Liebe Erkrankte, liebe Gesunde im Homeoffice, liebe Mitbürgerinnen, die jeden Tag ausser Haus für unsere Grund- und Krankenversorgung arbeiten
Heute schien in der ganzen Schweiz die Sonne. Im Wallis wurde es bis zu 21 Grad warm. Wenn es Ihnen geht wie uns, dann haben Sie die Wohnung trotzdem kaum verlassen. Dann sind Sie drinnen geblieben – haben Social Distancing gemacht.
Wie lange wird es gehen, bis wir die Sonne wieder uneingeschränkt geniessen können? Wie lange wird er wohl dauern, dieser Ausnahmezustand?
Sicher nicht bis im Sommer … oder? Wir haben den Epidemiologen gefragt.
Christian Althaus, Forscher an der Universität Bern, zeigt in drei möglichen Szenarien, wie sich die Situation in der Schweiz entwickeln könnte. Allerdings sind diese Szenarien mit Unsicherheit behaftet. Denn welche Massnahmen die Politik künftig beschliessen und wie streng sich eine Gesellschaft daran halten wird, lässt sich nicht exakt vorhersagen.
Szenario 1: Eindämmung (containment)
Ziel: Die Verbreitung von Covid-19 zu stoppen, indem man angesteckte Personen identifiziert und ihre Kontakte isoliert. Funktioniert nur, wenn genügend Kapazitäten für Tests sowie für das Nachverfolgen von Kontakten der Angesteckten zur Verfügung stehen. Und wenn sich alle an die Hygieneregeln halten und das Social Distancing befolgen. Diese Strategie kam in Wuhan zum Einsatz, wo das Virus erstmals auftrat und die Fallzahlen mittlerweile im einstelligen Bereich sind.
Wie lange? «Wir könnten so die Epidemie in den nächsten zwei Monaten in den Griff bekommen», sagt Althaus. «Die Todesfälle würden sich in Grenzen halten. Danach könnte man das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben langsam wieder hochfahren.» Man müsste aber die Fallzahlen nach wie vor stark kontrollieren, um die Zahl der Erkrankungen auf einem niedrigen Niveau zu halten. Zum Beispiel, indem man in öffentlichen Gebäuden Fieber mässe oder Menschen mit einer Lungenentzündung systematisch auf Covid-19 testete.
Wahrscheinlichkeit des Szenarios: klein. «Trotzdem würde ich dafür plädieren, zuerst diesen Weg zu versuchen», sagt Althaus.
Szenario 2: Verlangsamung (mitigation)
Ziel: Die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, damit das Gesundheitssystem nicht zu stark überlastet wird, indem Personen mit Verdacht auf eine Infektion isoliert werden, ihre Mitbewohnerinnen in Quarantäne bleiben und alle das Social Distancing zu Risikogruppen sehr ernst nehmen.
Wie lange? «Diese Situation kann sich über mehrere Monate hinziehen.» Althaus sagt, dass mit mitigation die Verbreitungskurve der Epidemie zwar abflachen würde, aber die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem drastisch wären. Es würden viel mehr Menschen krank als beim Szenario 1.
Wahrscheinlichkeit: gross.
Szenario 3: Schwache oder keine Massnahmen
Ziel: Mit möglichst wenig Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft darauf zu vertrauen, dass die Pandemie nicht komplett ausser Kontrolle gerät.
Wie lange? Die Situation würde auf unbestimmte Dauer eskalieren. Die Belastungen für das Gesundheitssystem und die Gesundheit der Bevölkerung wären bei einem solchen Szenario «immens», sagt Althaus. Die Todesfälle würden drastisch zunehmen.
Wahrscheinlichkeit: mittel.
Die Schweizer Bevölkerung muss sich gemäss Althaus vorsichtig berechnet auf mindestens 2 Monate containment oder mehrere Monate mitigation einstellen. Sein Kollege Richard Neher, Bioinformatiker an der Universität Basel, schätzt die Lage ähnlich ein: China habe gezeigt, dass man den Ausbruch innerhalb von etwa 6 Wochen stark reduzieren könne – mit sehr rigorosen Massnahmen.
«Mit schwächeren Massnahmen kann sich das Ganze aber durchaus über Monate hinziehen», sagt er.
Stellen Sie sich darum bitte jetzt darauf ein: Das wird ein ganz und gar nicht normaler Frühling. Gefolgt von einem ganz und gar nicht normalen Sommer.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Heute zählt die Schweiz 3028 infizierte Personen. Am Samstag waren es noch 1359, am Sonntag 2200 – die Fallzahlen scheinen sich derzeit innerhalb von 3 bis 4 Tagen zu verdoppeln. Die Daten des Bundesamts für Gesundheit stimmen aber nicht mehr auf den Tag genau: Die Zahlen stiegen so schnell, dass seine Behörde Mühe habe, mit der Dateneingabe nachzukommen, sagte gestern Daniel Koch.
Was in der Schweiz ab heute gilt: Ab sofort dürfen Sie in der Apotheke pro Besuch nur noch eine Packung bestimmter Medikamente kaufen. Das hat der Bundesrat beschlossen. Das gilt für verschreibungspflichtige und fiebersenkende Medikamente sowie alle gängigen Schmerzmittel. Zudem hat die Regierung die Einreisebeschränkungen auf Spanien und alle Nicht-Schengen-Staaten ausgeweitet und entschieden, dass Schuldnerinnen und Schuldner bis vorläufig zum 4. April 2020 nicht betrieben werden dürfen.
Die nächsten Abstimmungen werden verschoben: Der Bundesrat hat beschlossen, auf die Durchführung der eidgenössischen Abstimmungen vom 17. Mai 2020 zu verzichten. Den Kantonen und Gemeinden empfiehlt er, politische Zusammenkünfte wie Gemeindeversammlungen nur in Ausnahmefällen zu bewilligen. Wann über die 3 verschobenen Volksinitiativen und Referenden abgestimmt werden soll, ist unklar.
EU macht Grenzen dicht: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben gestern Abend vereinbart, die EU-Aussengrenzen vorübergehend zu schliessen. Von der Regelung nicht betroffen sind die assoziierten Schengen-Länder – darunter auch die Schweiz und Grossbritannien. Über die Schliessung ihrer Binnengrenzen zu anderen Schengen-Staaten könnten die Mitgliedsstaaten weiterhin selber entscheiden.
Weniger Ansteckungen in China: In der chinesischen Millionenmetropole Wuhan, wo die Krankheit Covid-19 im Dezember erstmals nachgewiesen wurde, gibt es nach und nach Entwarnung. Die Pekinger Gesundheitskommission verzeichnete den zweiten Tag in Folge nur eine einzige Neuerkrankung in der Stadt. Die drakonischen Quarantänevorschriften zeigen also Wirkung. (Experten wie Christian Drosten raten aber dazu, die offiziellen chinesischen Zahlen zurzeit mit Vorsicht zu geniessen.)
Die besten Tipps und interessantesten Artikel
Wenn die tagtägliche Arbeit im Homeoffice für Sie neu ist, finden Sie vielleicht die Ratschläge der «New York Times» ganz hilfreich:
Halten Sie sich an Ihren üblichen Zeitplan. Tun Sie all die Sachen, die Sie jeweils auch tun, bevor Sie zur Arbeit fahren. Sprechen Sie kurz (virtuell) mit den Leuten, die Sie normalerweise vor dem Kaffeeautomaten treffen.
Setzen Sie Grenzen: Im Wohnzimmer arbeiten, in der Küche nicht. Oder umgekehrt.
Planen (und machen) Sie Pausen: Kaffee, Essen und Bewegung sollten auch zu Ihrem Homeoffice-Leben gehören.
Pendeln fällt weg – Sie müssen den Laptop abends also ganz bewusst zumachen.
Was sich zu lesen lohnt:
Wenn Sie heute eine Reportage lesen möchten, dann empfehlen wir diesen Text, der am Samstag im «Spiegel» erschien (Paywall): Wie man es schafft, in Italien nicht verrückt zu werden. Der Autor Juan Moreno schreibt, seine Reise nach Mailand fühlte sich an wie eine Zeitreise. Denn dort war «zu besichtigen, was dem Rest Europas blühen kann».
Social Distancing ist kein schöner Begriff. Warum es sich jetzt aber auszahlt, zumindest physisch auf Distanz zu unseren Mitmenschen zu gehen, zeigen eindrücklich die Visualisierungen der «Washington Post» (auf Englisch oder auf Französisch).
Frage aus der Community: Ist das Coronavirus gar nicht so schlimm, und wird einfach nur Panik gemacht?
In diversen Youtube-Videos spricht der deutsche Lungenarzt und ehemalige SPD-Politiker Wolfgang Wodarg von einer «unnötigen Panikmache». Er macht damit Millionen Klicks – und beschäftigt auch unsere Leserschaft. Wir haben Dutzende Mails und Kommentare bekommen, die sich auf ihn beziehen.
Wodarg sagt im Kern zwei Dinge. Erstens: Coronaviren gebe es schon seit Jahrzehnten. Und zweitens: Dass man jetzt so viele Krankheitsfälle verzeichne, hänge mit den ausgedehnten Tests zusammen, die nur aus finanziellem Interesse der Entwickler so breit zur Anwendung kommen würden.
Wir haben den Biophysiker Richard Neher von der Uni Basel mit Wodargs Theorien konfrontiert. Seine Antwort: «Im Grunde ist alles falsch, was Wodarg zum Coronavirus behauptet.»
Es stimme zwar, sagt Neher, dass insgesamt 4 andere Coronaviren seit Jahrzehnten zirkulieren. Das neue, Sars-CoV-2, sei jedoch erst vor 4 Monaten vom Tier auf den Menschen übergesprungen und sei gefährlicher als die anderen, unter anderem deshalb, weil der Mensch dagegen noch nicht immun sei.
Auch die zweite Behauptung von Wodarg sei haltlos. Die überfüllten Spitäler hätten nichts mit dem Testen zu tun, «sondern damit, dass die Menschen vermehrt medizinische Hilfe brauchen». In Italien seien Leichenhäuser teilweise überfüllt. In Bergamo musste wegen der vielen Toten der Friedhof zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg geschlossen werden, wie die «New York Times» diese Woche berichtete.
Wolfgang Wodarg, wie auch das deutsche Recherchenetzwerk «Correctiv» in seinem Faktencheck von heute festhält, vermischt in seinen Videos Tatsachen mit Spekulation.
Falls Sie ebenfalls über die Videos gestolpert sind, in denen Wodarg auftritt, raten wir Ihnen zu einer kritischen Haltung. Das Coronavirus ist neu, Covid-19 ist neu, und die Faktenlage ist dünn. Gewisse Behauptungen lassen sich trotzdem in nur wenigen Minuten Recherche falsifizieren.
Zum Beispiel mit dem Googeln von «Arzt Erfahrungsbericht Corona Italien».
Zum Schluss eine (vorsichtig) gute Nachricht
In Italien verbreitet sich das Virus endlich etwas langsamer: ein Hinweis darauf, dass die Massnahmen der Regierung greifen – und es etwas dauert, bis der Effekt von Massnahmen wie Social Distancing oder Ausgangssperren sichtbar wird. Das hängt vor allem damit zusammen, dass vom Moment einer Ansteckung bis zum Auftreten erster Symptome im Median 5 bis 6 Tage vergehen (die Hälfte der Angesteckten zeigt schon früher Symptome, die andere Hälfte erst später und teilweise erst 14 Tage nach der Ansteckung).
Werden Sie deshalb nicht nervös, wenn nun die Zahlen der Infizierten auch in der Schweiz noch während mehrerer Tage drastisch steigen. Sie werden es.
Bleiben Sie lieber umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen
Ronja Beck, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Elia Blülle
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wie schon in Italien und in Spanien rufen 9 Organisationen dazu auf, am Donnerstag um 19 Uhr für die Menschen zu applaudieren, die im Gesundheitssektor, in den Supermärkten und an anderen Orten arbeiten, wo gerade gegen die Pandemie gekämpft wird.
PPPS: Und weil die 4 grössten Schweizer Medienunternehmen inklusive der SRG einen Tag später dieselbe Idee hatten, gibt es am Freitagmittag um 12.30 Uhr noch ein zweites Klatschkonzert.
PPPPS: Die Italiener unterhalten sich in Quarantäne gegenseitig, indem sie von Balkonen aus musizieren. Eine Idee, die Menschen auch anderswo kopierten. Zum Beispiel in der österreichischen Hauptstadt. Doch da scheiterten die Hobbymusiker am berühmten Wiener Charme.