Binswanger

Die Biomacht

Wie ist es möglich, dass die ganze Welt über Nacht in den antiviralen Krieg zieht? Weil das politische Handeln nur noch im Dienst des nackten, biologischen Lebens steht.

Von Daniel Binswanger, 21.03.2020

Dass alles wie ein böser Traum wirkt, kommt nicht von der Geschwindigkeit, mit der die Dinge sich zuspitzen. Es kommt vom Zeitlupen­gefühl. Der Notstand ist da, und wir warten. Wir hangeln uns von Tag zu Tag, von Presse­konferenz zu Presse­konferenz, von Kurven­verlauf zu Kurven­verlauf. Unverändert exponentiell, mit Abflachung noch nicht zu rechnen. Die Frühlingstage ziehen sich dahin. Wie lange wird es dauern? Wir warten.

«Diese Situation ist ernst, und sie ist offen», sagte die deutsche Bundeskanzlerin in ihrer historischen Rede. Es scheint das Privileg der Menschheit im 21. Jahrhundert zu sein, auf Jahrhundert­katastrophen mit Wahrscheinlichkeits­prognosen zuzusteuern, die in Echtzeit aktualisiert werden. Solange ein Desaster als Risiko betrachtet werden kann – und sei es ein extremes –, ist es noch nicht eingetroffen. Für vernunftbegabte Wesen kann das nur bedeuten, dass sie alles Menschen­mögliche tun müssen, um auf das günstigste Szenario zuzusteuern: Stay the fuck home! Aber am Ende langer Tage mit Homeoffice und social distancing sollten wir uns eingestehen, in was für einem surrealen Schwebezustand wir uns befinden.

Es ist wohl dieser Schwebezustand, der die Profis der Deutung und Einordnung fürs Erste völlig perplex erscheinen lässt. Die grösste Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg – um noch einmal die Kanzlerin zu zitieren – dürfte unser Lebensgefühl, unsere Gesellschaft, unsere politischen Vorstellungen in einer Tiefe verändern, die gar nicht abzusehen ist. Wie wird die Welt aussehen, wenn die Corona-Krise einmal ausgestanden sein wird? Jedenfalls anders. In fernerer Zukunft könnte das sogar bedeuten: besser.

Ein Ort, an dem sich ein hilfreicher Ansatz finden lässt, um zu verstehen, was uns gerade widerfährt und wie es Politik und Gesellschaft transformieren könnte, ist das Werk von Michel Foucault. In seinen Vorlesungen von 1977 bis 1979 entwickelt er den Begriff der Biopolitik beziehungsweise der Biomacht. Nach der Jahrtausend­wende war das Konzept in aller Munde, in den letzten Jahren ist es wieder aus dem Fokus verschwunden. Es dürfte eine Renaissance erleben.

Der Kerngedanke der «Biopolitik» besteht darin, dass sich gemäss Foucault in der modernen Welt schon vor über 200 Jahren ein gänzlich neuer Begriff von Politik etabliert hat, der sich abhebt von den traditionellen Vorstellungen von Souveränität und Macht: «Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.»

Moderne Politik dreht sich im Grunde nicht um «Staatsräson», das heisst um die Kontrolle der Untertanen im Innern und um das Gleichgewicht im Verhältnis zu anderen Mächten gegen aussen. Noch viel weniger interessiert die Weisheit des jeweiligen Herrschers. Moderne Politik dreht sich um die Bevölkerung, den Volkskörper, die «Biomasse» der Bewohner – und darum, die Hygiene, Reproduktion und Produktivität dieses Volkskörpers zu garantieren.

Biopolitik kontrolliert die Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium, um ihr Humankapital freizusetzen. Der Souverän ist nicht mehr Herrscher über Leben und Tod. Er ist der Optimierer des biologischen Lebens. Im Normalfall ist die politische Ökonomie die Leitwissenschaft der Biopolitik. Im Ausnahme­zustand ist es die Epidemiologie.

Die aktuelle Krise ist eine fulminante Bestätigung von Foucaults Theorie: Sonst hätte es so schnell nicht gehen können. Sonst hätten nicht praktisch alle Länder dieses Globus in kürzester Zeit den Ausnahme­zustand erklären, die Wirtschaft lahmlegen, das öffentliche Leben stoppen können. Ohne dass es zu grossen Widerständen gekommen wäre, ohne dass jemand das ernsthaft infrage stellen würde.

Es ist ein bisschen, als hätte die Politik sich auf eine unbestrittene Grundfunktion zurückbesonnen. Über Nacht zieht die ganze Welt in den antiviralen Krieg – auch wenn sie keinen äusseren Feind hat. Das Handeln steht nur noch im Dienst des nackten, biologischen Lebens. Und ist in dieser Funktion zu erstaunlicher Kompromiss­losigkeit fähig.

Das Problem der Biomacht ist jedoch ihre Legitimierung durch eine Ideologie. Nach Foucault hat sie zwei weltanschauliche Innovationen in ihrem Arsenal: Zum einen ist sie die Grundlage des modernen Liberalismus – Liberalismus im weitesten Sinn verstanden. Er zielt ab auf eine Regierungs­technik, die nicht an Herrschaft interessiert ist, sondern an der Entwicklung des vorhandenen Potenzials. Er will das Leben optimieren, indem er es sich entfalten lässt.

Zum anderen ist die Biomacht die Antriebskraft hinter dem Rassismus: Was ist Rassismus, wenn nicht politisierte Biologie? Im Grunde ist er die Einführung einer politischen Freund-Feind-Unterscheidung auf der Ebene von Körpern und Genen. Warum nicht auch bei Resistenzen, Sterblichkeit und Übertragungspotenzial?

Die Biomacht kann ein Segen sein: die befreiende Disziplin der macht­technischen Selbstbegrenzung. Oder aber ein Albtraum: das totalitäre Ziel, die Körper selber zu beherrschen.

Welche Abzweigung werden wir jetzt nehmen? Bis anhin gibt es keine gravierenden Anzeichen, dass die Corona-Krise rassistisch verarbeitet wird – wenn wir einmal absehen von der Trump-Administration und ihrem Insistieren, dass das Virus chinesischen Ursprungs sei.

Aber die Möglichkeit steht im Raum. Wir sind erwacht in einer Welt der Zwangs­massnahmen und der Ausgangs­sperren. Wie werden wir die Notwendigkeit rechtfertigen, die Gesundheit der Bevölkerung als höchstes Gut zu verteidigen? Wir können unsere Werte geltend machen, den Schutz des Lebens und die Menschenrechte. Die harte Währung bleibt jedoch die Biologie. Das können wir nicht verhindern. Aber wir müssen einer liberalen Auffassung verpflichtet bleiben, was es bedeutet, Leben zu schützen.

Illustration: Alex Solman