Ausnahmezustand
Die Schweizer Regierung hat sich Zeit gelassen – aber jetzt hat sie die nötigen Massnahmen angeordnet.
Von Daniel Binswanger, 14.03.2020
Es heisst jetzt kühlen Kopf bewahren. Das Leben hat sich innerhalb von 48 Stunden radikal zu verändern begonnen. Zwar befindet sich die Schweiz schon seit zwei Wochen in einer «besonderen Lage», gab es Krankheits- und einzelne Todesfälle, mussten Grossveranstaltungen abgesagt werden. Jetzt aber herrscht der Ausnahmezustand.
Und das ist gut so.
Zwar will der Bundesrat weiterhin nicht die «ausserordentliche Lage» erklären, auf Notrechtsbasis die Kantone entmachten und alle Entscheidungskompetenz an sich reissen. Aber absolut alles muss nun auf den Kopf gestellt werden: um ältere Familienmitglieder zu schützen; um, falls man einer Risikogruppe angehört, für sich selber Sorge zu tragen; um, falls man jung und gesund ist, seinen Beitrag zur Nichtausbreitung zu leisten. So weit es geht, muss nun von zu Hause aus gearbeitet, die Kinderbetreuung organisiert, das Sozialleben heruntergefahren, das Kulturleben suspendiert werden. Selbstständige und kleine Firmen geraten in existenzbedrohende Situationen, der Wirtschaftseinbruch ist massiv.
Die Schweiz ist – wie alle anderen Länder dieses Globus – mit dem Ernstfall konfrontiert.
Der Bundesrat hat die Kurve grade noch gekriegt: Er hat sich spät zu den harten und nötigen Entscheiden durchgerungen – mehrere Tage nach Dänemark und Österreich, erst nachdem Frankreich vorangegangen ist. Und dies, obwohl die Schweiz nach Italien zum heutigen Zeitpunkt von allen europäischen Ländern die dynamischste Entwicklung der Epidemie haben dürfte. Es wird ein paar Tage dauern, bis die Massnahmen greifen und zu einer Verlangsamung der Corona-Ausbreitung führen können. Aber es dürfte noch rechtzeitig genug sein.
Es gibt viele Expertenprognosen und viele mögliche Szenarien, aber die Eckdaten der Situation sind einfach: Wir haben einen exponentiellen Anstieg der Fälle, und es muss nun mit höchster Priorität alles getan werden, um die Reproduktionsrate des Virus zu senken und zu verhindern, dass die Krankheitsfälle die Kapazitäten des Gesundheitssystems überfordern. Wenn das eintreffen würde – so wie es in Norditalien bereits geschehen ist und in verzweifelte Zwangslagen führt –, würde die Mortalitätsrate hochschnellen und wir würden eine hohe Zahl vermeidbarer Todesopfer zu beklagen haben. Italien hat übrigens gemäss einer Studie aus dem Jahr 2012 die höheren Intensivpflege-Kapazitäten pro Kopf als die Schweiz.
Vom 6. bis zum 13. März haben sich hierzulande die Fallzahlen von 86 auf 1125 verdreizehnfacht, und dies, obwohl aufgrund mangelnder Kapazitäten am 6. März aufgehört wurde, Verdachtsfälle systematisch zu testen. Ohne einschneidende Massnahmen würden wir schon gegen Ende nächster Woche in eine dramatische Situation kommen. Die Schweiz verfügt Stand gestern im ganzen Land über etwa 1000 Intensivbetten, und etwa 5 Prozent der Corona-Fälle brauchen Intensivpflege. Bei 10’000 Fällen würde also bereits die Hälfte aller heute vorhandenen Intensivpflege-Kapazitäten von Corona-Patientinnen beansprucht. Es könnte sehr kurzfristig zu Kapazitätsengpässen kommen – und zu Toten, die bei rechtzeitigem Handeln vermeidbar gewesen wären.
Der Bundesrat legt nun weitgehend das öffentliche Leben still, um genau das zu verhindern. Wie gesagt: Wir sind spät dran. Doch möglicherweise hätte es dem entschlossenen Durchgreifen noch vor wenigen Tagen an Akzeptanz und Legitimität gefehlt. Jetzt kommt alles darauf an, dass die gesamtgesellschaftliche Solidarität spielt und eine geordnete und disziplinierte Umsetzung stattfindet. Dann wird es funktionieren. Es muss funktionieren.
Es ist nicht der Moment für Polemik und belehrende Kommentare. Aber es hat sich in den letzten Tagen immer wieder der Eindruck eines Behördenversagens eingestellt, der gestern wieder korrigiert wurde. Surrealistisch erschien zum Beispiel am letzten Mittwochmorgen die Antwort des Direktors der Eidgenössischen Zollverwaltung auf die Frage, weshalb man Leuten, die nicht aus professionellen Gründen von Italien in die Schweiz einreisen wollten, bloss «empfehle», von dieser Einreise abzusehen. Warum man, statt Empfehlungen zu machen, die Einreise nicht einfach untersage. Der Chef-Grenzer antwortete, für eine Wegweisung brauche es einen Bundesratsbeschluss und der Bundesrat tage erst am Freitag wieder. Es war an dem Mittwoch, an dem die WHO die Corona-Infektion zur Pandemie erklärte und an dem die Hauptgeschichte auf «Spiegel online» den Titel trug: «Es kommt auf jeden Tag an.»
Der Satz «Die Bundesratssitzung findet in X Tagen statt, erst dann kann ein Entscheid gefällt werden» muss bis auf weiteres aus dem Diskurs der Schweizer Behörden verschwinden. Gestern, obwohl es die reguläre Freitagssitzung war, hatte man zum ersten Mal das Gefühl, wir hätten diesen Punkt erreicht. Erstaunlich war bisher auch, wie wenig der Bundesrat sich sehen und hören liess. «Sitzt eigentlich ein Pilot im Cockpit?», so musste man sich diese Woche immer wieder fragen. Der Viererauftritt von gestern stellt auch in dieser Hinsicht einen wohltuenden Wechsel dar. Der Bundesrat muss in den kommenden Tagen und Wochen kommunikativ präsent bleiben – auch ausserhalb der Sitzungsrhythmen.
Auch andere europäische Regierungen bekunden ihre Schwierigkeiten, mit der Jahrhundert-Herausforderung umzugehen. Alle befinden sich in einem Lernprozess. Man hat den Eindruck, als habe die Berner Reaktion drei Phasen durchlaufen: Eine erste Periode Ende Februar, in der die Schweiz mit dem Verbot von Veranstaltungen über 1000 Teilnehmern und der Ausrufung der besonderen Lage im Vergleich zu anderen Ländern proaktiv und entschlossen erschien. Man ging voran mit einem «Swiss Finish». Dann eine Periode des Quasi-Stillhaltens und des föderalistischen Kompetenzen-Wirrwarrs, die dazu führte, dass rund um die Schweiz Schulen und Universitäten geschlossen wurden, extensive Veranstaltungsverbote erlassen worden sind, die Schlagbäume runtergingen – und bei uns herzlich wenig geschah. Und erst gestern, angesichts einer sich dramatisch zuspitzenden Zwangslage, zeigte sich der geschlossene Wille zu entschiedenem Handeln.
Man hätte sich natürlich wünschen können, dass schneller und entschiedener agiert wird, dass die Entscheide mehr von den Prognosen epidemiologischer Experten und weniger von politischen Rücksichten und föderalem Kantönligeist bestimmt werden.
Aber der eigentliche Test für das Schweizer Regierungssystem steht jetzt erst an: Wird das Bottom-up-System, das weiter gewährleistete Mitspracherecht der Kantone, das bedächtige Herauffahren der Massnahmen dazu führen, dass der Kampf gegen die Epidemie von allen mitgetragen wird? Von allen Staatsebenen, von allen Institutionen, von allen Betrieben und von allen Bewohnern des Landes?
Wenn das gewährleistet ist, könnte sich das helvetische Zaudern als Kraft erweisen. Nur wenn sie von allen getragen werden, können die Massnahmen auch wirksam werden. Es hängt an uns allen. Dass sie nicht wirksam werden, ist keine Option.
Illustration: Alex Solman