Wie stabil sind Demokratien?
Auch bevor ein Virus die Welt lahmlegte, wurden freiheitliche Grundrechte eingeschränkt oder abgeschafft. Kommt das Ende des «demokratischen Zeitalters»? Demokratie-Check, Teil 8.
Von Sarah Engler und Daniel Kübler, 18.03.2020
Die perfekte Staatsform gibt es nicht – aber die Demokratie ist die am wenigsten schlechte: Sie ermöglicht, Entscheidungen einvernehmlich zu treffen. Sie garantiert individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Mitsprache. Demokratien führen weniger Kriege, und die Bevölkerung ist wohlhabender, als das bei Nicht-Demokratien der Fall ist. Dass viele Menschen im Kampf für Demokratie immer wieder grosse persönliche Risiken eingehen, zeigt, wie attraktiv dieses Ideal nach wie vor ist.
Dennoch stehen Demokratien heute weltweit unter Druck. Viele Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden mit ihren Regierungen und mit der Politik im Allgemeinen. Das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien und Eliten hat zugenommen. In mehreren Ländern sind demokratische Errungenschaften rückgängig gemacht worden. Und selbst in einigen der ältesten Demokratien der Welt sind Personen an die Macht gekommen, welche die Grundprinzipien der liberalen Demokratie offen infrage stellen. Befindet sich die Demokratie heute in der Krise?
Alle reden von der Krise der Demokratie – wir auch. Und wir wollen wissen: Was ist es, was die Demokratie im Innersten zusammenhält? Von welchen Kräften gehen aktuell die grössten Bedrohungen aus? Wie und wodurch erweist sich die Demokratie als widerstandsfähig? Zur Übersicht.
Teil 2
Der Mehrheit die Stirn bieten
Teil 3
Die Schweiz als Avantgarde des Populismus
Teil 4
Wie ist die Demokratie noch zu retten?
Teil 5
Die Digitalisierung ist politisch
Teil 6
Wie gefährlich ist der Neoliberalismus?
Teil 7
Ohne Kultur keine Demokratie
Sie lesen: Teil 8
Wie stabil sind Demokratien?
Teil 9
«Die Demokratie wird krank bei zu viel Ungleichheit»
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Wie hältst Du es mit der Demokratie?
Aufgrund der gängigen, minimalistischen Definition kann ein Land als Demokratie bezeichnet werden, wenn das allgemeine Stimm- und Wahlrecht gilt und regelmässig Wahlen mit offenem Wettbewerb zur Besetzung der wichtigsten Regierungsämter abgehalten werden. Gemessen an diesen beiden Kriterien stellt sich die weltweite Entwicklung der Demokratie als wellenartiger Prozess dar.
Die erste Welle begann mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution, schwoll mit den europäischen Revolutionen von 1830 und 1848 weiter an und erreichte ihren Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit brachen viele junge Demokratien wieder zusammen, als Folge von Militärcoups oder faschistischen Regimes.
Die zweite Welle begann 1945, als die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Demokratie in den Ländern ihrer Einflusssphäre einführten. Auch in Lateinamerika und in den neu entstandenen Staaten Afrikas wurden demokratische Verfassungen verabschiedet. Oftmals konnte sich die demokratische Ordnung dort aber nicht festigen, und auch in Europa kam es zu Staatsstreichen.
Die dritte und bisher umfangreichste Demokratisierungswelle begann in den 1970er-Jahren mit dem Ende der Militärdiktaturen in Südeuropa (Portugal, Griechenland, Spanien) und erreichte nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in Mittel- und Osteuropa ihren Höhepunkt. Seit den 2000er-Jahren übersteigt die Anzahl Demokratien weltweit erstmals diejenige von Nicht-Demokratien. Heute können etwa 60 Prozent aller Staaten weltweit als Demokratie bezeichnet werden.
Optimistinnen und Pessimistinnen
Seit rund zehn Jahren ist die Zahl der Demokratien jedoch nicht weiter gestiegen. Wie ist diese Stagnation zu beurteilen? Optimisten geben zu bedenken, dass die weltweite Anzahl der Demokratien weitgehend stabil geblieben ist. Rückfälle in die Autokratie seien Einzelereignisse und beträfen vor allem Staaten, die erst kurz zuvor demokratisiert worden sind: Die demokratische Ordnung ist in diesen Fällen immer instabil und potenziell gefährdet. Ausserdem sei es nicht verwunderlich, dass die Demokratisierung irgendwann ins Stocken geraten musste.
Weil die Anzahl Demokratien heute weltweit so hoch ist wie noch nie zuvor in der Geschichte, finden sich unter den Nicht-Demokratien viele stabile Autokratien, die gegenüber Demokratisierungsbestrebungen besonders resistent sind: die sozialistischen Einparteienstaaten wie die Volksrepublik China, Nordkorea, Laos, Vietnam oder Kuba, die arabischen Golfmonarchien sowie die postkommunistischen Diktaturen Zentralasiens. Eine Demokratisierung ist in diesen Staaten in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Phase der Stagnation, so die optimistische Sichtweise, sei eher ein Zeichen für die Widerstandskraft demokratischer Ordnungen – besonders wenn man bedenke, dass sie zusammenfällt mit einer weltweiten wirtschaftlichen Rezession im Nachgang zur Finanzkrise von 2008.
Pessimisten sehen in dieser Stagnation jedoch Hinweise für einen bevorstehenden oder bereits beginnenden Niedergang der Demokratie – eine eigentliche «demokratische Rezession». Sie machen drei Entwicklungen geltend:
Erstens ist in den stabilen Nicht-Demokratien eine Vertiefung des Autoritarismus zu beobachten – besonders evident zum Beispiel in der Volksrepublik China.
Zweitens findet weltweit eine Erosion von demokratischen Prinzipien statt. Besonders betroffen sind liberale Prinzipien der Demokratie wie die Rechtsstaatlichkeit und die Gewährleistung politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten, die die Bürgerinnen und Bürger vor der «Tyrannei der Mehrheit» schützen.
Drittens, und dies ist besonders besorgniserregend, sind auch in den etablierten Demokratien des Westens die Institutionen unter Druck gekommen. Politische Polarisierung beeinträchtigt nicht nur die Stabilität demokratischer Regierungen, sondern auch ihre Fähigkeit, öffentliche Probleme anzugehen und wirksam zu lösen. Demokratiefeindliche Äusserungen von Regierungsvertretern in den USA, in Italien, in Ungarn oder Polen säen Zweifel. Das Selbstvertrauen der Bürgerinnen und Bürger leidet, der Glaube an die Demokratie als geeignete Regierungsform schwindet.
Im Unterschied zum autokratischen Backlash der 1960er-Jahre ist der Niedergang der Demokratie heute allerdings schwieriger zu erkennen, da es sich um einen schleichenden Prozess handelt. Früher machten häufig Staatsstreiche oder gefälschte Wahlen der Demokratie den Garaus. Heute wurzelt der Anfang vom Ende einer demokratischen Ordnung in anderen Vorgängen: vorsorgliche Staatsstreiche mit anschliessender Einrichtung einer Fassadendemokratie (wie in Thailand), faktische Ausdehnung der Regierungsgewalt (wie in Russland oder der Türkei), Wahlbeeinflussung durch Regierungsparteien (wie etwa in Peru in den 2000er-Jahren).
Fokus Europa
Der Niedergang von Demokratien erscheint heute als langsamer, sich über viele Jahre hinziehender Prozess von kleinen Rückschritten, die in der Summe irgendwann zu einem Zusammenbruch und zum Ende der demokratischen Ordnung führen können. Um diese Entwicklung zu erkennen, braucht es ein Messinstrument, das bereits kleine Veränderungen der Demokratiequalität im Zeitvergleich sichtbar macht. Auf der Grundlage von rund 100 jährlich aktualisierten Indikatoren misst das am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) entwickelte Demokratiebarometer seit 1990 den Zustand und die Entwicklung der Qualität der heutigen Demokratien weltweit.
Beschränken wir uns einmal auf die für uns nächstliegenden Vergleichsländer, also auf Europa. Die Auswertungen dieser Daten legen den Schluss nahe, dass in Europa insgesamt kein genereller Qualitätsverfall der Demokratie festzustellen ist. Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern. Während in den meisten die Demokratiequalität stabil geblieben ist oder sogar zugenommen hat, war in sechs der insgesamt dreissig im Demokratiebarometer abgedeckten europäischen Staaten ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen.
Am stärksten zurückgegangen ist die Demokratiequalität in Griechenland – vor allem wegen der Wirtschafts- und Schuldenkrise seit den 2000er-Jahren.
Viele einschneidende Massnahmen zur Sanierung der öffentlichen Finanzen beschlossen die griechischen Regierungen per Notdekret, unter Umgehung oder Einschränkung des parlamentarischen Mitspracherechts. Neuwahlen in aufgeheizter Stimmung brachten keine klaren Mehrheiten hervor und führten zu politischer Instabilität in Parlament und Regierung. Fortgesetzte Haushaltskürzungen schränkten nicht nur die Handlungsfähigkeit von Staat und Regierung ein, sondern lösten soziale Proteste aus und schwächten das Vertrauen in die Regierung.
In Frankreich ist ebenfalls eine deutliche Abnahme der Demokratiequalität zu verzeichnen. Diese Entwicklung wurzelt einerseits in einer geringen und seit Mitte der 1990er-Jahre sogar noch abnehmenden Handlungsfähigkeit der Regierung.
Aufgrund häufiger Ministerwechsel ist die Instabilität der Kabinette hoch. Streiks oder soziale Proteste gegen die Regierung sind zahlreich und werden oftmals von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet. Aber auch die demokratischen Freiheiten sind in Frankreich zurückgegangen: etwa aufgrund einer Schmälerung der Religionsfreiheit sowie der zunehmenden Polizeigewalt. Schliesslich wurde die Demokratiequalität auch durch die Häufung islamistischer Terroranschläge ab 2012 beeinträchtigt. Sie hatten politische und gesetzgeberische Reaktionen zur Folge (zum Beispiel die Verhängung des Ausnahmezustands und die Verabschiedung neuer Antiterrorgesetze), die auf eine weitere Beschränkung der Freiheitsrechte hinausliefen.
Auch in Italien ist seit der Jahrtausendwende die Demokratiequalität gesunken, vor allem wegen der Beeinträchtigungen der Rechtsstaatlichkeit durch verschiedene Regierungen unter Silvio Berlusconi.
Ab 2004 wurde zudem die Pressefreiheit beschnitten: Nicht nur nahm die Regierung zunehmend Einfluss auf die öffentlichen Fernsehsender, sondern sie machte auch Druck auf unabhängige Medien, um kritische Berichterstattung zu unterbinden. Die individuellen Freiheiten erfuhren ebenfalls Einschränkungen; etwa durch neue Antiterrorgesetze im Jahr 2005, aber auch im Rahmen von Auseinandersetzungen über die Religionsfreiheit. Dazu kommt die in Italien notorische Instabilität der Regierungen, die deren Handlungsfähigkeit einschränkte. Zu guter Letzt sind verschiedene Reformen des Wahlsystems zu erwähnen, die nicht nur die Verzerrung des Wählerwillens in den repräsentativen Institutionen verstärkten, sondern auch starke Schwankungen der Wahlbeteiligung zur Folge hatten.
In Spanien ist seit der Jahrtausendwende ein leichter Rückgang der Demokratiequalität zu verzeichnen. Dieser ist auf mehrere, voneinander unabhängige Faktoren zurückzuführen.
Zunächst wirkten sich die ab 2001 intensivierten Massnahmen der Zentralregierung gegen den baskischen Separatismus negativ auf die individuellen Freiheitsrechte aus. Am gravierendsten waren aber die Konsequenzen der Wirtschafts- und Währungskrise von 2008 bis 2014. Die Austeritätspolitik schränkte nicht nur die finanzielle Handlungsfähigkeit der Regierung ein, sondern löste grosse und dauerhafte soziale Proteste aus, die 2011 ihren Höhepunkt erreichten. Zur gleichen Zeit heizte eine vom Verfassungsgericht beschlossene Relativierung des Autonomiestatuts von Katalonien den dortigen Separatismus an, begleitet von umfangreichen Strassenprotesten in katalanischen Städten.
Bemerkenswert ist der Fall von Ungarn. Nach dem Ende des Kommunismus zu Beginn der 1990er-Jahre stieg dort die Demokratiequalität stark an, bevor sie seit der Jahrtausendwende wieder zu sinken begann und heute sogar unter das Anfangsniveau zu liegen kommt.
Zurückzuführen ist dies zunächst auf die Schwächung des Rechtsstaats durch verschiedene ungarische Regierungen. Auch die individuellen Freiheiten wurden beschnitten, besonders jene von Minderheiten wie Roma, Migranten und Asylsuchenden. Ausserdem kam es seit der zweiten Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán zu drastischen Einschränkungen der Pressefreiheit, und die 2011 erfolgte Reform des Wahlsystems führte zu einer Benachteiligung der Oppositionsparteien.
In Polen ist die Verschlechterung der Demokratiequalität in erster Linie auf die Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen, die in der mangelnden Unabhängigkeit der Judikative und der grossen Ineffizienz vieler Gerichte wurzeln. Auch erfuhr die Unabhängigkeit der Presse Einschränkungen aufgrund einer fortschreitenden Medienkonzentration.
Der Blick auf diese sechs Länder zeigt zwar, dass demokratische Rückschritte jeweils einer eigenen Dynamik folgen und aus einer Kombination verschiedener Faktoren resultieren, die für jedes Land spezifisch ist. Es werden aber auch drei Muster sichtbar:
Zunächst bestätigt sich die alte Erkenntnis, dass die Wirtschaftslage für die Demokratie von grosser Bedeutung ist. Rezessionen setzen die öffentlichen Finanzen unter Druck und schränken die Handlungsfähigkeit gewählter Regierungen ein. Dies kann zu sozialen Konflikten führen und Protestbewegungen hervorbringen, die durch die etablierten Institutionen nicht mehr kanalisiert werden können, worauf diese dann von den politischen Akteuren umgangen werden – wie in Griechenland oder Spanien.
Zweitens zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit. Die Verschärfung der Antiterrorgesetzgebung führte in vielen Ländern zu einer Einschränkung der individuellen Freiheiten. Besonders drastisch geschah das in Frankreich nach der Häufung terroristischer Akte.
Schliesslich führten in einigen Ländern Europas gewählte Politiker einen demokratischen Rückschritt willentlich herbei. Konkret legen die Entwicklungen in Italien, Ungarn und Polen nahe, dass der Aufschwung des Populismus die Demokratie gefährden kann. In der Tat hat die illiberale Agenda, welche von den dortigen Populisten in der Regierung verfolgt wurde, bereits zu einer messbaren Reduktion der Demokratiequalität geführt. Besonders betroffen sind die liberalen Prinzipien, zu denen nicht nur die Gewaltenteilung und die Institutionen des Rechtsstaats gehören, sondern auch die Menschenrechte, der Minderheitenschutz sowie Transparenzregeln und Pressefreiheit. Dennoch führt der Einzug von Populisten in die Regierung nicht automatisch zu demokratischen Einbussen: In der Schweiz sind solche Tendenzen jedenfalls bisher nicht zu beobachten, und dies, obwohl mit der SVP eine populistische Partei schon lange an der Regierung beteiligt ist.
Die Kunst demokratischen Regierens
Demokratie als Regierungsmodell verlangt von den Regierenden einerseits, dass sie auf die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger eingehen, ihre Forderungen aufnehmen und diese in konkreten politischen Programmen umsetzen. Andererseits müssen Regierungen aber auch wirksame Politik machen, um gesellschaftliche Probleme tatsächlich zu lösen. Dabei müssen sie Zwänge und Abhängigkeiten berücksichtigen, in die sie aufgrund ihrer Regierungsverantwortung eingebunden sind. Zum Beispiel können Entscheidungen von Vorgängerregierungen nicht einfach rückgängig gemacht werden, oder es muss Rücksicht auf Koalitionspartner genommen werden. Viele Probleme machen ausserdem nicht an den Landesgrenzen halt und erfordern eine Zusammenarbeit mit anderen Regierungen oder internationalen Organisationen.
Zwischen Bürgernähe und Regierungsverantwortung besteht somit ein Spannungsfeld. Politische Akteure in Demokratien sind nur dann dauerhaft erfolgreich, wenn sie den beiden Anforderungen von Bürgernähe und Regierungsverantwortung gleichzeitig gerecht werden oder sie zumindest in ein Gleichgewicht bringen können. Für die Beständigkeit der Demokratie ist es schliesslich wichtig, dass sich die politischen Akteure um ausgewogene, moderate Lösungen bemühen, die zwischen diesen beiden Anforderungen vermitteln und dem Extremismus eine Absage erteilen.
Daniel Kübler ist Professor für Demokratieforschung und Public Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und Direktor am Zentrum für Demokratie Aarau. Sarah Engler ist Post-Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und wissenschaftliche Projektleiterin des Demokratiebarometers am Zentrum für Demokratie Aarau.
Dieser Beitrag entstand aus dem Vortrag «Vom Aufstieg zum Niedergang der Demokratie?», den Daniel Kübler Anfang März im Rahmen der Ringvorlesung «Demokratie, Demagogie und Populismus in der Antike und heute» am Zentrum Altertumswissenschaften Zürich gehalten hat.