Die vergifteten Staaten
Heute Dienstag kämpfen Joe Biden und Bernie Sanders in Michigan darum, wer im Herbst gegen Donald Trump antritt. Sie treffen dort auf eine gigantische Gesundheitskrise, die schon lange schwelt. Und die erklärt, warum es die Demokraten gegen den Amtsinhaber schwer haben werden.
Von Elia Blülle und Oliver Fuchs, 10.03.2020
Der 25. April 2014 sollte ein ganz besonderer Tag werden für Flint, Michigan. Der Beginn einer neuen Ära.
Dayne Walling, 40-jährig, bleich, gut gelaunt, Bürgermeister der amerikanischen Kleinstadt, steht im Maschinenraum der örtlichen Wasserwerke. Er erhebt sein Glas zum Trinkspruch. «Here is to Flint», sagt er. Die Männer um ihn herum wiederholen im Chor. Sie setzen ihre Wassergläser an die Lippen, verzückte Gesichter, die Augen geschlossen – als würden sie gerade kein Leitungswasser trinken, sondern einen gut gereiften Bourbon.
Dann drückt er einen Knopf, der Flint abkoppelt von der Wasserversorgung der nahen Metropole Detroit. Fortan würden die Anwohnerinnen jenes Wasser trinken, das ihr Bürgermeister gerade öffentlich degustiert hatte: aus dem lokalen Flint River. Damit wollte die finanziell ausgeblutete Stadt jene Dutzende Millionen Dollar einsparen, die jährlich an Detroit flossen. Sowie Flint, so sagte es Walling, «zurück zu seinen Wurzeln bringen».
Stattdessen sollte sich ausgerechnet hier bald eine der grössten humanitären Katastrophen der USA entfalten. Eine, die schonungslos die tiefen strukturellen Probleme dieses Landes offenlegen würde. Die verständlich macht, wie der Reality-TV-Star Donald Trump im wichtigen Swing State Michigan vor vier Jahren die Präsidentenwahl gewinnen konnte – und warum genau dasselbe dieses Jahr wieder passieren könnte.
Amerika, sagt die Journalistin Anna Clark, «besteht aus tausend Flints».
Der Motor kommt ins Stottern
«Der Flint River fliesst wie ein purpurner Seidenfaden durchs Tal», schrieb Alexis de Tocqueville. Der französische Publizist und Politikwissenschaftler legte vor 200 Jahren während seiner Studien zur amerikanischen Demokratie einen Zwischenstopp in Flint ein. Damals eine kleine Siedlung im Herzen von Michigan. Würde Tocqueville heute noch leben: Er fände wohl keine so blumigen Worte mehr für den Fluss.
Flint, die achtgrösste Stadt Michigans, war im vergangenen Jahrhundert eines der Zentren des amerikanischen Wirtschaftswunders. Tausende Arbeiter stillten von hier aus die Nachfrage nach Automobilen. General Motors hatte hier sein Hauptquartier aufgeschlagen, und die riesigen Fabrikhallen des Autoherstellers schenkten der Stadt ein gewaltiges Wirtschaftswachstum. Sowie den Übernamen «Vehicle City» – die Autostadt.
Die Produktionsbänder ratterten, und die Bevölkerung wuchs Jahr für Jahr. In den 1950er-Jahren arbeiteten hier etwa 77’000 Menschen für General Motors – bei rund 165’000 Einwohnern. Als Vizepräsident Hubert Humphrey 1964 während einer Wahlkampagne in Flint einen Zwischenstopp einlegte, bemerkte er, die Stadt galoppiere mit ihrem «unglaublichen Wirtschaftswachstum und Fortschritt» gerade allen davon.
Das ist Vergangenheit. Seit den Nullerjahren kriselte es bei General Motors. Nach der Finanzkrise wäre der einst so erfolgreiche Autohersteller 2008 ohne staatliche Hilfe von knapp 50 Milliarden Dollar Konkurs gegangen. Die Auswirkungen für Flint waren drastisch: Von 2007 auf 2009 stieg die Arbeitslosenquote in der Stadt von 15 Prozent auf 25 Prozent. General Motors ist zwar immer noch der wichtigste Arbeitgeber, hat aber in den vergangenen 30 Jahren die meisten Produktionsstätten geschlossen. Inzwischen stehen die Autofabriken in Mexiko.
Vom Wirtschaftswunder übrig blieb der Dreck, der den Flint River in eine toxische Brühe verwandelt hatte – gefährlich für Menschen und Tiere. 1945 flossen 2,5 Milliarden Tonnen ungefiltertes Abwasser in amerikanische Flüsse und Seen – jeden Tag. Die Kinder jener Generation lernten, dass sie geangelte Fische gleich wieder zurück ins Wasser werfen mussten.
Heute leben in Flint nur noch halb so viele Menschen wie noch 1960. Allein in den letzten 10 Jahren verliessen 18 Prozent der Menschen die Stadt. Viele Häuser stehen leer. 2013 sank die Bevölkerungszahl erstmals seit 1920 wieder unter 100’000. Flint stirbt einen zähen, langsamen Tod.
Und die Politiker spotteten, oder sie schwiegen gleich ganz.
Spätestens in den frühen 2000er-Jahren hätte klar sein müssen, dass Flint schleunigst einen Rettungsplan benötigte. Die Infrastruktur war marode. Die leer stehenden Fabriken zerfielen. Herunterstürzende Gebäudeteile drohten Passanten zu erschlagen. Immer mehr Strassenlaternen blieben auch in der Nacht dunkel. «Flint bröckelte sprichwörtlich auseinander», schreibt die Journalistin Anna Clark.
Statt die Stadt finanziell zu unterstützen, tat die Regierung von Michigan das genaue Gegenteil – zuerst unter einem Republikaner, dann unter einer Demokratin. Zwischen 1998 und 2016 kürzte Michigan schätzungsweise über 5,5 Milliarden Dollar aus dem Budget, das für Städte wie Flint gedacht war. Der Bundesstaat brauchte das Geld, um eigene Finanzlöcher zu stopfen.
Das wog besonders schwer, weil andere Bundesstaaten einen anderen Weg wählten. Während Michigan die Zahlungen an seine Städte reduzierte, erhöhten sie 45 von 51 amerikanischen Bundesstaaten – trotz des ökonomischen Abschwungs. Keine andere Regierung strich über die Jahre das Geld so stark zusammen wie jene von Michigan.
Auf diese Weise verlor Flint zwischen 2003 und 2014 etwa 54 Millionen Dollar. Geld, das gereicht hätte, um alle Defizite zu tilgen, alle Schulden zu bezahlen und trotzdem noch ein Plus zu erwirtschaften. «Wenn Sie eine Stadt töten wollen», schreibt Anna Clark: «Das ist das Rezept.»
2011 stand Flint kurz vor dem Bankrott. Die Rechnung wies ein Minus von 25 Millionen Dollar auf, und als Sofortmassnahme setzte der gerade neu gewählte republikanische Gouverneur Rick Snyder einen Krisenmanager ein. Innert vier Jahren wurde der Posten fünfmal neu besetzt. Die Krisenmanager sollten als unabhängige und aussenstehende Akteure die Stadt aus ihrer desaströsen Finanzlage befreien und hielten die alleinige Entscheidungsmacht. Die offizielle städtische Führung und Bürgermeister Dayne Walling dienten nur noch als Dekoration.
Endlich eigenes Wasser
Der Ort, an dem der Krisenmanager zu sparen gedachte, war ausgerechnet das Trinkwasser. Detroit, selber ständig knapp bei Kasse, verrechnete der Bevölkerung von Flint für das bezogene Trinkwasser Millionen. Gebühren von bis zu 140 Dollar pro Monat und Haushalt trieben vor allem die armen Menschen in den Ruin – 40 Prozent der Anwohnerinnen verdienten weniger als 15’000 Dollar im Jahr. Eine Studie fand heraus, dass die Bürger von Flint landesweit mit Abstand am meisten für ihr Trinkwasser bezahlten – doppelt so viel wie der Durchschnitt.
2013 genehmigte der Krisenmanager einen Plan, künftig das Trinkwasser nicht mehr aus Detroit zu beziehen, sondern direkt aus dem Flint River. «Normales, gutes, pures Trinkwasser direkt aus unserem Hinterhof», wie Bürgermeister Dayne Walling zu sagen pflegte. Damit – so die Hoffnung – würden Stadt wie Private Millionen einsparen, das Wirtschaftswachstum würde angekurbelt, der Aufschwung beginnen.
Kein Wunder, klatschten alle hoffnungsvoll, als Bürgermeister Walling im darauffolgenden Frühling vor Publikum die Wasserzufuhr aus Detroit abklemmte. «Der Wechsel zum Flint River läutet eine neue Ära ein», titelte die Lokalzeitung. «Wir erheben unsere Trinkgläser», schrieb der Chefredaktor vom «Flint Journal» in seinem Editorial.
Doch die Freude währte nicht lange.
Fünf Wochen später sagte ein bärtiger Mann einem TV-Reporter, dass er nicht wisse, wie das Wasser sauber sein könne, wenn es doch stinke und schlecht schmecke. Seine Nachbarin erzählte, dass sich ihre Haut nach dem Duschen anders anfühle. Und in der Lokalzeitung kommentierte eine ältere Dame, das neue Wasser sei «irgendwie komisch».
Bald berichtete die lokale NBC-Fernsehstation, dass viele Bürger das Leitungswasser meiden und stattdessen aus gekauften Wasserflaschen trinken würden. Bereits da wiegelten die Behörden ab – und versicherten, dass das Wasser alle Sicherheitsbestimmungen erfülle und konstant überwacht würde. «Es ist ein qualitativ gutes Produkt», sagte Bürgermeister Dayne Walling. «Ich denke, die Menschen verschwenden ihr wertvolles Geld, wenn sie jetzt Wasserflaschen kaufen.»
Es war der Anfang eines monatelangen Trauerspiels. Über Monate hinweg zögerten die Politiker, wichen aus, manche logen gar. Sie berichteten von Fäkalbakterien im Wasser, gaben wieder Entwarnung. Räumten ein, dass das Wasser Älteren und Schwächeren schaden und allenfalls Krebs auslösen könne, für Gesunde aber sei es problemlos. Bürgerinnen begannen, öffentlich zu protestieren.
Im Januar 2015 berichtete die «Detroit Free Press», dass Kinder in Flint von mysteriösen Hautausschlägen und Krankheiten geplagt würden. Der Stadtrat von Flint beschloss daraufhin, das Trinkwasser wieder aus Detroit zu beziehen. Doch der Entscheid wurde nie ausgeführt: Der vom Bundesstaat eingesetzte Krisenmanager, inzwischen Jerry Ambrose, setzte den demokratisch legitimierten Entscheid mit seiner Machtfülle ausser Kraft und bezeichnete ihn als «unverständlich» und «zu teuer».
Im Sommer erhielt die Stadt ein Memo aus Washington. Ein Wissenschaftler von der nationalen Umweltbehörde schrieb, dass das Wasser unbedingt mit Korrosionsschutz behandelt werden müsse, um eine Bleiverseuchung zu verhindern. Die Behörden ignorierten es.
Nachdem das Memo an die Öffentlichkeit gelangte, behauptete ein Pressesprecher der Umweltbehörde von Michigan, dass ihre Tests keine Probleme anzeigen würden. «Alle, die besorgt sind wegen des Bleis, können sich jetzt beruhigen», sagte er im Radio. Währenddessen trank Bürgermeister Dayne Walling bei einem Fernsehsender vor laufender Kamera aus einer Kaffeetasse, die gefüllt war mit Flint-Wasser.
Auch Walling versicherte den Zuschauern, dass es kein Problem gäbe mit dem Wasser. «Ich trinke es jeden Tag.»
Erst im November 2015 stellte die nationale Umweltschutzbehörde öffentlich und unmissverständlich fest, was die Bürger längst vermutet hatten: Das Trinkwasser aus dem Flint River war stark mit Blei verseucht – und somit für Menschen hochgiftig. Gelangt Blei in den Körper, können bereits kleine Mengen Hirnschwellungen, Müdigkeit, Bauchschmerzen, Wachstumsstörungen, Hörprobleme, Aufmerksamkeitsstörungen, Nierenversagen und in extremen Fällen den Tod verursachen.
Korrosionsschutz gegen das Blei
Blei war einst ein beliebter Baustoff für Wasserleitungen. Es ist formbar, ausdauernd, günstig – und oxidiert weniger stark als andere Metalle wie zum Beispiel Eisen. Wegen ihrer potenziellen Giftigkeit sind Wasserleitungen aus Blei in der Schweiz trotzdem seit über 100 Jahren verboten. In den USA wurden sie bis spät in die 1950er-Jahre produziert und ausgelegt. Bleileitungen sind bis heute in vielen amerikanischen Städten das Rückgrat vieler Wassersysteme.
In Flint sind viele der über 15’000 Bleirohre so alt, dass niemand mehr weiss, wo sie genau liegen. Der einzige Weg, sie zu finden, bestand darin, eine Kartei aus 45’000 Indexkarten zu durchwühlen, in der Material und Örtlichkeit der Leitungen vor Jahrzehnten handschriftlich festgehalten worden waren. Im Schnitt waren sie 80 Jahre alt.
Doch nicht nur in Flint ist die essenzielle Infrastruktur marode. Die amerikanische Umweltbehörde EPA schätzt, dass eine nationale Sanierung aller Bleileitungen im amerikanischen Boden über 80 Milliarden Dollar kosten würde. Deshalb verlangt das Gesetz von den Städten nicht, dass sie ihre Leitungen ersetzen. Sie müssen einzig ihr Wasser regelmässig testen und untersuchen, ob es «korrosiv» ist, also potenziell Blei aus den Leitungen freisetzen könnte. Fallen die Tests positiv aus, muss das Wasser mit Korrosionsschutz behandelt werden, damit die Rohre intakt bleiben.
Das Flusswasser von Flint ist korrosiv. Doch das wusste der Bürgermeister nicht, als er unter Applaus die Wasserquelle wechselte. Die Umweltbehörde von Michigan hatte das Flusswasser ungenügend getestet – und dementsprechend nicht aufbereitet. Als durch die Bleileitungen ab April 2014 nicht mehr behandeltes Detroit-Wasser floss, sondern hochkorrosives Flusswasser, nahm das Unglück seinen Lauf.
Die Stadt liess ihre Bürgerinnen mit ihrem eigenen Flusswasser vergiften.
Schätzungsweise werden der Wasserkrise 1760 gesunde Lebensjahre zum Opfer fallen. 12 Menschen sind bereits gestorben. Letzten Endes wird Flint die Wasserkrise eine halbe Milliarde Dollar kosten. So hoch schätzt ein Wissenschaftler der Columbia University die Gesundheitskosten, die als direkte Folge der Bleivergiftungen zu verbuchen sind.
Politikversagen und Rassismus
Wer dafür die Hauptverantwortung trägt, das versuchen Gerichte in den USA gerade herauszufinden. Klar aber ist: Nicht Trump wählende Extremisten haben die Wasserkrise in Flint ausgelöst – und das Vertrauen in die Institutionen zerstört –, sondern die Behörden von Michigan. Demokraten und gemässigte Republikaner.
Flint ist kein Einzelfall. In Tausenden amerikanischen Städten liegt die Infrastruktur am Boden. Landesweit sind 56’000 Brücken marode. Das Stromnetz ist veraltet, jede fünfte Strasse müsste ausgebessert werden. In der Weltmetropole New York ist der Zustand der Metro so schlecht, dass 2017 die Zahl der Verspätungen auf 70’000 angestiegen ist – im Monat.
Der Zerfall ist das Resultat eines Politikversagens von gigantischem Ausmass, das auch unter der Ägide von Demokraten wie Barack Obama und Bill Clinton seinen Lauf genommen hat. Ein Politikversagen, unter dem besonders nicht weisse Minderheiten zu leiden haben. Minderheiten, deren Stimmen an den Urnen fehlten, als die Demokratin Hillary Clinton in Michigan siegesgewiss gegen Donald Trump antrat – und verlor.
Die Michigan Civil Rights Commission schrieb 2017 in einem 129-seitigen Report, dass der «tief verwurzelte institutionelle, systematische und historische Rassismus» indirekt zur verhängnisvollen Sparmassnahme geführt habe, welche die Wasserkrise initiiert habe. Am härtesten von der Bleivergiftung betroffen waren nicht weisse Minderheiten. 57 Prozent der Bevölkerung von Flint besteht aus Afroamerikanern. Wie viele Städte in Amerika ist auch Flint stark segregiert.
Das luxuriöse Duran Hotel im Zentrum der Stadt beherbergte bis 1954 keine schwarzen Gäste; Kinos, Schlittschuhbahnen und Konzerthallen erlaubten afroamerikanischen Bürgern den Besuch nur zu bestimmten Zeiten. Im Schwimmbad durften schwarze Kinder damals nur am Mittwoch planschen – und jeden Mittwochabend wurde das Bad ausgelassen und geputzt, bevor am nächsten Morgen wieder die Weissen für sechs Tage an der Reihe waren.
Die schwarzen Arbeiter verdienten in den Fabrikhallen viel weniger als die weissen Kollegen – und bis spät in die 1960er-Jahre durften sie nur in bestimmten Gebieten wohnen. Die «Segregationspolitik», stellte der «Kerner Report» im Auftrag der US-Regierung bereits vor über 50 Jahren fest, degradierte schwarze Bürger in einen «permanenten unterlegenen ökonomischen Status».
Als General Motors in den 1980ern begann, die Arbeiter zu entlassen, und später eine grosse Rezession ausbrach, schlitterten vor allem afroamerikanische Bürgerinnen in die Armut. Ihnen fehlten die Reserven. Heute leben 42 Prozent der städtischen Bevölkerung von Flint unter der Armutsgrenze. Der Stadt fehlt das Geld, um ihnen zu helfen, dem Bundesstaat ebenfalls – und der nationalen Regierung fehlt es am Willen.
«Obama, can’t you see»
Im Frühling 2016 versammelten sich auch viele schwarze Demonstranten vor einer Highschool in Flint, als der damalige US-Präsident Barack Obama die Stadt besuchte. «Obama, Obama, can’t you see», brüllten ihm die Bürger entgegen, «this Flint water is killing me.»
Der Präsident versprach im Schulgebäude, dass er nicht ruhen werde, bis jeder Tropfen Wasser wieder trinkbar sei, weil das Teil der fundamentalen Regierungsverantwortung sei. Er unterbrach seine Rede immer wieder und musste husten. «Kann ich ein Glas Wasser haben?», fragte Obama irgendwann. Das Publikum lachte.
Viele waren entrüstet, dass Obama belustigt an seinem Wasserglas nippte, anstatt den sofortigen Notstand für Flint auszurufen. «Obama kam als mein Präsident», erzählt später eine Afroamerikanerin in einem Dokumentarfilm von Michael Moore , «als er uns verliess, war er es nicht mehr.»
Der linke Filmemacher («Fahrenheit 9/11») und Aktivist ist der wohl prominenteste Sohn der Stadt Flint. Er ist einer der wenigen prominenten Stimmen auf der Seite der Trump-Gegner, die das Wahldesaster für die Demokraten früh kommen sahen. Im Juli 2016, kurz bevor die Demokraten Clinton in einem dreitägigen Spektakel zur Kandidatin kürten, schrieb Moore einen Blogbeitrag. Er ist keine 3000 Wörter lang und beginnt so: «Sprecht die Worte aus, ihr werdet sie die nächsten vier Jahre sagen: President Trump.»
Er habe keine Zweifel, «wenn die Menschen von der Couch aus wählen könnten, auf ihrer X-Box-Spielkonsole oder auf ihrer Playstation, dann würde Hillary in einem Erdrutsch gewinnen».
Aber, schreibt er weiter. «So läuft es nicht in Amerika.»
Die Wahlbeteiligung ist in den USA verglichen mit anderen westlichen Staaten miserabel. 2016 betrug sie gerundet 56 Prozent. Im Vergleich mit den anderen OECD-Staaten ist sie beinahe das Schlusslicht. Oder in den Worten der Knight Foundation: «100 Millionen Menschen in Amerika gehen nicht wählen.»
Wählen ist in den USA ein Kraftakt. Da der Wahltag immer auf einen gewöhnlichen Arbeitstag fällt, schaffen es viele nicht an die Urne. Restriktive Wahlgesetze – wer vorbestraft ist, darf zum Beispiel nicht wählen – benachteiligen systematisch nicht weisse Minderheiten. Wählen ist eine Anstrengung, die nur hoch motivierte Menschen auf sich nehmen. Fehlt die Motivation, leiden darunter vor allem die auf Minderheiten angewiesenen Demokraten.
Michigan galt bis zur Trump-Wahl als solide demokratisch. So solide, dass Clinton den Staat während ihres Wahlkampfs kaum besuchte – und ihr Team wenige Tage vor der Wahl freiwillige Helfer auf halbem Weg dorthin in andere Staaten beorderte. Tatsächlich holte Trump in Michigan 30’000 Stimmen weniger als Präsident Bush im Jahr 2004.
Er gewann trotzdem. Weil Hillary Clinton noch mehr verlor.
Wie konnte das passieren?
Ein Blick auf die Resultate in Flint erklärt vielleicht nicht die ganze Geschichte – aber einen Teil davon. Auf der Website von Genesee County – zu dem Flint gehört – findet man folgende offiziell beglaubigten Resultate:
2008 gewann Barack Obama im County gegen den Republikaner John McCain mit 80’000 Stimmen Vorsprung.
2012 waren es noch 60’000, gegen Mitt Romney.
Nach Ausbruch der verheerenden Wasserkrise war Clintons Vorsprung 2016 in Flint auf gerade noch 18’000 geschrumpft. 51 Prozent der Stimmen gingen an Clinton – 42 Prozent an Trump. Die Wahlbeteiligung im mehrheitlich schwarzen Wahlbezirk lag rund 10 Prozent tiefer als noch 8 Jahre zuvor.
In Flint waren die Wähler nicht scharenweise zu Donald Trump übergelaufen. Viele blieben schlicht zu Hause.
So etwas habe sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen, sagte eine Parteifunktionärin der Demokraten am Tag nach der Wahl. Monatelang habe sie versucht, die Parteizentrale vor einem «Kollaps in Zeitlupe» zu warnen. Diese hatte zugeschaut, wie sich in Michigan wichtige Wählergruppen der Demokraten abwandten: Frauen und junge Afroamerikaner.
Was bedeutet das für das, was in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten auf Joe Biden und Bernie Sanders zukommt?
Die gute alte Zeit
In der Nacht auf den ersten März 2020 stieg der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden auf ein Podium in South Carolina. Er blickte zu seinen jubelnden Anhängern herunter – seine Stimme überschlug sich: «Schliesst euch mir an», brüllte er, «wenn ihr einen Demokraten nominieren wollt, jemanden, der sein ganzes Leben lang Demokrat war, einen stolzen Demokraten – einen Obama-Biden-Demokraten!»
Damit fasste er den Graben in seiner Partei perfekt zusammen. Nur er, Biden, und der unabhängige Senator aus Vermont, Bernie Sanders, haben noch Chancen, von den Demokraten als Herausforderer von Trump nominiert zu werden. Alle anderen sind bereits aus dem Rennen: Elizabeth Warren, Michael Bloomberg und Pete Buttigieg haben aufgegeben.
Bernie Sanders hat in den letzten Monaten eine grosse Euphorie ausgelöst und mit der Hilfe Tausender Freiwilliger eine riesige Graswurzelbewegung auf die Beine gestellt, wie sie die USA noch nie gesehen hat. Sollte er die Vorwahlen gewinnen, wäre er der weitaus linkste Kandidat, der je für eine amerikanische Präsidentschaftswahl nominiert würde. Er bezeichnet sich als «demokratischen Sozialisten», fordert gebührenfreie Schulen, will die Milliardäre stärker besteuern und das Gesundheitssystem mit einer öffentlichen Krankenversicherung revolutionieren.
Auf der anderen Seite steht Joe Biden als Kandidat des Establishments.
Die Vorwahlen sind ein Déjà-vu: Ein Kandidat verspricht eine Rückkehr in die Zeit unter Obama; der andere einen radikalen Bruch damit. So war es auch schon vor vier Jahren, nur dass auf der Seite der Bewahrer der Kopf gewechselt hat. 2016 war es Obamas Aussenministerin – nun ist es Obamas Vizepräsident.
Heute treffen Sanders und Biden in Michigan aufeinander.
Die Chancen von Sanders liegen gut – vor vier Jahren gewann er die Vorwahlen gegen Hillary Clinton im Bundesstaat überraschend. Damals traten die beiden bei einer Fernsehdebatte auch in Flint auf. «Frau Clinton», fragte der Moderator, «die Menschen hier können das Wasser in ihren Wohnungen immer noch nicht trinken. Sie können ihre Kinder nicht baden.» Ob sie jetzt spezifisch sagen könne, was sie als Präsidentin unternehmen werde.
Clinton sagte, dass sie unterstütze, was Präsident Obama bereits tue. Und dass die neue Bürgermeisterin von Flint ihre Unterstützung habe.
Selbe Frage an Sanders. Der sagte, wenn ein Bundesstaat die eigenen Bürger vergifte, dann müsse Washington eingreifen. Der Staat habe doch schon so viele Fehler gemacht, warf der Moderator ein. Wieso die Menschen in Flint darauf vertrauten, dass noch mehr Staat die Antwort sei. Sanders schoss zurück, ob die Menschen stattdessen den Firmen glauben sollten, die «Flint zerstört haben, indem sie ihre Fabriken hier geschlossen haben – und nach China oder Mexiko gezogen sind?»
Was habt ihr schon zu verlieren?
Wie schrieb Journalistin Clark? Amerika, ein Land «aus tausend Flints».
Die Wasserkrise von Flint ist zum Symbol des amerikanischen Albtraums geworden. Ausbleibende Investitionen haben die amerikanische Infrastruktur zerstört. Schwache Umweltregulierungen gebaren Umweltverschmutzung. Politiker haben während Jahrzehnten staatliche Institutionen ausgeblutet – und legten so die Kontrollen lahm.
Donald Trump hat daran nichts geändert. Im Gegenteil. Er hat Umweltstandards im grossen Stil zerschlagen, das von Obama ausgearbeitete Krankenversicherungsgesetz ausgehöhlt und die Steuerlast von Unternehmen auf den Mittelstand umgelegt. Für die Politik der Demokraten war die erste Trump-Legislatur ein Desaster.
Für sie stellt sich nun die eine und alles entscheidende Frage: Wer kann gewinnen? Wer garantiert, dass sich das Debakel von 2016 nicht wiederholt?
Nach dem «Super Tuesday» scheint die Antwort zu lauten: Joe Biden.
Bernie Sanders ist es trotz breiter Kampagne bisher nicht gelungen, die afroamerikanische Bevölkerung in den Südstaaten für sich zu gewinnen. Kommt hinzu: Das demokratische Establishment will Aussenseiter Sanders um jeden Preis verhindern. Zu diesem Schluss kommt die ideologisch in der Hinsicht unverdächtige «New York Times». Mit Ausnahme der linken Senatorin Elizabeth Warren haben sich alle ehemaligen Kandidaten auf die Seite von Joe Biden geschlagen.
Bernie Sanders hat bisher da gesiegt, wo sich die Menschen enttäuscht von der bisherigen Politik abgewandt hatten. Aber seine versprochene Massenmobilisierung von jungen und neuen Wählern ist bisher ausgeblieben.
Joe Biden verspricht, dieselbe Koalition an die Urnen zu bringen, die einst Barack Obama ins Amt getragen hatte. Aber auch die Liste seiner Schwächen ist lang: Er steht für all das, was die Demokraten in den letzten 20 Jahren falsch gemacht haben.
Im Juli 2020 sollen die letzten Bleirohre in Flint ersetzt werden; im Nachbarstaat Wisconsin werden die Demokraten zur gleichen Zeit den offiziellen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen küren. Er wird im Herbst auf einen Gegner treffen, der kaum ein Problem in Amerika gelöst, aber viele davon zum ersten Mal mit voller Härte ausgesprochen hat; der seinen Wahlkampf mit einem Buch begann, dessen Name «Crippled America» war, verkrüppeltes Amerika; der sich im Wahlkampf explizit an Afroamerikaner wandte.
«Wählt mich», brüllte ihnen Donald Trump in Michigan entgegen. «Was zur Hölle habt ihr schon zu verlieren?»