Wasser für Flint! Aber bitte in Plastikflaschen und nicht aus dem Fluss. Eine Aufnahme von 2017. Mark Power/Magnum Photos/Keystone

Die vergifteten Staaten

Heute Dienstag kämpfen Joe Biden und Bernie Sanders in Michigan darum, wer im Herbst gegen Donald Trump antritt. Sie treffen dort auf eine gigantische Gesundheits­krise, die schon lange schwelt. Und die erklärt, warum es die Demokraten gegen den Amtsinhaber schwer haben werden.

Von Elia Blülle und Oliver Fuchs, 10.03.2020

Der 25. April 2014 sollte ein ganz besonderer Tag werden für Flint, Michigan. Der Beginn einer neuen Ära.

Dayne Walling, 40-jährig, bleich, gut gelaunt, Bürger­meister der amerikanischen Klein­stadt, steht im Maschinen­raum der örtlichen Wasser­werke. Er erhebt sein Glas zum Trinkspruch. «Here is to Flint», sagt er. Die Männer um ihn herum wiederholen im Chor. Sie setzen ihre Wasser­gläser an die Lippen, verzückte Gesichter, die Augen geschlossen – als würden sie gerade kein Leitungs­wasser trinken, sondern einen gut gereiften Bourbon.

Dann drückt er einen Knopf, der Flint abkoppelt von der Wasser­versorgung der nahen Metropole Detroit. Fortan würden die Anwohnerinnen jenes Wasser trinken, das ihr Bürger­meister gerade öffentlich degustiert hatte: aus dem lokalen Flint River. Damit wollte die finanziell ausgeblutete Stadt jene Dutzende Millionen Dollar einsparen, die jährlich an Detroit flossen. Sowie Flint, so sagte es Walling, «zurück zu seinen Wurzeln bringen».

Stattdessen sollte sich ausgerechnet hier bald eine der grössten humanitären Katastrophen der USA entfalten. Eine, die schonungslos die tiefen strukturellen Probleme dieses Landes offenlegen würde. Die verständlich macht, wie der Reality-TV-Star Donald Trump im wichtigen Swing State Michigan vor vier Jahren die Präsidenten­wahl gewinnen konnte – und warum genau dasselbe dieses Jahr wieder passieren könnte.

Amerika, sagt die Journalistin Anna Clark, «besteht aus tausend Flints».

Der Motor kommt ins Stottern

«Der Flint River fliesst wie ein purpurner Seiden­faden durchs Tal», schrieb Alexis de Tocqueville. Der französische Publizist und Politik­wissenschaftler legte vor 200 Jahren während seiner Studien zur amerikanischen Demokratie einen Zwischen­stopp in Flint ein. Damals eine kleine Siedlung im Herzen von Michigan. Würde Tocqueville heute noch leben: Er fände wohl keine so blumigen Worte mehr für den Fluss.

Flint, die achtgrösste Stadt Michigans, war im vergangenen Jahrhundert eines der Zentren des amerikanischen Wirtschafts­wunders. Tausende Arbeiter stillten von hier aus die Nachfrage nach Auto­mobilen. General Motors hatte hier sein Haupt­quartier aufgeschlagen, und die riesigen Fabrik­hallen des Auto­herstellers schenkten der Stadt ein gewaltiges Wirtschafts­wachstum. Sowie den Übernamen «Vehicle City» – die Autostadt.

Als Motoren und Geschäft noch brummten: Ein Betrieb von General Motors in Flint, 1945. Keystone-France/Gamma-Keystone/Getty Images

Die Produktionsbänder ratterten, und die Bevölkerung wuchs Jahr für Jahr. In den 1950er-Jahren arbeiteten hier etwa 77’000 Menschen für General Motors – bei rund 165’000 Einwohnern. Als Vizepräsident Hubert Humphrey 1964 während einer Wahl­kampagne in Flint einen Zwischen­stopp einlegte, bemerkte er, die Stadt galoppiere mit ihrem «unglaublichen Wirtschafts­wachstum und Fortschritt» gerade allen davon.

Das ist Vergangenheit. Seit den Nuller­jahren kriselte es bei General Motors. Nach der Finanzkrise wäre der einst so erfolgreiche Auto­hersteller 2008 ohne staatliche Hilfe von knapp 50 Milliarden Dollar Konkurs gegangen. Die Auswirkungen für Flint waren drastisch: Von 2007 auf 2009 stieg die Arbeitslosenquote in der Stadt von 15 Prozent auf 25 Prozent. General Motors ist zwar immer noch der wichtigste Arbeit­geber, hat aber in den vergangenen 30 Jahren die meisten Produktions­stätten geschlossen. Inzwischen stehen die Autofabriken in Mexiko.

Der Flint River fliesst auf 165 Kilometern durch Michigan und mündet erst in den Shiawassee River und letztlich in den Lake Huron. Matt Black/Magnum Photos/Keystone
Alles auf Halde: Ein Werk von General Motors USA in Flint, 2016. Matt Black/Magnum Photos/Keystone

Vom Wirtschaftswunder übrig blieb der Dreck, der den Flint River in eine toxische Brühe verwandelt hatte – gefährlich für Menschen und Tiere. 1945 flossen 2,5 Milliarden Tonnen ungefiltertes Abwasser in amerikanische Flüsse und Seen – jeden Tag. Die Kinder jener Generation lernten, dass sie geangelte Fische gleich wieder zurück ins Wasser werfen mussten.

Heute leben in Flint nur noch halb so viele Menschen wie noch 1960. Allein in den letzten 10 Jahren verliessen 18 Prozent der Menschen die Stadt. Viele Häuser stehen leer. 2013 sank die Bevölkerungszahl erstmals seit 1920 wieder unter 100’000. Flint stirbt einen zähen, langsamen Tod.

Und die Politiker spotteten, oder sie schwiegen gleich ganz.

Spätestens in den frühen 2000er-Jahren hätte klar sein müssen, dass Flint schleunigst einen Rettungsplan benötigte. Die Infra­struktur war marode. Die leer stehenden Fabriken zerfielen. Herunterstürzende Gebäude­teile drohten Passanten zu erschlagen. Immer mehr Strassen­laternen blieben auch in der Nacht dunkel. «Flint bröckelte sprichwörtlich auseinander», schreibt die Journalistin Anna Clark.

Tristesse in einem Vorort von Flint. Zackary Canepari/Panos

Statt die Stadt finanziell zu unterstützen, tat die Regierung von Michigan das genaue Gegenteil – zuerst unter einem Republikaner, dann unter einer Demokratin. Zwischen 1998 und 2016 kürzte Michigan schätzungs­weise über 5,5 Milliarden Dollar aus dem Budget, das für Städte wie Flint gedacht war. Der Bundes­staat brauchte das Geld, um eigene Finanz­löcher zu stopfen.

Das wog besonders schwer, weil andere Bundes­staaten einen anderen Weg wählten. Während Michigan die Zahlungen an seine Städte reduzierte, erhöhten sie 45 von 51 amerikanischen Bundesstaaten – trotz des ökonomischen Abschwungs. Keine andere Regierung strich über die Jahre das Geld so stark zusammen wie jene von Michigan.

Auf diese Weise verlor Flint zwischen 2003 und 2014 etwa 54 Millionen Dollar. Geld, das gereicht hätte, um alle Defizite zu tilgen, alle Schulden zu bezahlen und trotzdem noch ein Plus zu erwirtschaften. «Wenn Sie eine Stadt töten wollen», schreibt Anna Clark: «Das ist das Rezept.»

Auch Feuerwehrmänner in Flint löschen ihren Durst mit Wasser aus der Flasche. Mark Power/Magnum Photos/Keystone

2011 stand Flint kurz vor dem Bankrott. Die Rechnung wies ein Minus von 25 Millionen Dollar auf, und als Sofortmassnahme setzte der gerade neu gewählte republikanische Gouverneur Rick Snyder einen Krisen­manager ein. Innert vier Jahren wurde der Posten fünfmal neu besetzt. Die Krisenmanager sollten als unabhängige und aussen­stehende Akteure die Stadt aus ihrer desaströsen Finanz­lage befreien und hielten die alleinige Entscheidungs­macht. Die offizielle städtische Führung und Bürger­meister Dayne Walling dienten nur noch als Dekoration.

Endlich eigenes Wasser

Der Ort, an dem der Krisenmanager zu sparen gedachte, war ausgerechnet das Trinkwasser. Detroit, selber ständig knapp bei Kasse, verrechnete der Bevölkerung von Flint für das bezogene Trink­wasser Millionen. Gebühren von bis zu 140 Dollar pro Monat und Haushalt trieben vor allem die armen Menschen in den Ruin – 40 Prozent der Anwohnerinnen verdienten weniger als 15’000 Dollar im Jahr. Eine Studie fand heraus, dass die Bürger von Flint landes­weit mit Abstand am meisten für ihr Trink­wasser bezahlten – doppelt so viel wie der Durchschnitt.

2013 genehmigte der Krisen­manager einen Plan, künftig das Trink­wasser nicht mehr aus Detroit zu beziehen, sondern direkt aus dem Flint River. «Normales, gutes, pures Trinkwasser direkt aus unserem Hinterhof», wie Bürger­meister Dayne Walling zu sagen pflegte. Damit – so die Hoffnung – würden Stadt wie Private Millionen einsparen, das Wirtschafts­wachstum würde angekurbelt, der Aufschwung beginnen.

Kein Wunder, klatschten alle hoffnungsvoll, als Bürger­meister Walling im darauf­folgenden Frühling vor Publikum die Wasser­zufuhr aus Detroit abklemmte. «Der Wechsel zum Flint River läutet eine neue Ära ein», titelte die Lokalzeitung. «Wir erheben unsere Trinkgläser», schrieb der Chef­redaktor vom «Flint Journal» in seinem Editorial.

Doch die Freude währte nicht lange.

Fünf Wochen später sagte ein bärtiger Mann einem TV-Reporter, dass er nicht wisse, wie das Wasser sauber sein könne, wenn es doch stinke und schlecht schmecke. Seine Nachbarin erzählte, dass sich ihre Haut nach dem Duschen anders anfühle. Und in der Lokal­zeitung kommentierte eine ältere Dame, das neue Wasser sei «irgendwie komisch».

Bald berichtete die lokale NBC-Fernsehstation, dass viele Bürger das Leitungs­wasser meiden und statt­dessen aus gekauften Wasser­flaschen trinken würden. Bereits da wiegelten die Behörden ab – und versicherten, dass das Wasser alle Sicherheits­bestimmungen erfülle und konstant überwacht würde. «Es ist ein qualitativ gutes Produkt», sagte Bürger­meister Dayne Walling. «Ich denke, die Menschen verschwenden ihr wertvolles Geld, wenn sie jetzt Wasser­flaschen kaufen.»

Es war der Anfang eines monate­langen Trauer­spiels. Über Monate hinweg zögerten die Politiker, wichen aus, manche logen gar. Sie berichteten von Fäkalbakterien im Wasser, gaben wieder Entwarnung. Räumten ein, dass das Wasser Älteren und Schwächeren schaden und allenfalls Krebs auslösen könne, für Gesunde aber sei es problemlos. Bürgerinnen begannen, öffentlich zu protestieren.

Auch in Flint von den politischen Entscheidungen mit am stärksten betroffen: Die schwarze Community. Zackary Canepari/Panos

Im Januar 2015 berichtete die «Detroit Free Press», dass Kinder in Flint von mysteriösen Haut­ausschlägen und Krank­heiten geplagt würden. Der Stadtrat von Flint beschloss daraufhin, das Trink­wasser wieder aus Detroit zu beziehen. Doch der Entscheid wurde nie ausgeführt: Der vom Bundes­staat eingesetzte Krisen­manager, inzwischen Jerry Ambrose, setzte den demokratisch legitimierten Entscheid mit seiner Macht­fülle ausser Kraft und bezeichnete ihn als «unverständlich» und «zu teuer».

Im Sommer erhielt die Stadt ein Memo aus Washington. Ein Wissen­schaftler von der nationalen Umwelt­behörde schrieb, dass das Wasser unbedingt mit Korrosions­schutz behandelt werden müsse, um eine Blei­verseuchung zu verhindern. Die Behörden ignorierten es.

Nachdem das Memo an die Öffentlichkeit gelangte, behauptete ein Presse­sprecher der Umwelt­behörde von Michigan, dass ihre Tests keine Probleme anzeigen würden. «Alle, die besorgt sind wegen des Bleis, können sich jetzt beruhigen», sagte er im Radio. Währenddessen trank Bürger­meister Dayne Walling bei einem Fernseh­sender vor laufender Kamera aus einer Kaffee­tasse, die gefüllt war mit Flint-Wasser.

Auch Walling versicherte den Zuschauern, dass es kein Problem gäbe mit dem Wasser. «Ich trinke es jeden Tag.»

Dies ist ein Youtube-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Youtube Sie tracken.
Mayor Dayne Walling turns off water supply from Detroit, drinks Flint River water

Erst im November 2015 stellte die nationale Umweltschutz­behörde öffentlich und unmissverständlich fest, was die Bürger längst vermutet hatten: Das Trink­wasser aus dem Flint River war stark mit Blei verseucht – und somit für Menschen hochgiftig. Gelangt Blei in den Körper, können bereits kleine Mengen Hirn­schwellungen, Müdig­keit, Bauch­schmerzen, Wachstums­störungen, Hör­probleme, Aufmerksamkeits­störungen, Nieren­versagen und in extremen Fällen den Tod verursachen.

Korrosionsschutz gegen das Blei

Blei war einst ein beliebter Baustoff für Wasser­leitungen. Es ist formbar, ausdauernd, günstig – und oxidiert weniger stark als andere Metalle wie zum Beispiel Eisen. Wegen ihrer potenziellen Giftigkeit sind Wasser­leitungen aus Blei in der Schweiz trotzdem seit über 100 Jahren verboten. In den USA wurden sie bis spät in die 1950er-Jahre produziert und ausgelegt. Blei­leitungen sind bis heute in vielen amerikanischen Städten das Rückgrat vieler Wassersysteme.

In Flint sind viele der über 15’000 Bleirohre so alt, dass niemand mehr weiss, wo sie genau liegen. Der einzige Weg, sie zu finden, bestand darin, eine Kartei aus 45’000 Indexkarten zu durchwühlen, in der Material und Örtlich­keit der Leitungen vor Jahr­zehnten handschriftlich festgehalten worden waren. Im Schnitt waren sie 80 Jahre alt.

Doch nicht nur in Flint ist die essenzielle Infra­struktur marode. Die amerikanische Umweltbehörde EPA schätzt, dass eine nationale Sanierung aller Blei­leitungen im amerikanischen Boden über 80 Milliarden Dollar kosten würde. Deshalb verlangt das Gesetz von den Städten nicht, dass sie ihre Leitungen ersetzen. Sie müssen einzig ihr Wasser regelmässig testen und untersuchen, ob es «korrosiv» ist, also potenziell Blei aus den Leitungen freisetzen könnte. Fallen die Tests positiv aus, muss das Wasser mit Korrosions­schutz behandelt werden, damit die Rohre intakt bleiben.

Das Flusswasser von Flint ist korrosiv. Doch das wusste der Bürger­meister nicht, als er unter Applaus die Wasser­quelle wechselte. Die Umwelt­behörde von Michigan hatte das Fluss­wasser ungenügend getestet – und dementsprechend nicht aufbereitet. Als durch die Blei­leitungen ab April 2014 nicht mehr behandeltes Detroit-Wasser floss, sondern hoch­korrosives Flusswasser, nahm das Unglück seinen Lauf.

Bleivergiftungen machen den Menschen in Flint zu schaffen. Matt Black/Magnum Photos/Keystone

Die Stadt liess ihre Bürgerinnen mit ihrem eigenen Fluss­wasser vergiften.

Schätzungsweise werden der Wasserkrise 1760 gesunde Lebensjahre zum Opfer fallen. 12 Menschen sind bereits gestorben. Letzten Endes wird Flint die Wasser­krise eine halbe Milliarde Dollar kosten. So hoch schätzt ein Wissenschaftler der Columbia University die Gesundheitskosten, die als direkte Folge der Blei­vergiftungen zu verbuchen sind.

Politikversagen und Rassismus

Wer dafür die Haupt­verantwortung trägt, das versuchen Gerichte in den USA gerade herauszufinden. Klar aber ist: Nicht Trump wählende Extremisten haben die Wasser­krise in Flint ausgelöst – und das Vertrauen in die Institutionen zerstört –, sondern die Behörden von Michigan. Demokraten und gemässigte Republikaner.

Dayne Walling (2. von rechts), der damalige Bürgermeister von Flint, muss sich mit weiteren Mitgliedern der Stadtregierung für seine Trinkwasserpolitik vor dem US-Kongress rechtfertigen (2016). Tom Williams/CQ Roll Call/Getty Images

Flint ist kein Einzelfall. In Tausenden amerikanischen Städten liegt die Infra­struktur am Boden. Landes­weit sind 56’000 Brücken marode. Das Strom­netz ist veraltet, jede fünfte Strasse müsste ausgebessert werden. In der Welt­metropole New York ist der Zustand der Metro so schlecht, dass 2017 die Zahl der Verspätungen auf 70’000 angestiegen ist – im Monat.

Der Zerfall ist das Resultat eines Politik­versagens von gigantischem Ausmass, das auch unter der Ägide von Demokraten wie Barack Obama und Bill Clinton seinen Lauf genommen hat. Ein Politik­versagen, unter dem besonders nicht weisse Minder­heiten zu leiden haben. Minder­heiten, deren Stimmen an den Urnen fehlten, als die Demokratin Hillary Clinton in Michigan sieges­gewiss gegen Donald Trump antrat – und verlor.

Die Michigan Civil Rights Commission schrieb 2017 in einem 129-seitigen Report, dass der «tief verwurzelte institutionelle, systematische und historische Rassismus» indirekt zur verhängnis­vollen Spar­massnahme geführt habe, welche die Wasser­krise initiiert habe. Am härtesten von der Blei­vergiftung betroffen waren nicht weisse Minder­heiten. 57 Prozent der Bevölkerung von Flint besteht aus Afroamerikanern. Wie viele Städte in Amerika ist auch Flint stark segregiert.

Das luxuriöse Duran Hotel im Zentrum der Stadt beherbergte bis 1954 keine schwarzen Gäste; Kinos, Schlittschuh­bahnen und Konzert­hallen erlaubten afro­amerikanischen Bürgern den Besuch nur zu bestimmten Zeiten. Im Schwimmbad durften schwarze Kinder damals nur am Mittwoch planschen – und jeden Mittwoch­abend wurde das Bad ausgelassen und geputzt, bevor am nächsten Morgen wieder die Weissen für sechs Tage an der Reihe waren.

Wenigstens ein Werk ist gerettet: Erleichterung bei Streikenden vor einem Werk von General Motors in Flint (Oktober 2019). Erin Kirkland/The New York Times/Laif

Die schwarzen Arbeiter verdienten in den Fabrik­hallen viel weniger als die weissen Kollegen – und bis spät in die 1960er-Jahre durften sie nur in bestimmten Gebieten wohnen. Die «Segregations­politik», stellte der «Kerner Report» im Auftrag der US-Regierung bereits vor über 50 Jahren fest, degradierte schwarze Bürger in einen «permanenten unter­legenen ökonomischen Status».

Als General Motors in den 1980ern begann, die Arbeiter zu entlassen, und später eine grosse Rezession ausbrach, schlitterten vor allem afro­amerikanische Bürgerinnen in die Armut. Ihnen fehlten die Reserven. Heute leben 42 Prozent der städtischen Bevölkerung von Flint unter der Armuts­grenze. Der Stadt fehlt das Geld, um ihnen zu helfen, dem Bundes­staat ebenfalls – und der nationalen Regierung fehlt es am Willen.

«Obama, can’t you see»

Im Frühling 2016 versammelten sich auch viele schwarze Demonstranten vor einer Highschool in Flint, als der damalige US-Präsident Barack Obama die Stadt besuchte. «Obama, Obama, can’t you see», brüllten ihm die Bürger entgegen, «this Flint water is killing me.»

Der Präsident versprach im Schul­gebäude, dass er nicht ruhen werde, bis jeder Tropfen Wasser wieder trinkbar sei, weil das Teil der fundamentalen Regierungs­verantwortung sei. Er unterbrach seine Rede immer wieder und musste husten. «Kann ich ein Glas Wasser haben?», fragte Obama irgendwann. Das Publikum lachte.

Ein Schluck auf Flint! Barack Obama machte sich mit dieser Geste nicht nur Freunde. Carlos Osorio/AP Photo/Keystone

Viele waren entrüstet, dass Obama belustigt an seinem Wasser­glas nippte, anstatt den sofortigen Notstand für Flint auszurufen. «Obama kam als mein Präsident», erzählt später eine Afro­amerikanerin in einem Dokumentarfilm von Michael Moore , «als er uns verliess, war er es nicht mehr.»

Der linke Filmemacher («Fahrenheit 9/11») und Aktivist ist der wohl prominenteste Sohn der Stadt Flint. Er ist einer der wenigen prominenten Stimmen auf der Seite der Trump-Gegner, die das Wahl­desaster für die Demokraten früh kommen sahen. Im Juli 2016, kurz bevor die Demokraten Clinton in einem dreitägigen Spektakel zur Kandidatin kürten, schrieb Moore einen Blogbeitrag. Er ist keine 3000 Wörter lang und beginnt so: «Sprecht die Worte aus, ihr werdet sie die nächsten vier Jahre sagen: President Trump.»

Er habe keine Zweifel, «wenn die Menschen von der Couch aus wählen könnten, auf ihrer X-Box-Spielkonsole oder auf ihrer Playstation, dann würde Hillary in einem Erdrutsch gewinnen».

Aber, schreibt er weiter. «So läuft es nicht in Amerika.»

Die Wahl­beteiligung ist in den USA verglichen mit anderen westlichen Staaten miserabel. 2016 betrug sie gerundet 56 Prozent. Im Vergleich mit den anderen OECD-Staaten ist sie beinahe das Schlusslicht. Oder in den Worten der Knight Foundation: «100 Millionen Menschen in Amerika gehen nicht wählen.»

Wählen ist in den USA ein Kraftakt. Da der Wahltag immer auf einen gewöhnlichen Arbeitstag fällt, schaffen es viele nicht an die Urne. Restriktive Wahlgesetze – wer vorbestraft ist, darf zum Beispiel nicht wählen – benachteiligen systematisch nicht weisse Minder­heiten. Wählen ist eine Anstrengung, die nur hoch motivierte Menschen auf sich nehmen. Fehlt die Motivation, leiden darunter vor allem die auf Minder­heiten angewiesenen Demokraten.

Michigan galt bis zur Trump-Wahl als solide demokratisch. So solide, dass Clinton den Staat während ihres Wahlkampfs kaum besuchte – und ihr Team wenige Tage vor der Wahl freiwillige Helfer auf halbem Weg dorthin in andere Staaten beorderte. Tatsächlich holte Trump in Michigan 30’000 Stimmen weniger als Präsident Bush im Jahr 2004.

Er gewann trotzdem. Weil Hillary Clinton noch mehr verlor.

Wie konnte das passieren?

Ein Blick auf die Resultate in Flint erklärt vielleicht nicht die ganze Geschichte – aber einen Teil davon. Auf der Website von Genesee County – zu dem Flint gehört – findet man folgende offiziell beglaubigten Resultate:

2008 gewann Barack Obama im County gegen den Republikaner John McCain mit 80’000 Stimmen Vorsprung.

2012 waren es noch 60’000, gegen Mitt Romney.

Nach Ausbruch der verheerenden Wasser­krise war Clintons Vorsprung 2016 in Flint auf gerade noch 18’000 geschrumpft. 51 Prozent der Stimmen gingen an Clinton – 42 Prozent an Trump. Die Wahl­beteiligung im mehrheitlich schwarzen Wahl­bezirk lag rund 10 Prozent tiefer als noch 8 Jahre zuvor.

In Flint waren die Wähler nicht scharen­weise zu Donald Trump übergelaufen. Viele blieben schlicht zu Hause.

So etwas habe sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen, sagte eine Parteifunktionärin der Demokraten am Tag nach der Wahl. Monatelang habe sie versucht, die Partei­zentrale vor einem «Kollaps in Zeitlupe» zu warnen. Diese hatte zugeschaut, wie sich in Michigan wichtige Wähler­gruppen der Demokraten abwandten: Frauen und junge Afroamerikaner.

Was bedeutet das für das, was in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten auf Joe Biden und Bernie Sanders zukommt?

Die gute alte Zeit

In der Nacht auf den ersten März 2020 stieg der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden auf ein Podium in South Carolina. Er blickte zu seinen jubelnden Anhängern herunter – seine Stimme überschlug sich: «Schliesst euch mir an», brüllte er, «wenn ihr einen Demokraten nominieren wollt, jemanden, der sein ganzes Leben lang Demokrat war, einen stolzen Demokraten – einen Obama-Biden-Demokraten!»

Wird Joe Biden bei den demokratischen Vorwahlen in Michigan ebenso jubeln wie in South Carolina … Al Drago/DPA/Keystone

Damit fasste er den Graben in seiner Partei perfekt zusammen. Nur er, Biden, und der unabhängige Senator aus Vermont, Bernie Sanders, haben noch Chancen, von den Demokraten als Herausforderer von Trump nominiert zu werden. Alle anderen sind bereits aus dem Rennen: Elizabeth Warren, Michael Bloomberg und Pete Buttigieg haben aufgegeben.

Bernie Sanders hat in den letzten Monaten eine grosse Euphorie ausgelöst und mit der Hilfe Tausender Freiwilliger eine riesige Graswurzel­bewegung auf die Beine gestellt, wie sie die USA noch nie gesehen hat. Sollte er die Vorwahlen gewinnen, wäre er der weitaus linkste Kandidat, der je für eine amerikanische Präsidentschafts­wahl nominiert würde. Er bezeichnet sich als «demokratischen Sozialisten», fordert gebühren­freie Schulen, will die Milliardäre stärker besteuern und das Gesundheits­system mit einer öffentlichen Kranken­versicherung revolutionieren.

… oder kann hier Bernie Sanders seiner Favoritenrolle gerecht werden? Matthew Haley/Newscom/Keystone

Auf der anderen Seite steht Joe Biden als Kandidat des Establishments.

Die Vorwahlen sind ein Déjà-vu: Ein Kandidat verspricht eine Rückkehr in die Zeit unter Obama; der andere einen radikalen Bruch damit. So war es auch schon vor vier Jahren, nur dass auf der Seite der Bewahrer der Kopf gewechselt hat. 2016 war es Obamas Aussen­ministerin – nun ist es Obamas Vizepräsident.

Heute treffen Sanders und Biden in Michigan aufeinander.

Die Chancen von Sanders liegen gut – vor vier Jahren gewann er die Vorwahlen gegen Hillary Clinton im Bundes­staat überraschend. Damals traten die beiden bei einer Fernseh­debatte auch in Flint auf. «Frau Clinton», fragte der Moderator, «die Menschen hier können das Wasser in ihren Wohnungen immer noch nicht trinken. Sie können ihre Kinder nicht baden.» Ob sie jetzt spezifisch sagen könne, was sie als Präsidentin unternehmen werde.

Clinton sagte, dass sie unterstütze, was Präsident Obama bereits tue. Und dass die neue Bürger­meisterin von Flint ihre Unter­stützung habe.

Selbe Frage an Sanders. Der sagte, wenn ein Bundes­staat die eigenen Bürger vergifte, dann müsse Washington eingreifen. Der Staat habe doch schon so viele Fehler gemacht, warf der Moderator ein. Wieso die Menschen in Flint darauf vertrauten, dass noch mehr Staat die Antwort sei. Sanders schoss zurück, ob die Menschen stattdessen den Firmen glauben sollten, die «Flint zerstört haben, indem sie ihre Fabriken hier geschlossen haben – und nach China oder Mexiko gezogen sind?»

Was habt ihr schon zu verlieren?

Wie schrieb Journalistin Clark? Amerika, ein Land «aus tausend Flints».

Die Wasserkrise von Flint ist zum Symbol des amerikanischen Albtraums geworden. Ausbleibende Investitionen haben die amerikanische Infra­struktur zerstört. Schwache Umwelt­regulierungen gebaren Umwelt­verschmutzung. Politiker haben während Jahrzehnten staatliche Institutionen ausgeblutet – und legten so die Kontrollen lahm.

Auf diesem Schrottplatz erinnert nichts mehr an die einst so stolze Autostadt Flint. Andrew Lichtenstein/Corbis/Getty Images

Donald Trump hat daran nichts geändert. Im Gegenteil. Er hat Umwelt­standards im grossen Stil zerschlagen, das von Obama ausgearbeitete Kranken­versicherungs­gesetz ausgehöhlt und die Steuerlast von Unter­nehmen auf den Mittel­stand umgelegt. Für die Politik der Demokraten war die erste Trump-Legislatur ein Desaster.

Für sie stellt sich nun die eine und alles entscheidende Frage: Wer kann gewinnen? Wer garantiert, dass sich das Debakel von 2016 nicht wiederholt?

Nach dem «Super Tuesday» scheint die Antwort zu lauten: Joe Biden.

Bernie Sanders ist es trotz breiter Kampagne bisher nicht gelungen, die afro­amerikanische Bevölkerung in den Südstaaten für sich zu gewinnen. Kommt hinzu: Das demokratische Establishment will Aussen­seiter Sanders um jeden Preis verhindern. Zu diesem Schluss kommt die ideologisch in der Hinsicht unverdächtige «New York Times». Mit Ausnahme der linken Senatorin Elizabeth Warren haben sich alle ehemaligen Kandidaten auf die Seite von Joe Biden geschlagen.

Bernie Sanders hat bisher da gesiegt, wo sich die Menschen enttäuscht von der bisherigen Politik abgewandt hatten. Aber seine versprochene Massen­mobilisierung von jungen und neuen Wählern ist bisher ausgeblieben.

Joe Biden verspricht, dieselbe Koalition an die Urnen zu bringen, die einst Barack Obama ins Amt getragen hatte. Aber auch die Liste seiner Schwächen ist lang: Er steht für all das, was die Demokraten in den letzten 20 Jahren falsch gemacht haben.

Im Juli 2020 sollen die letzten Bleirohre in Flint ersetzt werden; im Nachbar­staat Wisconsin werden die Demokraten zur gleichen Zeit den offiziellen Kandidaten für die Präsidentschafts­wahlen küren. Er wird im Herbst auf einen Gegner treffen, der kaum ein Problem in Amerika gelöst, aber viele davon zum ersten Mal mit voller Härte ausgesprochen hat; der seinen Wahlkampf mit einem Buch begann, dessen Name «Crippled America» war, verkrüppeltes Amerika; der sich im Wahlkampf explizit an Afro­amerikaner wandte.

«Wählt mich», brüllte ihnen Donald Trump in Michigan entgegen. «Was zur Hölle habt ihr schon zu verlieren?»