Auf lange Sicht

Wie das Coronavirus die Wirtschaft trifft

Gibt es eine Rezession? Oder sogar eine Weltwirtschafts­krise? Prognosen zu den Folgen des Coronavirus sind sehr schwierig. Möglicherweise unterschätzen wir die Epidemie noch immer.

Von Simon Schmid, 16.03.2020

Meine Gefühlslage schwankt in diesen Tagen stark: Ich radle ins Büro, mache die Einkäufe, komme nach Hause – und bin entspannt. Dann lese ich von überlasteten Spitälern, Hunderten neuen Fällen – und erfahre, dass soeben der Nonno eines Freundes in Italien an der Krankheit Covid-19 gestorben ist.

Was uns der tägliche Ticker sagt

Das ständige Wechselspiel zwischen Normal- und Ausnahme­zustand, das Oszillieren zwischen Panik und Besinnung: Es prägt auch die Stimmung an der Börse. Der amerikanische Dow-Jones-Index, das bekannteste Aktien­barometer der Welt, ist auf Achterbahn­fahrt. Starke Schwankungen von 5 Prozent und mehr sind zurzeit an der Tagesordnung.

Turbulenzen an der Börse

Tägliche Schwankung des Dow-Jones-Index seit Anfang Jahr

JanuarFebruarMärz−10−50510 %

Veränderung der Schlusskurse im Vergleich zum letzten Handelstag. Quelle: Yahoo Finance.

Aktienkurse schwanken immer – es liegt in ihrer Natur. Und ist ihr Sinn und Zweck: Die Börse gilt als eine Art Informations­verarbeitungs­maschine. In den Kursen seien alle denkbaren Erwartungen hinsichtlich der künftigen Wirtschafts­entwicklung kondensiert, sagt man.

Lange bevor zum Beispiel die offiziellen Zahlen zum Brutto­inlandprodukt erscheinen, liefern die Börsen so ein Vorabbild über die Wirtschaftslage.

Was verrät uns dieses Bild über die Folgen des Coronavirus?

Das Börsenbarometer auf lange Sicht

Zuletzt gingen die Kurse öfter nach unten. Anleger befürchten also, dass die Wirtschaft wegen des Coronavirus Schaden nimmt und Firmen deswegen weniger Gewinne erzielen, was wiederum den Wert von Aktien schmälert.

Um die Kurstaucher einzuschätzen, hilft der Vergleich auf die lange Sicht. Seit dem Höchst vor einem Monat hat der Dow Jones gut 20 Prozent verloren. Er fiel zurück auf das Niveau von 2017: ungefähr dorthin, wo er zu Beginn von Donald Trumps Amtszeit stand. In der Zwischen­zeit war an der Wallstreet eine Euphorie ausgebrochen, die jetzt abrupt beendet wurde.

Der Höhenflug ist zu Ende

Dow-Jones-Aktienindex seit 2006

200620102015202023’186010’00020’00030’000 Punkte

Indexstand zu Beginn des Monats. Letzter Wert vom 13. März 2020. Quelle: Yahoo Finance

Zu einem Crash wie während der Finanzkrise – damals hatte der Dow Jones in anderthalb Jahren 50 Prozent verloren – ist es bislang also noch nicht gekommen. Übers ganze vergangene Jahrzehnt hinweg lässt sich auch nach den jüngsten Kursstürzen noch ein deutliches Plus ausmachen. Erstaunlich viele Kommentatoren bleiben deshalb gelassen. «Don’t panic», schrieb ein Analyst etwa kürzlich auf dem Finanzportal «Seeking Alpha».

Doch es ist möglich, dass die jüngsten Börsen­turbulenzen erst der Anfang sind. Warum, das zeigt der Blick auf eine andere Art von Daten.

Wie Firmen die Lage einschätzen

Und zwar auf Umfragedaten unter Firmen. Eine solche Sammel­umfrage publiziert die Konjunktur­forschungs­stelle der ETH. Sie vereinigt einzelne Umfragen aus über fünfzig Ländern. Der daraus resultierende Index ist so konstruiert, dass er mit dem globalen BIP korreliert. Das heisst: Dorthin, wo sich der Index bewegt, dürfte sich in Zukunft auch das globale BIP bewegen.

Anzeichen einer globalen Krise

KOF Global Economic Barometer

Achse gekürzt200620102015202078,0406080100120140 Punkte

Coincident Global Economic Barometer. Quelle: KOF

Auffällig ist der abrupte Knick am Ende. Er datiert vom 10. März – dem ersten Publikations­datum, das in die Corona-Epidemie fällt. Das Barometer sackt hier richtig­gehend ab. Nie während des ganzen Jahrzehnts war die Stimmung in den Firmen so mies wie jetzt. Das signalisiert eine konjunkturelle Gefahr.

Man sieht an diesem Index allerdings auch: Bis sich eine Rezession wie während der Finanzkrise von 2008 ereignet, muss noch einiges passieren.

Deutlich krasser ist der Einbruch jedoch dort, wo das Coronavirus schon seit Anfang Jahr umgeht: in China. Der sogenannte Einkaufs­managerindex in der Industrie – eine Umfrage, in der Firmen über ihren Auftragsbestand und ähnliche Dinge Auskunft geben – ist dort im Februar sogar unter das Niveau während der Finanz­krise gefallen. Das widerspiegelt, dass die Produktion in vielen Fabriken stark zurück­gefahren wurde, dass die Logistik nichts zu tun hat, dass die Aufträge ausbleiben und dass die Erwartungen sehr trüb sind.

Heftiger Einbruch in China

Einkaufsmanagerindex der Industrie in China

Achse gekürzt200620102015202035,7354045505560 Punkte

Manufacturing Purchasing Managers Index (PMI). Quelle: Investing.com

Die wirtschaftliche Vollbremsung ist keine direkte Folge des Coronavirus, sondern eine indirekte – ein Resultat der Massnahmen zur sozialen Isolierung.

Diese wirken sich auf den Konsum von Gütern und Dienst­leistungen aus:

  • Die Transportbranche läuft derzeit auf halber Kapazität. Weniger Menschen fahren Zug, Bus oder Taxi.

  • Der Luftverkehr ist gegenüber Anfang Jahr um 80 Prozent zurück­gegangen. Chinas Flughäfen sind fast menschenleer.

  • Autoverkäufe sind um 80 Prozent geschrumpft, iPhone-Verkäufe um gut 60 Prozent, und auch Kleiderhersteller verzeichnen in China einen starken Umsatzrückgang.

Noch ist es ausserhalb von China nicht so weit. Weltweit ist zum Beispiel der Flugverkehr im Februar nur um rund 4 Prozent zurückgegangen. Doch die Vermutung liegt nahe, dass auch in anderen Ländern ein ähnlicher Einbruch droht, falls sich das Virus weiter mit hohem Tempo ausbreitet – und die Quarantäne­vorschriften infolge­dessen weiter verschärft werden müssen.

Was das für die Gesamtwirtschaft bedeutet

So viel zur Perspektive der Unternehmen. Doch wie würde sich eine Corona-Pandemie für die globale Wirtschaft insgesamt auswirken?

Ökonominnen versuchen dies mit mathematischen Modellen abzuschätzen. Viele von ihnen stellen sich die Corona-Krise wie ein horizontales «S» vor. Sie gehen davon aus, dass das Wirtschafts­wachstum während ein bis zwei Quartalen tiefer liegt – oder sogar ein halbes Jahr lang unter null fällt, was als Rezession bezeichnet würde –, im Anschluss an die Krise jedoch umso höher steigt.

Nach der Quarantänezeit würden Konsumenten also erst recht Geld ausgeben und Unternehmen erst recht investieren, so die Annahme. Dieser Jojo-Effekt wäre umso grösser, je aktiver der Staat während der Krise etwa arbeitslose Leute unterstützt oder Firmen mit Überbrückungs­krediten hilft. So, wie es viele Länder – darunter Deutschland, die Vereinigten Staaten und auch die Schweiz – in den letzten Tagen angekündigt haben.

Die folgende Grafik zeigt ein Beispiel einer solchen Modell­rechnung. Sie stammt vom Forschungs­büro Oxford Economics und simuliert die Folgen einer Corona-Pandemie mit hohen weltweiten Ansteckungs­raten für drei grosse Wirtschafts­räume: China, die Eurozone und die Vereinigten Staaten.

Der Corona-Impact

Vierteljährliches BIP-Wachstum im Pandemie-Szenario

USA
Eurozone
China
20062010201520202 %2 %6 %−5051015 %

Quelle: OECD, Oxford Economics

Verläuft die Corona-Krise tatsächlich nach diesem Drehbuch, so wäre ein Anstieg der Arbeitslosen­zahlen sicher. Anzeichen dafür sind bereits da: Schweizer Gastronomie­betriebe beginnen schon, nicht benötigtes Personal abzubauen. Firmen­konkurse sind eine weitere absehbare Folge. Sie drohen vor allem in Ländern, wo die Finanz­lage von Unter­nehmen ohnehin schon eng ist und die staatlichen Hilfen angesichts knapper Budgets begrenzt ausfallen müssen. Das Parade­beispiel für ein solches Land ist Italien.

Teil des S-Verlaufs ist jedoch auch die Gegen­bewegung. Sie kommt zustande, da nach überstandener Corona-Pandemie ein Boom die Wirtschaft erfasst.

Dafür gibt es auch einen historischen Vergleich: Auf die Spanische Grippe von 1918 bis 1920, die Millionen von Todes­opfern forderte, folgten die «Roaring Twenties», bemerkte kürzlich etwa die «Handelszeitung» optimistisch.

Doch all die Kalkulationen und Vergleiche können grandios danebenliegen. Die Vergangen­heit ist nicht immer ein guter Ratgeber. Denn noch ist völlig offen, wie die Pandemie in den verschiedenen Ländern ablaufen wird.

Ein entscheidender Faktor ist besonders unklar: die Dauer der Krise.

Was die Gesundheitssysteme verkraften können

Christian Drosten, Chefvirologe an der Berliner Charité, warnt etwa davor, dass es im kommenden Herbst zu einer zweiten Corona-Welle kommen könnte. Und Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts für Krankheits­überwachung und -prävention in Berlin, sagt, die Epidemie könne noch Monate, vielleicht Jahre dauern. Ob die Ausnahme­situation innerhalb von wirtschaftlich verkraftbarer Frist wirklich endet, ist also nicht sicher.

Sollten sich die Befürchtungen der Mediziner bewahrheiten, so scheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Wirtschaft nach ein bis zwei schlechten Quartalen noch im Jahr 2020 rasch wieder einen Gang hochschalten kann.

Zumal die ganze Epidemie­bekämpfung momentan das Ziel verfolgt, «die Kurve abzuflachen». Die Corona-Ansteckungen sollen nicht alle gleichzeitig erfolgen, sondern gestaffelt – damit das Gesundheits­system nicht kollabiert.

Über welchen Zeitraum diese Staffelung erfolgen soll, ist ungewiss. Eine simple Überschlags­rechnung verdeutlicht jedoch, dass man potenziell über sehr lange Fristen sprechen muss:

  • In Italien ist das Gesundheits­system mit rund 15’000 getesteten Angesteckten (Stand am Freitag, 13. März) bereits am Limit. Nehmen wir an, dass sich pro Woche nicht mehr als diese Zahl von Menschen anstecken darf.

  • Nehmen wir ausserdem an, dass sich 60 Prozent der Italienerinnen irgendwann mit Covid-19 anstecken werden (ein Anteil, den Lothar Wieler für Deutschland als realistisch erachtet). Das wären 36 Millionen Menschen.

  • Dann geht es 2400 Wochen oder umgerechnet fast 50 Jahre, bis alle Italiener bei der zugelassenen Ansteckungs­rate durchs Gesundheits­system geschleust sind.

50 Jahre sind natürlich eine absurd lange Zeit. Doch selbst wenn man mit der 10-fachen Spital­kapazität rechnet (150’000 Angesteckte pro Woche) und mit einer 5-mal so hohen Dunkel­ziffer (750’000 Angesteckte pro Woche), landet man immer noch bei einer Gesamtzeit von fast einem Jahr.

Während dieses Jahres müssten Kontroll­massnahmen gelten, um das Ansteckungs­tempo im Zaum zu halten. Also keine Fussball­spiele, keine Konzerte, eingeschränkte Restaurant­besuche, wenig Reisen und so weiter. Das wiederum würde die betroffenen Branchen existenz­bedrohend treffen.

In China haben noch viel rigorosere Ausgangs­sperren dazu beigetragen, dass die Ansteckungs­raten stark gesunken sind. Nun soll in Hubei, der Provinz, in der das Epizentrum der Epidemie liegt, die Industrieproduktion sachte wieder aufgenommen werden. Reise­beschränkungen sollen wieder gelockert werden. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob das überhaupt möglich ist, ohne dass die Ansteckungs­raten gleich wieder hochschnellen.

Fazit

Man sollte Wirtschafts­prognosen stets misstrauen – und auf keinen Fall die Überschlags­rechnung zu Italien für bare Münze nehmen. Möglich, dass alles ganz anders kommt und die Medizin bereits bald einen Impfstoff gegen das Virus oder ein wirksames Mittel gegen die Krankheit Covid-19 findet.

Bis es so weit ist, kann das Coronavirus die Gesell­schaft aber vor grosse Probleme stellen. Für die Wirtschaft könnte das böse Erwachen also noch folgen. Sich emotional und politisch darauf einzustellen, ist auf keinen Fall falsch.

Die Daten

Sie stammen aus verschiedenen öffentlich zugänglichen Finanz­portalen wie Yahoo Finance und Investing.com. Die KOF bietet ihr Barometer in ihrer Indikatorensammlung ebenfalls frei zum Download an. Die viertel­jährlichen Wachstums­zahlen stammen aus der Datenbank der OECD. Die Daten zur Modell­rechnung von Oxford Economics wurden uns zur Verfügung gestellt.