Binswanger

Die Gedankenpest

Das Coronavirus wird sich weiter ausbreiten. Aber unser Denken darf es nicht infizieren.

Von Daniel Binswanger, 29.02.2020

Waren auch in Ihrer Migros-Filiale die Regale halb leergeräumt? Wie häufig pro Tag waschen Sie sich die Hände? Etwa zwei Dutzend Mal? Und seit gestern gehen Sie nur noch ungern aus dem Haus, schon gar nicht an öffentliche Veranstaltungen? Auch bei weniger als 1000 Teilnehmern? Dann dürfte es Ihnen gehen wie sehr, sehr vielen Menschen in diesem Land. Das Coronavirus, erst «nur» eine Katastrophen­meldung aus dem Fernen Osten, dann eine zunehmend näher rückende Hoch­rechnung potenzieller Pandemie­szenarien, ist angekommen. Es schafft massive Realitäten – auch wenn sie vorerst hauptsächlich psychologischer Natur sind.

Es ergibt keinen Sinn, darüber zu spekulieren, wie diese Realitäten schliesslich aussehen werden. Wo zwischen dem apokalyptischen Maximal­szenario von 3 Millionen Ansteckungen und 30’000 Toten in der Schweiz und dem aktuellen Stand von zunehmenden, aber immer noch überschaubaren Krankheits­fällen der Epidemie­verlauf letztlich zu liegen kommen wird, wissen auch die Experten nicht. Dass in der chinesischen Millionen­stadt Wuhan, in der die Krankheit ihren Ausgang nahm und wo die überwiegende Zahl der bisherigen Opfer zu beklagen ist, die ausgewiesenen Neuansteckungen wieder rückläufig sind und der Höhepunkt der Epidemie vorläufig überschritten zu sein scheint, darf wohl als Zeichen dafür gewertet werden, dass eine gewisse Eindämmung des Virus durchaus machbar ist.

Doch wie gesagt: Der Seuchen­zug bringt nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Verheerungen über uns. Die Schweizer Medien­bericht­erstattung – ein anderes Thema als das Corona­virus gibt es ja gerade gar nicht mehr – oszilliert beständig zwischen nüchternen Informationen, Beruhigungs- und Aufklärungs­efforts der Behörden und hingebungs­voller Panikmache.

Die SVP unternimmt derweil den Versuch, das Virus vor den Karren ihres Abstimmungs­kampfes für die Begrenzungs­initiative zu spannen. Vorderhand wirkt das haupt­sächlich hilflos, aber wer weiss, ob die Strategie noch Zugkraft entwickelt. Die Vermutung, dass in den nächsten Wochen die Forderung nach «dichten» Grenzen einen völlig neuen Appeal bekommen wird, ist alles andere als absurd – auch wenn eine Schweiz ohne Personen­freizügigkeit dem Corona­virus natürlich exakt genauso ausgesetzt wäre wie unter den heutigen Bedingungen.

Doch nicht nur die akute Panik und ihre politische Bewirtschaftung sollten uns beschäftigen, sondern auch das Corona­virus als Metapher. Wie spricht diese Krankheit zu uns? Was symbolisiert sie? Inwiefern eignet sie sich als Projektions­fläche für unser Verständnis der Welt? Und vor allem: Wie wird sie in Zukunft dieses Verständnis formen?

Susan Sontag hat in ihren beiden klassischen Texten «Krankheit als Metapher» und «Aids und seine Metaphern» die Frage nach der symbolischen Macht von Krankheiten auf den Begriff gebracht. Wer mit medizinischen Bedrohungen einen vernünftigen Umgang finden will, so Sontag, der muss ihre metaphorische Suggestiv­kraft durchschauen. «Mein Punkt ist, dass Krankheit keine Metapher ist und dass der wahrhaftigste Weg, einer Krankheit ins Auge zu sehen – die gesündeste Weise, krank zu sein –, darin besteht, möglichst frei von und möglichst resistent gegen metaphorisches Denken zu sein.» Sie schliesst daraus: «Wir müssen die Metaphern ausleuchten, um uns von ihnen zu befreien.»

Sontag tat dies für Tuberkulose – eine bis zum Zweiten Weltkrieg sehr verbreitete, zugleich aber auch stark mythologisierte Krankheit –, für den Krebs, der lange Zeit als unheilbar galt und der deshalb quasi tabuisiert wurde, und für Aids, die stigmatisierende Krankheit par excellence, die dem sündigen Träger angelastet wurde, seiner «devianten» Sexualität oder seinem Drogen­missbrauch. Wofür ist das Corona­virus eine Metapher? Die erste Antwort lautet wohl: für die Schrecken der Globalisierung.

Mit dem Auftreten des Virus Sars-CoV-2 scheint sich zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte zu verwirklichen, was weder dem Ebola­virus noch der Sars­epidemie von 2002/2003 gelungen ist: eine Ausbreitung, die kurz davorsteht, wirklich weltumspannend zu werden, und jedenfalls die eurasische Kontinental­platte schon fest in ihrem Griff hat. Dass die globale Vernetzung nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen stattfindet, wird für die europäische Normal­bürgerin in den nächsten Wochen konkreter und greifbarer werden als jemals zuvor. Dass sich eine verstärkte Abwehr­haltung gegenüber der Globalisierung sehr tief in der kollektiven Psyche festsetzen wird, dürfte unvermeidbar sein.

Bis zu einem gewissen Punkt ist es auch nicht unbegründet. Epidemiologisch zeichnet sich das Corona­virus ja vor allem durch die Eigenschaft aus, eine hohe Rate von Ansteckungen ohne Symptome oder mit nur gelinden Symptomen auszulösen. Das heisst, ein grosser Teil der Virus­träger bleibt mobil und ist kaum zu identifizieren. Das noch am ehesten wirksame Mittel zur Unterbrechung von Übertragungs­ketten, jedenfalls in der ersten Phase der Ausbreitung, sind deshalb tatsächlich territoriale Sperren. Sie werden angewandt von China, das mit der Quarantäne für die gesamte Provinz Hubei die Ausbreitung des Virus im restlichen China zwar nicht verhindern, aber erfolgreich verlangsamen konnte. Von der WHO bekommt die Volks­republik dafür das grösste Lob. Auch in Norditalien wird versucht, das Virus mit Gebiets­quarantänen einzudämmen.

Schlagbäume runter ist die Losung der Stunde – obwohl der Nutzen limitiert und zeitlich begrenzt ist. Das Virus wirkt wie eine mörderische Karikatur des wirtschaftlichen Globalisierungs­credos: Kurzfristig können wir uns durch Hygiene­protektionismus zwar etwas schützen, aber länger­fristig gibt es zur Öffnung keine Alternative. Sie wird kommen – und wenn sie uns alle umbringt. Wen würde es wundern, wenn die Welt hervorginge aus dieser Prüfung mit einer überwältigenden Nostalgie für dauerhafte Abschottung?

Aber das Corona­virus ist nicht nur eine hässliche Metapher für die Globalisierung: Es ist ein furcht­erregendes Symbol für die heutige Gesellschafts­ordnung überhaupt. Warum ist das Virus so gefährlich? Weil es verhältnis­mässig harmlos ist. Weil die Mortalitäts­rate relativ tief liegt und hauptsächlich Alte und gesundheitlich Vorbelastete in Gefahr bringt. Das ist lange nicht bei allen Pandemien so. Bei der Spanischen Grippe war die Sterberate bei den zwischen 20- und 40-Jährigen mit Abstand am höchsten.

Anders beim Corona­virus: Die homöo­pathische Tödlichkeit ist die Voraussetzung für seine universelle Verbreitung. Es ist wie die sozial­darwinistische Übersteigerung des unsere Gesellschaften immer stärker dominierenden Konkurrenz­prinzips: Jeder konkurriert mit jedem, jeder ist ein potenzieller Rivale, eine potenzielle Gefahr für seinen Nächsten. Alle sind nur in den eigenen vier Wänden in Sicherheit, in konsequenter Vereinzelung. Alle können jederzeit erwischt werden, aber das ist auch nicht anders vorgesehen: Eliminiert aus dem Spiel werden ja nur die Schwachen.

Die 1990er-Jahre waren die Aids-Dekade: die scheinbar hedonistische und frivole Epoche des Börsen­booms und der «neuen Welt­ordnung», die im Hinter­grund beherrscht wurde von dunklen Fantasien über die gerechte Strafe für heimliche Sünder, die früher oder später der sichere Tod ereilt. Die 2020er-Jahre dürften die Corona-Dekade werden: Das Zeitalter einer globalisierten Todes­drohung, die jeder übertragen und die jeden jederzeit erreichen kann. Die ständige Präsenz eines Risikos, vor dem sich niemand schützen kann, mit dem wir uns jedoch arrangieren werden, weil es nur die akzeptierten Risiko­gruppen einer wirklichen Gefahr aussetzt.

Das Corona­virus ist keine Metapher, es ist eine Realität. Aber die Metapher hat das Potenzial, eine massive Brutalisierung der sozialen Verhältnisse akzeptabel zu machen. Gemeinsam, als Gesellschaften, müssen wir uns resistent zeigen.

Illustration: Alex Solman