Wattewelt

Nach einer Italienreise war die Schriftstellerin Julya Rabinowich für mehrere Tage in Quarantäne. Was macht die Isolation mit einem? Eine Selbstbeobachtung.

Von Julya Rabinowich (Text) und Philotheus Nisch (Bilder), 11.03.2020

Verlockendes Popcorn. Aber was, wenns an der Plombe klebt und der Weg zum Zahnarzt aus der Quarantäne heraus verboten ist?

Das Warten beginnt mit einer ins Schloss fallenden Wohnungstür. Die Ärztin, die gerade den Abstrich aus deinem Rachen entnommen hat, ist jung und freundlich. Eben hat sie dir erzählt, sie sei heute schon von Reportern angerufen worden, sei aber froh, ihnen entkommen zu sein. Nun ist sie auch dir entkommen, hat sich verabschiedet, du bleibst in deiner Wohnung zurück.

Da sitzt du nun also. Und benennst dich mit zweiter Person Singular. Du bist etwas ängstlich und willst das auf Entfernung halten. Also bist du nicht länger ich, du bist ein Du. Das hilft.

Auf der frisch eingerichteten Corona-Hotline hattest du erst nach einer Dreiviertelstunde Warteschleife jemanden erreicht. Warten Sie, hat man gesagt. Warten ist jetzt dein Motto.

Bleiben Sie zu Hause, hat man gesagt. Keinen Kontakt zu anderen. Und fahren Sie bloss nicht ins Spital oder zu Ärzten. Wenn es Ihnen schlechter gehen sollte, rufen Sie wieder die Hotline an. Daran willst du gar nicht denken.

Du glaubst, am nächsten Tag wirst du das Ergebnis haben. Es wird schon nichts sein. Und Venedig hat sich trotzdem gelohnt. Der Sonnen­untergang, vom Vaporetto aus betrachtet, der fabelhafte Cappuccino. Du machst dir einen etwas weniger fabelhaften Cappuccino, siehst aus dem Fenster, noch fehlt dir das grosse Draussen nicht, du bist ja gerade erst ein paar Stunden zu Hause.

Vor der Zimmertür liegt ein Schutzanzug, den die Ärztin abgelegt hat wie eine alte Schlangen­haut. Sie hatte, als sie ankam, keine Panik in der Nachbar­schaft erzeugen wollen und deshalb den Anzug erst vor deiner Wohnungstür angezogen. Nun blieb das aparte Kleidungs­stück offenbar aus demselben Grund zurück. Du überlegst dir, was du damit machen sollst, noch bist du zu Scherzen aufgelegt und spielst mit der Idee, ihn anzuziehen und Selfies zu machen.

Doch greifst du lieber zu Popcorn mit Karamell, der Vorrat, den du in vorauseilendem Gehorsam angelegt hast (ohne eine Vorstellung davon, dass es tatsächlich notwendig werden würde). Kurz verklebt dir das Karamell einen Zahn mit Plombe. Dann kommt dir der Gedanke, dass du, wenn es nötig werden sollte, vermutlich nicht mal zum Zahnarzt gehen dürftest. Die Packung leerst du trotzdem – Gier vor Vernunft.

Beschwichtigungsrituale.

Die Ärztin, die bei dir war, hat gesagt, sie habe Hunderte Menschen getestet. Und die Hotline hat gesagt, die Labore seien auf Hochbetrieb. Es ist Wochenende. Freunde rufen an und geben dir widersprüchliche Tipps. Du hältst dich eisern an das, was der freundliche Hotline-Mensch gesagt hat: keinen Kontakt nach aussen. Niemand hat Kontrollen angedroht, niemand hat dich unter Druck gesetzt. Das Prozedere ist ganz unbürokratisch, du machst es freiwillig.

Eine endlose Flut von Nachrichten. Die Bericht­erstattung pendelt zwischen trocken-seriös und hysterisch-eskalierend. Du belächelst die Panik. Und denkst dann trotzdem: Auch der Cappuccino in Venedig wäre kein Ableben wert gewesen. Da fällt dir der blöde Spruch ein: Venedig sehen und sterben. Du drehst ab. Und findest dich lächerlich.

Du stehst am Fenster und schaust hinaus. Gegenüber ist eine hell erleuchtete Auslage mit Antiquitäten. Keiner auf der Strasse. Dein Hund versteht nicht, warum ihr am Abend keine Runde dreht. Macht nichts, sagst du zu ihm, morgen wissen wir mehr, und dann gehen wir spazieren. Die Möglichkeit, dass der Test positiv sein könnte, nimmst du nicht zur Kenntnis.

Dein volljähriges Kind hat ernste Probleme, doch du darfst es nicht treffen. Deine Mutter auch nicht! Schliesslich gehört sie zur Risiko­gruppe mit den höchsten Sterberaten.

Als am Morgen niemand von der Behörde anruft, trägst du das Handy mit dir herum wie einen externen Herz­schritt­macher. In der Küche ist kein Empfang. Deshalb rennst du beim Kochen immer wieder ins Wohn­zimmer und siehst nach, ob der Anruf jetzt da ist. Ist er nicht. Dafür wollen Kolleginnen, die du vor kurzem auf einer Tagung trafst, wissen, ob du schon etwas weisst. Sie dürfen nämlich nicht ins Büro, solange du dein Ergebnis nicht hast. Sie werden heute noch vier Mal nachfragen.

Auch der Hund muss mal raus. Bei jedem Wetter.

Der Hund darf jetzt ins Stiegenhaus, die liebens­würdige Nachbarin hat angeboten, ihm Auslauf zu geben. Du bleibst allein in der Wohnung. Das macht dir noch nichts, du hast andere Sorgen als das Alleinsein: Kopf­schmerzen, Hals­schmerzen und ein Telefon, das nicht klingelt.

So schreibst du weiter an deinem Vortrag für die Konferenz, von der du jetzt nicht mehr weisst, ob du hinfahren kannst. Der Hund kommt zurück, du nimmst Schmerz­mittel, sie helfen nicht, du schreibst und wartest. Du freust dich, dass du jetzt Zeit zum Schreiben hast – was im Termin­kalender steht, ist hinfällig geworden.

Am Nachmittag kein Anruf, und du ringst die Fantasie nieder, dir den Schutz­anzug anzuziehen und damit die Menschen auf der Strasse zu erschrecken. Du solltest den Anzug entsorgen, aber du weisst nicht, wie. Du hast auch etwas Sorge, ihn anzufassen, schliesslich war die Ärztin den ganzen Tag auf Abstrich­jagd durch Wien unterwegs. Du schämst dich, weil dir das lächerlich vorkommt, du sorgst dich trotzdem.

Am frühen Abend hast du das erste Mal das Gefühl, die Dinge liefen langsam aus dem Ruder. Dabei geht es dir noch immer vergleichs­weise gut: ein wenig Halsweh und Husten, Kopf- und Glieder­schmerzen. Kein Fieber. Du fühlst eine hündische Dankbarkeit. Weil du nur Halsweh, Husten, Kopf- und Glieder­schmerzen hast. Das sind die schönsten Symptome der Welt, solange du kein Fieber und keine Atemnot hast. Wenn du ins Spital müsstest, du wüsstest nicht, wohin mit dem Hund.

Am nächsten Morgen holt ihn die Nachbarin wieder im Stiegen­haus ab und ruft dir von weitem zu: Jetzt weiss das ganze Haus Bescheid. Du weisst nicht, ob das gut oder schlecht ist. Der Kamin­feger wird am nächsten Tag deine Wohnung meiden und alle anderen aufsuchen.

Du hast über die gut funktionierende Hotline getwittert, um Mitmenschen zu beruhigen. Ein Reporter ruft an und möchte ein Skype-Interview, wenn das Testergebnis da ist. Du freust dich auf Aussen­kontakt und sagst zu. Du schreibst an deinem Vortrag, an deinem Roman, zwischen­durch wird gewagte Unter­wäsche mit Samt­sternchen bestellt. Du könntest auch in Sack und Asche dasitzen. Es wäre egal.

Das Testergebnis kommt nicht. Also rufst du bei der Hotline an, und man sagt dir, dass das Labor arbeitet. Du sollst auf den Rückruf warten. Also wartest du.

Du nutzt exzessiv Social Media, bis spät in die Nacht. Weil es dich ablenkt und dir so was wie Nähe verspricht. Du spürst dich ein bisschen weniger, aber fürchtest dich nicht mehr. Das Kind schreibt traurige SMS. Du vertröstest es auf morgen.

Tags drauf sitzt du in Sack und Asche da. Mit fettigen Haaren. Du schaust aus dem Fenster. Die Welt ist ein Stückchen weiter weggerückt.

Der Reporter will erst skypen, wenn das Ergebnis feststeht. Es beginnt eintönig zu werden. Du weisst nicht mehr, ob du nun drei Tage hier sitzt oder zwei. Oder vier? Du diagnostizierst dir eine akute Dramen­bereitschaft, weil du nicht warten kannst wie alle anderen auch. Du hoffst, dass das Ergebnis okay ist. Hoffnung jetzt also – bisher bist du noch davon ausgegangen, du seist ganz sicher gesund.

Freunde schreiben, ob sie etwas für dich tun können, manche wollen dich besuchen kommen. Du willst auf Nummer sicher gehen und erlaubst es ihnen nicht. Eine Nachbarin kauft Gemüse und Hühnchen für den Hund, eine andere stellt dir eine Tüte Milch vor die Tür. Du darfst die Gaben erst holen, wenn sie wieder weg sind. Du füllst ein kleines Fläschchen mit Desinfektions­mittel ab und stellst es raus. Für die Nachbarin. Sicher ist sicher. Später wirst du nachlesen, dass Seife genügt. Du sagst den ersten Auftritt ab.

Weil du nicht schlafen kannst, siehst du dir «Messiah» auf Netflix an, alle Folgen hinter­einander, bis die Augen brennen, als hätte man Sand in sie gestreut. Du bist abgeschlagen, aber nicht müde. Du bist einfach nur ein grosses Warten.

Der Reporter entschliesst sich am nächsten Tag, das Interview nun halt ohne vorläufiges Ergebnis zu machen. Du schminkst dich und wäschst dir die Haare, damit die Nachwelt was von dir hat, im Falle des Falles. Du sagst den nächsten Auftritt ab, was sich empfindlich auf deine Monats­abrechnung auswirken wird. Bleibt die Keynote. Die willst du wirklich halten, unbedingt. Du twitterst dich um Kopf und Kragen. Im Schlaf­zimmer hast du ein Fitness­gerät, verwendest es aber nicht.

Am vierten Abend fragst du dich, ob dein Abstrich vielleicht verloren gegangen ist. Oder deine Telefon­nummer. Wieder rufst du bei der Hotline an, gehst dort einer Reihe von Menschen und dir selbst auf die Nerven und erfährst – nichts Neues. Die Veranstalter der Konferenz wollen wissen, ob du kommst. Du schickst ihnen schon mal die Keynote und hoffst, bald hinterher­kommen zu können.

Wird der Hund langsam depressiv? Sehr verspannt jedenfalls. Du legst ihm warme Kräuter­kissen auf und wünschst dir, jemand täte dasselbe für dich.

Das Kind meldet sich nicht und hebt auch nicht ab. Es fehlt dir, schneidend. Du denkst an Menschen, die wochenlang eingeschlossen verbringen, Monate, Jahre. Das ist Folter, die sie ertragen müssen. Du hast den aller­grössten Respekt vor ihnen. Du fühlst dich wie eine Karikatur. Fünf Tage. Du spielst «Civilization V» bis morgens um vier Uhr. Die Welt brennt. Die im Laptop.

Der Hund zeigt aufkeimende Sympathie für die Nachbarin, als er von der Morgen­runde mit ihr zurückkehrt. Draussen scheint die Sonne. Du öffnest das Fenster. Es ist warm. Du erinnerst dich, dass der Februar vorbei ist, und freust dich. Das Handy ist wie an dich angewachsen, Teil von Körper und Seele. Dir geht es nicht schlecht, du glaubst nicht mehr daran, dass du infiziert sein könntest. Du hast zwei Kilo zugenommen. Der Karamell­popcorn­vorrat ist aus. Das Kind ruft an, es geht ihm besser. Du schreibst.

Am Nachmittag folgt die Entwarnung. Sie rufen dich an und sagen in feierlichem Tonfall, du bist negativ getestet worden. Das fühlt sich nach einer verliehenen Auszeichnung an. Die Nachbarn werden dich trotzdem Tage später noch meiden. Komm, sagst du zum Hund. Wir gehen raus.

Zur Autorin

Julya Rabinowich ist Theater-, Roman- und Jugendbuch­autorin, Malerin und Simultan­dolmetscherin. Sie wurde 1970 in St. Petersburg geboren und 1977, wie sie selbst sagt, «entwurzelt und umgetopft nach Wien». Dort hat sie am Zentrum für Translations­wissenschaft sowie an der Universität für angewandte Kunst studiert. Für ihren Debütroman «Spaltkopf» erhielt sie den Rauriser Literaturpreis. 2019 wurde «Herznovelle» mit Martina Gedeck in der Hauptrolle unter dem Titel «Herzjagen» verfilmt. Zuletzt erschien von ihr der Jugend­roman «Hinter Glas».