Krieg gegen die Wahrheit
Warum die Wiederwahlkampagne von US-Präsident Donald Trump alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Die neue Dimension der Desinformation, Teil 2.
Von McKay Coppins (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Kelsey Dake (Illustration), 20.03.2020
Eines Nachmittags im März letzten Jahres. Ein Berater aus Trumps Lager mit engen Beziehungen zur Familie erwähnt bei einem Telefonat mit mir ganz beiläufig, einem Reporter von «Business Insider» stehe eine böse Überraschung bevor. Der fragliche Journalist – John Haltiwanger – habe mit einem seiner Tweets Donald Trump Jr. aufgebracht. Deshalb habe der Klüngel um den Präsidentensohn nach jemandem suchen lassen, der einen vernichtenden Artikel über ihn schrieb. Dieser Artikel, so liess der Berater durchblicken, würde die Glaubwürdigkeit des Reporters für immer zerstören.
Ich wusste nicht so recht, was ich von so viel diebischer Freude halten sollte; schliesslich neigen die Leute aus Präsident Trumps engerem Umfeld zur Vollmundigkeit. Aber einige Stunden später schickte mir der Berater einen Link zu einem Artikel auf «Breitbart News», der die Chronologie von Haltiwangers «masslosem Hass auf Trump» dokumentierte. Diese basierte auf einer Reihe von Instagram-Postings – alle aus der Zeit vor Haltiwangers Einstieg bei «Business Insider» –, in denen er sich über den Präsidenten lustig macht und seine Solidarität mit liberalen Demonstranten erklärt.
Am nächsten Morgen tweetete Don Jr. den Artikel an 3 Millionen Follower und beschimpfte Haltiwanger als einen «wild gewordenen Liberalen». Andere Konservative schlossen sich an, und der Reporter sah sich mit Beleidigungen und seine Arbeitgeber mit Entlassungsforderungen bombardiert. «Business Insider» räumte in einer Erklärung ein, die Postings «gehörten sich nicht». Haltiwanger behielt seinen Job zwar, bezeichnete die Erfahrung mir gegenüber später jedoch als «grotesk und beunruhigend».
Zu Teil 1: In der Welt der Lügen
Mit der Kampagne zur Wahl von US-Präsident Donald Trump wurde die bewusste Desinformation zur Strategie erhoben. Drahtzieher ist ein Mann, der es mit der Wahrheit selbst nicht so genau nimmt: Brad Parscale. Hier geht es zu Teil 1.
Der Junior twittert wie der Senior
Der «Breitbart»-Artikel war Teil einer konzertierten Aktion von Trump-Alliierten, die darauf abzielte, peinliche Informationen über kritische Journalisten ans Licht zu bringen. Die «New York Times» berichtete vorigen Sommer als Erste über das Projekt; seither hat man es mir gegenüber noch detaillierter beschrieben. Gemäss Insidern mit intimen Kenntnissen von diesen Anstrengungen haben Trump-freundliche Handlanger die Social-Media-Accounts Hunderter politischer Journalisten durchforstet und Posts aus vielen Jahren zu einem Dossier zusammengestellt.
Wenn ihm ein Artikel dem Präsidenten gegenüber besonders unfair – oder politisch abträglich – erscheint, stellt Don Jr. ihn in einen eigens zu diesem Zweck eingerichteten Text-Thread. Im Augenblick, in dem ein Artikel zum Angriff freigegeben ist, durchsucht jemand das Dossier nach Material über den betreffenden Journalisten. Taucht etwas Nützliches auf – ein problematischer alter Witz etwa oder Hinweise auf liberale politische Ansichten –, macht Redaktor Matthew Boyle daraus eine «Breitbart»-Schlagzeile, die dann von Offiziellen aus dem Weissen Haus und im Namen von Trumps agierender Wahlkampfmaschine über die sozialen Netzwerke geteilt wird. (Das Weisse Haus bestreitet jede Beteiligung.)
Die Beschreibungen dieses Dossiers fallen unterschiedlich aus. Einer Quelle zufolge habe man einen Programmierer in Indien angeheuert, daraus eine durchsuchbare Datenbank zu machen, sodass Posts mit anstössigen Schlüsselwörtern leichter zu finden seien. Gemäss einer anderen Quelle habe man das Dossier auf mindestens 2000 Leute ausgeweitet, darunter nicht nur Journalisten, sondern auch profilierte Akademiker, Politiker, Prominente und andere potenzielle Gegner Trumps. Einiges davon mag übertrieben, um nicht zu sagen reine Angeberei sein – Tatsache ist jedoch, dass das Unterfangen Früchte getragen hat.
Information als Waffe
Im vergangenen Jahr haben involvierte Handlanger Jagd auf Journalisten von CNN, «Washington Post» und «New York Times» gemacht. So enthüllten sie, dass ein Reporter am College das Wort «Schwuchtel» (fag) benutzt und ein anderer vor zehn Jahren antisemitische und rassistische Witze gepostet hatte. Diese Enthüllungen mögen an sich keine Karrierekiller sein, aber dem Projekt nahestehenden Leuten zufolge sei die Veröffentlichung weiterer einschlägiger Fundsachen im Verlauf der Kampagne geplant. «Das ist ziemlich innovativ», sagte Mike Cernovich, ein Aktivist vom rechten Flügel mit einer Vergangenheit als Troll. «Sie haben sich damit die Call-out-Kultur zu eigen gemacht.» (Damit wird gezielte Demütigung von Personen in sozialen Netzwerken bezeichnet.)
Bemerkenswert an diesem Unterfangen ist nicht etwa, dass es auf die Blossstellung einseitiger Medien abzielt. Konservative klagen – und das durchaus nicht immer zu Unrecht – seit Jahrzehnten über eine liberale Tendenz bei der Presse. In der Ära Trump jedoch kam es zu einer nicht unbedeutenden Verlagerung des Akzents: Statt die Presse reformieren zu wollen oder ihre Berichterstattung zu kritisieren, sind die konservativen Galionsfiguren heute auf die völlige Vernichtung etablierter Medien aus. «Die journalistische Integrität ist tot», erklärte «Breitbart»-Redaktor Boyle 2017 in einer Rede vor der Heritage Foundation. «So etwas gibts nicht mehr. Entsprechend geht es nur noch darum, die Information zur Waffe zu machen.»
Er redet damit einem Lehrstück das Wort, das man sich bei Demagogen aus aller Welt abgeschaut hat: Ist erst einmal die Presse als Institution geschwächt, wird der sachliche und faktische Journalismus zum blossen Tropfen in der täglichen Content-Flut – nicht glaubwürdiger oder unglaubwürdiger als jede parteiische Propaganda. Dieser Relativismus ist das wahre Ziel der Attacke, die Trump gegen die Presse führt, und je mehr «Volksfeinde» seine Verbündeten dabei ausschalten können, desto besser. «Ein Kulturkrieg ist ein Krieg», sagte Steve Bannon vergangenes Jahr der «Times». «In einem Krieg gibt es Opfer.»
Die Einstellung durchdringt auch Trumps Anhängerschaft an der Basis. Teilnehmer von Kundgebungen tragen T-Shirts mit der Aufschrift «rope. tree. journalist.» (Seil. Baum. Journalist.), darunter ein Hinweis, den man sonst auf Bausätzen liest: «Leichte Montage erforderlich».
Einer Umfrage von CBS News/YouGov zufolge trauen gerade mal 11 Prozent der überzeugten Trump-Anhänger den etablierten Medien, während sich 91 Prozent an den Präsidenten halten, wenn ihnen nach einer «genauen Information» ist. Diese Dynamik macht es der Presse nahezu unmöglich, den Präsidenten zur Verantwortung zu ziehen – was Trump sehr wohl verstanden zu haben scheint. «Denken Sie daran», sagte er 2018 seinem Publikum, «was Sie sehen und was Sie lesen, ist nicht das, was passiert.»
Bryan Lanza, der 2016 für Trumps Kampagne tätig war und das Weisse Haus noch heute vertritt, sagte mir unumwunden, er schliesse die Möglichkeit aus, dass Amerika sich je auf eine gemeinsame Faktenbasis einigen könne. Nicht dass das sein Ziel wäre. «Unser Job besteht darin, unser Narrativ lauter zu verkaufen als die Medien», sagte Lanza. «Die vertreten eindeutig eine liberal-sozialistische Position, wir werden also nie konform gehen. So geht der Krieg eben weiter.»
Das Vertrauen in die Medien aushöhlen
Wie Brad Parscale, der Leiter von Trumps Wiederwahlkampagne, durchblicken liess, plant er in diesem Krieg eine neue Front: die Lokalnachrichten. Vergangenes Jahr kündigte er an, «Schwärme von Mitarbeitern» auszubilden, um jede negative Berichterstattung lokaler TV-Stationen und Zeitungen zu unterminieren. Umfragen zeigen seit langem, dass die Amerikaner über das ganze politische Spektrum hinweg grösseres Vertrauen zu Lokalnachrichten als zu landesweiten Medien haben.
Wenn es nach dem Willen der Kampagne geht, dann ist dieses Vertrauen spätestens im November ausgehöhlt. «Wir können das sogar pushen und mit den Lokalblättern kämpfen», sagte Parscale einigen Spendern in einer von der «Palm Beach Post» zur Verfügung gestellten Tonaufnahme. «Wir kämpfen damit nicht nur auf Fox News, CNN und MSNBC mit immer denselben 700’000 Zuschauern jeden Tag.»
Parallel zu diesen Anstrengungen experimentiert der eine oder andere Konservative mit einer Masche, mit der man den Glaubwürdigkeitsbonus des lokalen Journalismus für sich einspannen will. Im Verlauf der vergangenen paar Jahre sind im Web Hunderte von Websites mit harmlosen Namen wie «Arizona Monitor» und «Kalamazoo Times» aufgetaucht. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie ganz reguläre Publikationen, bis hin zu Kommunalmeldungen und Berichten aus den Schulen.
Schaut man jedoch genauer hin, so stellt man fest, dass sie oft kein Impressum haben, selten, wenn überhaupt, Autoren nennen und keine Adressen für eine Redaktion am Ort. Bei vielen dieser Websites handelt es sich um Organe republikanischer Lobbygruppen; andere gehören zu einer mysteriösen Firma namens Locality Labs, die von einem konservativen Aktivisten in Illinois geleitet wird. Leser sehen keinerlei Hinweise darauf, dass diese Sites ein politisches Süppchen kochen, und genau das ist es, was sie so wertvoll macht.
Gemäss einem alten Strategen können Kandidaten gegen Bezahlung auf solchen potemkinschen Newssites negative Storys über Opponenten platzieren und so die gewünschte Schlagzeile gepostet sehen. Dadurch, dass derlei über eine unbeteiligte Beraterfirma abgewickelt wird, können die Kandidaten, anstatt die Websites direkt zu bezahlen, bei ihren Angaben der Bundeswahlkommission gegenüber ihre Verwicklung in diese Masche kaschieren. Und selbst wenn diese Storys keine kundigen Leser aufs Glatteis zu führen vermögen, die Schlagzeilen wirken überzeugend genug, um sie in ein Wahlkampfvideo zu schmuggeln oder in Spenden-E-Mails.
Digitale schmutzige Tricks
Kurz nach Schliessung der Wahllokale bei der Gouverneurswahl in Kentucky vergangenen November verkündete ein anonymer Twitter-User namens @Overlordkraken1 seinen neunzehn Followern, er habe in Louisville «gerade einen Karton republikanischer Briefwahlzettel geschreddert».
Es gab keinen triftigen Grund, diese Behauptung ernst zu nehmen, und viele Gründe, sie zu bezweifeln (schon allein weil im Standort-Tag Louisville ohne «s» geschrieben war). Aber das Rennen war knapp, und als der amtierende Gouverneur Matt Bevin bei der Gesamtstimmenzahl zurückzufallen begann, machten sich Schwärme von Twitter-Bots an die Verbreitung der Behauptung, es gehe bei der Wahl nicht mit rechten Dingen zu.
Twitter entfernte den ursprünglichen Tweet zwar, aber bis dahin hatten sich längst Tausende von automatischen Accounts unter dem Hashtag #StoptheSteal mit der Verbreitung von Screenshots davongemacht. Beliebte Internetprominenz vom rechten Flügel griff das Narrativ auf, und es dauerte nicht lange, da wurden auch aus dem Lager des republikanischen Kandidaten Vorwürfe wegen nicht näher genannter «Unregelmässigkeiten» laut. Als man den Sieg dann seinem Gegner zusprach, wollte der Gouverneur sich nicht geschlagen geben und verlangte eine staatsweite Nachzählung der Stimmen. (Es fand sich kein Hinweis darauf, dass Stimmzettel geschreddert wurden, und neun Tage später gestand der Republikaner seine Niederlage schliesslich ein.)
Die Desinformationskampagne in der Wahlnacht trug alle Anzeichen ausländischer Einflussnahme. Schon 2016 hatten russische Trolle auf ähnliche Weise den amerikanischen politischen Diskurs zu vergiften versucht – indem sie sich als Aktivisten von Black Lives Matter ausgaben, um den Rassenzwist zu schüren und Öl ins Feuer Trump-freundlicher Verschwörungstheorien zu giessen. (Sie benutzten sogar Facebook, um Kundgebungen zu organisieren, darunter eine von muslimischen Anhängern Hillary Clintons in der Bundeshauptstadt, wo sie dann dafür sorgten, dass jemand ein Schild herumtrug mit einem angeblichen, aber frei erfundenen Zitat der Kandidatin: «Meiner Ansicht nach wird die Scharia der Freiheit eine starke neue Richtung geben.»)
Als jedoch Leute von Twitter sich die Aktivitäten um die Wahl in Kentucky näher ansahen, kamen sie zu dem Schluss, dass die Bots grösstenteils aus Amerika kamen – ein Zeichen dafür, dass die heimischen politischen Aktivisten die Taktiken russischer Trolle nachzuahmen lernten.
Selbstverständlich sind schmutzige Tricks in der amerikanischen Politik nichts Neues. Von Lee Atwater, dem Strategen von Reagan und Bush senior, und Roger Stone, Berater der Trump-Kampagne, bis zurück zur korrupten Parteimaschine der Chicagoer Demokraten um die vorige Jahrhundertwende – die Geschichte halbseidener politischer Handlanger, die Schmierkampagnen gegen ihre Gegner führen und Wahlen manipulieren, ist lang.
Samuel Woolley, ein mit digitaler Propaganda beschäftigter Wissenschaftler, sagt, dass der erste dokumentierte Einsatz politischer Twitter-Bots in den USA stattgefunden habe. 2010 richtete eine konservative Gruppe aus Iowa ein kleines Netz automatischer Accounts mit Namen wie @BrianD82 ein, die das Gerücht streuen sollten, die demokratische Kandidatin für den Senat von Massachusetts Martha Coakley hätte etwas gegen Katholiken.
Seither hat man die Taktiken des Twitter-Kriegs erheblich verfeinert, da Regimes rund um den Globus mit neuen Möglichkeiten zum Einsatz ihrer Cybermilizen experimentierten. In Mexiko hatten Anhänger des damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto Fake-Accounts eingerichtet, um unter dem Deckmantel von Regimegegnern die Oppositionsbewegung zu sabotieren. In Aserbeidschan führte eine regierungsfreundliche Jugendgruppe eine koordinierte Zermürbungskampagne gegen Journalisten, indem sie deren Twitter-Accounts mit expliziten Drohungen und Beleidigungen überschwemmte.
Erweisen sich solche Techniken als erfolgreich, so sagte mir Woolley, dann verbessern die Amerikaner sie. «Man könnte fast sagen, es herrsche eine Art Austausch zwischen den autoritären Regimes der Entwicklungsländer und dem Westen», sagt er.
Trumps Wahlkampfleiter Parscale bestreitet, dass die Kampagne Bots einsetzt; in einem Interview mit «60 Minutes» sagte er: «Ich glaube nicht, dass sie funktionieren.» Womit er recht haben könnte – es ist eher unwahrscheinlich, dass ein nebulöses Netz von Trollen und Bots eine landesweite Wahl entscheiden kann. Aber sie können durchaus ihren Sinn haben. Sie können einen falschen Konsens stimulieren, seriöse Debatten stören und Leute zum Rückzug aus der öffentlichen Diskussion bewegen.
Einer Studie zufolge waren während einer fünfwöchigen Periode 2016 Bots für etwa 20 Prozent aller Tweets zu den Wahlen in diesem Jahr verantwortlich. Und Twitter ist bereits verseucht mit Bots, deren Design darauf abzuzielen scheint, Trumps Chance für die Wiederwahl zu erhöhen. Ungeachtet ihrer Herkunft haben sie ein ungeheures Potenzial, die Wähler zu spalten, zu radikalisieren und einen Hass zu schüren, der noch lange über die Wahl hinaus anhalten wird.
Rob Flaherty, digitaler Direktor für die Präsidentschaftskampagne von Beto O’Rourke, sagt, Twitter sei 2020 eine «Spiegelgalerie». Er erzählt, dass ein mysteriöser Twitter-Account ein virales Gerücht ausgelöst habe, laut dem der Todesschütze, der vergangenen Sommer im texanischen Odessa sieben Leute tötete, einen «Beto»-Sticker auf seinem Auto gehabt haben soll. Ein anderer Account, der sich als Anhänger O’Rourkes ausgab, verbreitete rassistische Beleidigungen gegen einen Journalisten. Einige dieser Taktiken erinnerten an 2016, als russische Agitatoren unter dem Deckmantel, Anhänger von Bernie Sanders zu sein, Zorn gegen Hillary Clinton schürten.
Flaherty sagte, er habe keine Ahnung, wer hinter den Attacken gegen O’Rourke stecke, und ausserdem sei der Kandidat ausgestiegen, bevor er überhaupt ins Gewicht fallen konnte. «Aber wenn man sich das Umfeld ansieht», sagte er mir, «kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass da jemand seine Spielchen treibt.» Flaherty ist seither zu Joe Bidens Kampagne gestossen, wo man mit ähnlichen Verzerrungen zu tun hat: Vergangenes Jahr tauchte eine Website auf, die Bidens offizieller Wahlkampfsite aufs Haar gleicht. Sie hob einige Elemente der Geschichte des Kandidaten als Senator hervor, die dazu angetan waren, ihm bei den demokratischen Vorwahlen zu schaden – so etwa seine Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe und seine Befürwortung des Kriegs im Irak; ausserdem zeigte man Videoclips von einigen seiner peinlicheren Begegnungen mit Frauen. Die Website entwickelte sich rasch zu einer der meistbesuchten Sites zum Thema Biden. Designt hatte sie ein Berater von Trump.
Feuer mit Feuer
Während die Maschine zur Wiederwahl des Präsidenten Fahrt aufnimmt, debattiert man bei den Demokraten eine dringende Frage: Können sie die Trump-Koalition besiegen, ohne deren Taktiken zu übernehmen?
Auf der einen Seite dieses Arguments steht Dmitri Mehlhorn, ein Berater, der für seine Bereitschaft berüchtigt ist, mit digitalen Tricks zu arbeiten. Während der Nachwahl 2017 in Alabama half Mehlhorn bei der Finanzierung von mindestens zwei Operationen unter falscher Flagge gegen den republikanischen Senatskandidaten Roy Moore. Eine davon liess den Twitter-Account des Kandidaten von zwei angeblich russischen Bots überwachen, um den Eindruck zu erwecken, Moore würde vom Kreml gestützt. Eine andere, eine Social-Media-Kampagne mit dem Codenamen «Dry Alabama», zielte darauf ab, Moore mit einer Gruppe fiktiver baptistischer Abstinenzler in Verbindung zu bringen, die auf ein Alkoholverbot aus waren. (Mehlhorn behauptet, von den pseudorussischen Bots nichts gewusst zu haben und den Einsatz von Desinformation in keiner Weise zu befürworten.)
Als die «New York Times» den Plan aufdeckte, führte der demokratische Politiker Matt Osborne ins Feld, die Demokraten hätten keine andere Wahl, als sich solcher skrupelloser Methoden zu bedienen. «Wenn man das nicht macht, kämpft man mit einer Hand auf dem Rücken», sagte Osborne. «Man ist dazu moralisch verpflichtet – verpflichtet zu tun, was immer nötig ist.»
Andere dagegen sind der Meinung, dies sei der denkbar ungünstigste Augenblick für die Demokraten, Ideale wie Ehrlichkeit und Fairness über Bord zu werfen. «Ich kann es mit meinen Werten schlicht nicht vereinbaren, mir irgendeinen Scheiss aus den Fingern zu saugen und Wähler zu prellen», sagt Flaherty. «Ich weiss, wir haben da die Feuer-mit-Feuer-Fraktion, aber fragt man sie, was sie damit meine, dann heisst es: ‹Lügen Sie!›» Wie darüber hinaus einige anmerken, habe ihnen der Präsident genügend Munition geliefert. «Ich glaube nicht, dass die Kampagne der Demokraten gross was über Trump erfinden muss», sagt Judd Legum, Autor eines Newsletters zum Thema digitale Politik. «Sie können sich an die Wahrheit halten.»
Eine Demokratin, die eine Brücke zwischen beiden Lagern schlägt, ist eine junge technologisch gebildete Strategin namens Tara McGowan. Letzten Herbst startete sie mit dem ehemaligen Obama-Berater David Plouffe ein Komitee, das 75 Millionen Dollar in Online-Attacken gegen Trump zu investieren versprach. Zu der Zeit schaltete die Kampagne des Präsidenten mehr Anzeigen auf Facebook und Google als die vier Topkandidaten der Demokraten zusammen. Zu McGowans Plänen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, gehörten Anzeigekampagnen dieser Art, aber ihr schwebten darüber hinaus auch kreativere – und kontroversere – Massnahmen vor.
So hatte sie zum Beispiel eine Medienorganisation mit einem Stab von Autoren aufgezogen, die linkslastige «Lokalnachrichten» produzierten, mit denen sich dann per Microtargeting überzeugbare Wähler ansprechen liessen, ohne dass jemand auf die Idee käme, eine politische Gruppe hätte dafür bezahlt. Auch wenn McGowan betont, dass sich die Berichterstattung in jedem Fall an die Fakten zu halten habe, ist nicht allen so ganz wohl bei dieser Übernahme der Taktiken des rechten Flügels.
Als ich mit McGowan sprach, machte sie kein Hehl aus ihrer Bereitschaft, weiter zu gehen, als empfindlicheren Demokraten lieb sein mag. Sie persönlich findet die «Super Predator»-Anzeigen, mit denen Trump 2016 schwarze Wähler vom Urnengang abzuhalten versuchte, durchaus «in Ordnung», schliesslich basierten sie auf Tatsachen. (Clinton hatte 1996 tatsächlich die Mitglieder schwarzer Gangs als «Super-Raubtiere» bezeichnet.) Warum sollte man im Falle der Konservativen nicht einen ähnlichen Weg gehen? McGowan schloss zwar aus, den Republikanern irreführende Informationen darüber zuzuspielen, wo und wann sie zu wählen hätten – eine Taktik, die Mehlhorn in Betracht gezogen hatte, was er jedoch später als Scherz abtat –, aber sie schloss keine Strategie aus, solange sie «im gesetzlichen Rahmen» bleiben würde.
«Wir befinden uns inmitten eines radikalen Umbruchs», sagt McGowan. «Wir haben einen Präsidenten, der jeden Tag ungeniert lügt … Meiner Ansicht nach wird Trump diese Wahl mit allen Mitteln zu gewinnen versuchen. Dazu wird er sich für keine Gemeinheit zu schade sein.»
Besonders deutlich wurde diese innere Spaltung der Partei, als die Behörden vergangenes Jahr das Democratic National Committee drängten, dem Einsatz von Bots, Trollfarmen und Deepfakes abzuschwören. (Bei Letzteren handelt es sich um digital manipulierte Videos, mittels deren man eine Person praktisch tun oder sagen lassen kann, was man will.) Befürworter des Versprechens sahen darin eine Möglichkeit, die Werte ihrer Partei denen der Republikaner gegenüberzustellen. Aber nach monatelangem Lobbying lehnte das Democratic National Committee ein solches Versprechen ab.
Inzwischen sehen sich Fachleute in ihrer Sorge um die Desinformation im eigenen Land im Ausland nach Anschauungsbeispielen um. Das beste einschlägige Beispiel aus jüngster Zeit dürfte Indonesien sein, wo man hart durchzugreifen begann, nachdem eine Welle viraler Lügen und Verschwörungstheorien kompromissloser Islamisten 2016 zur Niederlage eines beliebten christlich-chinesischen Gouverneurskandidaten geführt hatte.
Um vergangenes Jahr eine ähnliche Störung der Präsidentschaftswahlen zu verhindern, taten sich Journalisten aus über einem Dutzend der grössten indonesischen Zeitungen, Sender und Agenturen zusammen, um Fakes zu entlarven, bevor sie online Schaden anrichten können. Aber sosehr sich das nach einem vielversprechenden Modell anhören mag, es geht dabei nicht ohne aggressive staatliche Anstrengungen, Verbreiter von Fake News zu überwachen und einzusperren – ein Ansatz, der dem in der US-Verfassung garantierten Recht auf Redefreiheit zuwiderliefe.
Richard Stengel bekämpfte als Staatssekretär für Öffentliche Diplomatie unter Präsident Obama fast drei Jahre lang die digitale Propaganda Russlands und des Islamischen Staats. Er sei mit der Überzeugung aus dem Amt ausgeschieden, sagt er, dass die Desinformation so lange wuchern würde, bis sich die grossen Tech-Unternehmen gezwungen sähen, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Stengel hat eine Änderung des Communications Decency Act von 1996 vorgeschlagen, ein Gesetz, das Online-Plattformen von der Verantwortung für die auf ihnen von Dritten geposteten Messages freistellt. Unternehmen wie Facebook und Twitter, so glaubt er, sollten gesetzlich in die Pflicht genommen werden, ihre Plattformen auf Desinformation und Trolle zu kontrollieren. «Das wird das Problem zwar nicht gänzlich lösen, aber etwas gegen das Ausmass tun.»
Es ist hier noch eine andere Fallstudie zu erwähnen. Während der ukrainischen Revolution 2014 stellten prodemokratische Aktivisten fest, sie könnten einem Gutteil der falschen Informationen über ihre Bewegung die Zähne ziehen, indem sie deren russische Herkunft aufzeigten. Diese Art von Transparenz habe freilich ihren Preis, merkt Stengel an. Mit der Zeit könne dieses ständige Auf-der-Hut-Sein vor der Propaganda zur Paranoia werden. Es sei bekannt, dass russische Akteure solche Ängste durch die gezielte Streuung von Gerüchten über ihre eigene Effizienz ganz bewusst schürten. Unter dem Strich richte so die blosse Angst vor versteckter Propaganda denselben Schaden an wie die Propaganda selbst.
Hat man die Möglichkeit, von einer unsichtbaren Hand manipuliert zu werden, erst einmal internalisiert, ist nichts und niemandem mehr zu trauen. Jeder Andersdenkende auf Twitter wird zum russischen Bot, jede unbequeme Schlagzeile zur falschen Flagge, jede politische Entwicklung Teil einer immer umfassenderen Verschwörung. Und wenn das Informationsökosystem endlich unter der Last von so viel Zynismus zusammenbricht, ist man viel zu sehr damit beschäftigt, auf der Hut zu sein, um zu kapieren, dass die «Desinformationisten» gewonnen haben.
Die Macht des Amts
Wenn es etwas gibt, das man Brad Parscale nicht absprechen kann, dann dass er ein strenges Regiment führt. Selten kommt es in der Kampagne zu inoffiziellen Leaks; Presseberichte über Palastkabalen sind praktisch unbekannt. Als der Stab vergangenes Jahr in ein neues Büro umzog, lud man die Journalisten regelmässig zu Führungen durch die Anlage ein – eine Praxis, der Parscale ein Ende gemacht hat. Er wollte nicht, dass jemand auch nur einen Zettel zu sehen bekam, auch nur ein Wort auf einem Whiteboard, das nicht für ihn bestimmt war.
Es fällt auf, dass das Wahlkampfteam seit Parscales Übernahme im Gegensatz zum schier endlosen Personalreigen im Weissen Haus so etwas wie Fluktuation kaum kennt. Und seine eigene Ausdauer ist einer der Gründe, aus denen viele Republikaner – innerhalb und ausserhalb der Organisation – sich nur ungern offiziell über ihn äussern. Unter Verbündeten des Präsidenten jedoch scheint sich eine gewisse Skepsis auszubreiten.
Ehemalige Kollegen begannen bei Parscale nach seiner Beförderung eine Veränderung festzustellen. Mit einem Mal trug der stille Typ, den man nur mit dem Laptop vor dem Gesicht kannte, Designeranzüge, warf auf Wahlveranstaltungen mit «Make America Great Again»-Caps um sich und flog nach Europa, um auf einer Konferenz über Politmarketing zu referieren. In den vergangenen Jahren hat sich Parscale einen BMW zugelegt, einen Range Rover, eine Eigentumswohnung und – für 2,4 Millionen Dollar – ein Haus in Fort Lauderdale, Florida, direkt am Meer. «Er weiss, dass er das Vertrauen der Familie hat», sagt einer seiner ehemaligen Kollegen, «was ihn ganz anders auftreten lässt.» Als die britische «Daily Mail» einen Artikel über seine Ausgabenfreudigkeit publizierte, versuchte er mit einer Schmeichelei abzuwiegeln. «Der Präsident ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann», sagte er dem Blatt, «und die langjährige Verbindung mit ihm war für meine Familie ausgesprochen vorteilhaft.»
Einem ehemaligen Mitarbeiter aus dem Weissen Haus zufolge mit Kenntnis von diesem Vorfall war Trump jedoch ziemlich irritiert über den Artikel, sorgte er doch für den Eindruck, sein Wahlkampfmanager würde durch ihn reich. Einen Augenblick schien Parscales Stellung in Gefahr, aber dann wurde Trump vom G-7-Gipfel in Frankreich abgelenkt und kam nicht mehr auf das Thema zurück. (Ein Sprecher der Kampagne weist diese Darstellung entschieden zurück.)
So einigen Republikanern bereitet Sorge, dass es Parscale, bei all seiner Sachkenntnis, an der Vision zur Leitung von Trumps Wiederwahlkampagne mangle. Die Beliebtheit des Präsidenten ist auf einen historischen Tiefstand gesunken, und selbst in republikanischen Staaten hat er Mühe, bei Nachwahlen seine Basis zu mobilisieren. Ob aber Parscale, falls Trumps Botschaft bei seinen Wählern tatsächlich schal geworden sein sollte, der richtige Mann für eine Runderneuerung ist? «Man beginnt Fragen zu stellen», sagte mir ein ehemaliger Mitarbeiter der Kampagne, «ihr baut da diesen Apparat auf, schön, aber wo ist das übergreifende Narrativ?»
Aber ob Trump nun ein neues Narrativ findet oder nicht, er hat in dieser Runde etwas, was er 2016 noch nicht gehabt hat – die Macht seines Amts. Während noch jeder Oberbefehlshaber des US-Militärs nach Mitteln und Wegen gesucht hat, seine Amtsmacht für die Wiederwahl einzusetzen, hat Trump seine Bereitschaft gezeigt, hier weiter zu gehen als die meisten anderen in seiner Position. Im Vorfeld der Zwischenwahlen 2018 nahm er Berichte über einen Migrantenzug aus Mittelamerika zum Anlass für die Behauptung, der Südgrenze der USA stünde eine Sicherheitskrise von nationaler Bedeutung bevor. Er warnte vor einer drohenden «Invasion» und behauptete, ohne den Hauch eines Belegs vorzulegen, die Karawane sei von Gangmitgliedern infiltriert.
Parscale unterstützte diese Bemühungen mit einem halbminütigen Werbespot, in dem er Aufnahmen von hispanischen Migranten mit Clips eines verurteilten Polizistenmörders verschnitt. Der Spot endete mit einem dringenden Aufruf zum Handeln: «Stoppt die Karawane! Wählt republikanisch!»
Und in einem letzten Manöver kurz vor der Wahl stellte Trump Truppen an die Grenze ab. Der Präsident bestand auf der Notwendigkeit der Operation – um Amerikas Sicherheit zu gewährleisten. Binnen weniger Wochen zog man die Truppen wieder ab, da die «Krise» sich offensichtlich erledigt hatte, nachdem die Stimmen abgegeben waren. Skeptiker fragten sich: Wenn Trump bereit ist, die Grenze zu militarisieren, nur um ein paar Sitze mehr im Kongress zu bekommen, was werden er und seine Anhänger tun, wenn es um seine Wiederwahl geht?
Es braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich ein Worst-Case-Szenario auszumalen.
Am Wahltag weisen anonyme Textnachrichten den Wählern den Weg zu fiktiven Wahllokalen oder streuen womöglich sogar Gerüchte über Sicherheitsrisiken. Video-Fakes des demokratischen Kandidaten mit rassistischen Bemerkungen tauchen schneller auf, als Social-Media-Plattformen sie entfernen können. Noch während Zeitungen und Nachrichtensender die Falschmeldungen zu korrigieren versuchen, reagieren Horden von Twitter-Bots mit Schmutz- und Drohkampagnen gegen die Reporter. Derweilen hat die Trump-Kampagne zum Endspurt des Wahlkampfs eine derartige Menge an Anzeigen in eine Plattform wie Facebook gepumpt, dass schlicht nicht mehr nachzuverfolgen ist, was sie da in den Blutkreislauf injiziert.
Nach der ersten Runde der Wählerbefragung unmittelbar nach der Stimmabgabe zeigt ein Video mysteriöser Provenienz illegale Zuwanderer an einer Wahlurne. Trump beginnt mit dem Retweeting von Gerüchten über Wahlbetrug und schickt Beamte des Immigration and Customs Enforcement in die Wahllokale. «Stehlen Illegale die Wahl?», lautet die Bauchbinde bei Fox News. «Stecken Russen hinter falschen Videos?», fragt man bei MSNBC.
Die Stimmen sind noch nicht mal ausgezählt, da ist ein Gutteil der Nation schon dabei, das Ergebnis zu verwerfen.
Nichts ist wahr
Was die Desinformationskultur in Amerika bereits jetzt angerichtet hat, zeigt sich nirgendwo besser als auf einer Wahlveranstaltung Donald Trumps. Eines Abends im November bahnte ich mir auf einem Parkplatz in Tupelo, Mississippi, einen Weg durch ein Labyrinth von Klapptischen mit «Make America Great Again»-Merchandising in die BancorpSouth Arena. Bis zur Wahl war noch ein geschlagenes Jahr hin, und dennoch hatten sich Tausende von Anhängern mit ihren Schildern in die Arena gedrängt, um dem Präsidenten persönlich zuzujubeln.
Kaum war Trump auf der Bühne, liess er den üblichen Schwall von Lügen, Halbwahrheiten, Übertreibungen und Unsinn vom Stapel. Er spann sein revisionistisches Garn vom Ukraine-Skandal – in dem Joe Biden der Schurke ist –, behauptete fälschlicherweise, Stacey Abrams, die Demokratin aus Georgia, wolle «illegalen Ausländern das Wahlrecht geben». Im Verlauf einer improvisierten Antiabtreibungstirade behauptete er ganz beiläufig, «der Gouverneur von Virginia hat ein Baby exekutiert» – was eine Frau aus dem Publikum mit «Mörder!» quittiert.
Die verhetzende Lüge schien meinen Kollegen in der Pressebox nicht mal aufzufallen; sie waren viel zu beschäftigt mit ihren Artikeln und dem Aufnehmen von Hintergrundmaterial. Ich ging auf Twitter und erwartete, einen Sturm von Faktenchecks mit Richtigstellungen zu finden – dass der Gouverneur lediglich eine hypothetische Frage zur Spätabtreibung beantwortet, dass das im ganzen Land einen Aufschrei verursacht hätte, dass seine Bemerkungen mehr als eine Deutung zuliessen, aber dass doch wohl selbst der glühendste Abtreibungsgegner nicht auf den Gedanken gekommen sei, der Gouverneur von Virginia hätte persönlich «ein Baby exekutiert».
Aber auf Twitter herrschte ungewöhnliche Stille (offensichtlich hatte der Präsident das bereits schon mal behauptet). Und der Tweet mit der grössten Verbreitung zum Thema kam von seiner eigenen Kampagne und untermauerte Trumps Anwurf mit einem kontextfreien Clip mit Bemerkungen des Gouverneurs zum Thema Abtreibung.
Nach der Kundgebung sprach ich an einem der Ausgänge Leute an. Unter Liberalen herrscht die tröstliche Vorstellung von Trump-Wählern als einfältigen Anhängern eines Persönlichkeitskults, die unter einer Art Hypnose alles glauben, was ihnen ihr Führer sagt. Die Verlockung dieser Theorie besteht in der Annahme, dass der Bann zu brechen sei, dass die Wahrheit nach wie vor über die Lüge triumphieren und dass man eines Tages wieder zur Normalität zurückkehren könne – man brauche nur die Wähler mit den Fakten zu konfrontieren. Aber für die Leute, mit denen ich in Tupelo sprach, schienen Fakten nicht wirklich eine Rolle zu spielen.
Eine Frau sagte mir, angesichts der Leistungen des Präsidenten störe sie die eine oder andere «kleine Flunkerei» nicht; ein Mann antwortete mir auf meine Fragen nach Trumps unredlichen Angriffen auf die Presse mit einem Achselzucken und dem Vorschlag, die Medien sollten «es vielleicht hier und da mit der Wahrheit versuchen». Tony Willnow, ein 34-jähriger Wartungstechniker, der ein Sternenbanner um den Kopf gewickelt hatte, sagte mir, Trump habe gewonnen, weil er sage, was sonst kein Politiker sagen würde. Als ich fragte, ob es denn keine Rolle spiele, ob das, was er sage, auch wahr sei, überlegte er einen Augenblick, bevor er antwortete: «Er sagt einem, was man hören will. Ob das im Einzelnen stimmt oder nicht, weiss ich nicht, aber es hört sich gut an, also scheiss drauf.»
Die Politologin Hannah Arendt schrieb einmal, die erfolgreichsten totalitären Führer des 20. Jahrhunderts hätten bei ihren Anhängern für eine Mischung aus «Leichtgläubigkeit und Zynismus» gesorgt. Wurden sie belogen, entschieden sie sich dafür, die Lüge zu glauben. Sahen sie eine Lüge entlarvt, behaupteten sie, diese von vornherein durchschaut zu haben, und bewunderten ihre Führer, «die so souverän andere Leute an der Nase herumzuführen verstünden» – mit anderen Worten: für ihr geschicktes Taktieren. Mit der Zeit, so schrieb Arendt, konditionierte die ständige Propaganda die Leute, «jederzeit jegliches und gar nichts zu glauben in der Überzeugung, dass schlechterdings alles möglich sei und nichts wahr».
Die Kundgebung hinter mir zurücklassend, dachte ich nach über Hannah Arendt und die weiten Teile der amerikanischen Bevölkerung, die bereits erfasst worden sind von der von ihr beschriebenen Haltung. Sollte diese 2020 die Oberhand behalten, liegt das Erbe dieser Wahl auf der Hand – es handelt sich hier nicht um eine Entscheidung zwischen Parteien, Kandidaten oder politischen Plattformen, wir stehen hier vor einem Volksentscheid über die Realität an sich.
Dieser Beitrag erschien am 10. Februar 2020 unter dem Titel «The Billion-Dollar Disinformation Campaign to Reelect the President» im Magazin «The Atlantic».