zum Beispiel der Lausanner Epidemiologe Marcel Salathé auf Twitter.
Zum Schluss eine gute Nachricht: Die WHO startet globale Suche nach Gegenmitteln
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat eine neue Untersuchung mit dem Namen «Solidarity» lanciert. Es ist die umfangreichste WHO-Studie aller Zeiten. Sie will 4 verschiedene Medikamente an Tausenden Menschen testen, die an Covid-19 erkrankt sind. Dabei verabreichen Ärzte den Probanden geprüfte Arzneistoffe, von denen sich die WHO-Expertengruppe eine Wirkung gegen Covid-19 erhofft. Die Untersuchung ist so aufgebaut, dass auch überlastete Spitäler ohne viel Aufwand daran teilnehmen können. Eine Kontrollgruppe – Probanden, die nur ein Placebo erhalten – ist nicht vorgesehen. Das ist äusserst untypisch für wissenschaftliche Studien. Die WHO argumentiert mit der Dringlichkeit: Es soll vielen Menschen so schnell wie möglich besser gehen.
Bleiben Sie lieber umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen
Ronja Beck, Oliver Fuchs, Seraina Kobler und Elia Blülle
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Der deutsche Rapper Danger Dan, Mitglied der legendären Hip-Hop-Posse Antilopen Gang, hat ein schön-schmerzhaftes Lied zum Coronavirus geschrieben. Es trägt den bezeichnenden Titel: Nudeln und Klopapier
PPPPS: Weil Tiere immer gut sind fürs Gemüt: Dackel Rolo hat sehr viel Freude, dass seine Besitzer aus dem britischen Essex wegen der Quarantäne nun so oft zu Hause sind. Und zwar so viel Freude, dass er sich, wie der Tierarzt feststellte, vom ständigen Schwanzwedeln den Schwanz gebrochen hat.