«Man hat es kleingeredet»
Die Hamburger Autorin Kübra Gümüşay gilt als einer der prägendsten Köpfe des Islam in Deutschland. Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau kritisiert sie nicht nur den Staat, der Rechtsterrorismus zu lange nicht ernst genommen hat. Sondern auch die Mehrheitsgesellschaft. Und die Medien.
Ein Interview von Andrea Arežina und Bettina Theuerkauf (Bilder), 28.02.2020
Frau Gümüşay, am Mittwoch vor einer Woche hat ein Rechtsextremer in Hanau neun Menschen erschossen. Wie haben Sie davon erfahren?
Ich sass am Laptop und schrieb an einem Essay. Die ganze Zeit kamen Nachrichten rein. Ich war bis 3 Uhr morgens nur am Recherchieren, Telefonieren und Schreiben. Und obwohl es am Abend noch nicht definitiv feststand, war mein Gefühl: Das ist wahrscheinlich ein rechtsterroristisches Attentat.
Kübra Gümüşay ist Autorin in Hamburg. Sie studierte Politikwissenschaften in Hamburg und an der Londoner School of Oriental and African Studies. Als Publizistin beschäftigt sich die 32-Jährige mit Rassismus, Feminismus und Netzkultur. Ende Januar erschien ihr viel beachteter Erstling «Sprache und Sein». Ende März tritt Gümüşay in der Schweiz auf.
Einen Tag nach dem Anschlag sassen Sie in der Talkshow von Maybrit Illner. Auf die Frage, ob der Anschlag Sie überrascht hatte, antworteten Sie: «Nein, leider nicht.» Warum nicht?
Es hätte so viele Gelegenheiten gegeben, Rechtsterrorismus ernst zu nehmen. Es hätte so viele Gelegenheiten gegeben, endlich aufzuwachen. Als der Skandal um den Nationalsozialistischen Untergrund NSU enttarnt wurde, hätte das Land schockiert innehalten müssen. Es hätte dazu führen müssen, dass das alles tatsächlich lückenlos aufgearbeitet wird, so, wie es die Kanzlerin versprochen hatte. Aber das ist nicht geschehen.
Stattdessen folgten weitere Anschläge von Rechtsextremen.
Walter Lübcke. Halle. Jetzt Hanau. Viel zu lange wurde der Rechtsterrorismus nicht zur grössten Gefahr in unserer Demokratie erklärt.
Wie ist das für Sie, immer und immer wieder die gleiche Kritik zu äussern, aber nicht gehört zu werden?
Das schmerzt. Warum werden unsere Ängste, unsere Sorgen, unsere Befürchtungen, unser Blick auf die Welt nicht ernst genommen? Und warum wird die Verantwortung, vor dem Rechtsextremismus zu warnen, an jene Menschen abgeladen, die am stärksten von rechter Gewalt bedroht sind?
Wer trägt die Verantwortung dafür?
Alle. Politik, Justiz, Sicherheitsbehörden, aber auch Medien, Kunst und Kultur. Die Sicherheitsinstitutionen sind ihrer Verantwortung nicht konsequent nachgekommen. In vielen Institutionen wurde nicht stringent gegen alt- und neurechte Tendenzen angearbeitet. Und in der Politik hat eine rechte Partei – aber auch viele Einzelpersonen in anderen Parteien – auf dem Rücken rassifizierter Menschen absurde politische Debatten geführt. Statt sich um ihre Stimmen zu bemühen, für unser Grundgesetz und gesellschaftliche Pluralität einzustehen, gingen sie mit einer gehässigen Sprache über diese Menschen auf Stimmenfang. Mitmenschen wie jene, die in Hanau ermordet wurden, wurden primär zu einer Bedrohung erklärt. In den Medien waren beispielsweise Wörter wie Flüchtlingswelle verwendet worden. Ein Wort, das aus diesen Menschen eine Naturkatastrophe macht. Eine Bedrohung, die über uns einbricht. Ein Wort, das sie ihrer Menschlichkeit beraubt.
Sie üben immer wieder Kritik an den Medien. Welche Rolle kommt ihnen zu?
Medien haben Macht. Sie bestimmen, wie wir auf die Welt schauen. Sie bestimmen, wen wir meinen, wenn wir «wir» sagen. Ich will das nicht einzelnen Journalistinnen und Journalisten in die Schuhe schieben. Es geht mir vielmehr um die strukturelle Verantwortung der Medien. Viele Arbeitskolleginnen und -kollegen sagen mir: Kübra, wir bilden doch nur ab, was passiert. Aber Journalismus hat in meinen Augen einen anderen Auftrag. Er muss einordnen, entscheiden, was relevant ist, und er muss die Gesellschaft herrschaftskritisch hinterfragen, durchleuchten. Journalismus sollte auch nicht Debatten um der Debatte willen führen. In dem Moment, wo in der Debatte die Existenzberechtigung von Menschen angezweifelt wird, sind die Medienschaffenden ein Teil der Entmenschlichung.
Was braucht es, um das zu ändern?
Die Einsicht, dass unsere Handlungen weitreichendere Konsequenzen haben, als wir zugeben wollen. Wenn wir dem nicht ins Auge sehen, führt das dazu, dass wir uns beim nächsten Anschlag wieder fragen: Ach, wie konnte das passieren?
Im Juni letzten Jahres der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke, im Oktober ein versuchter Anschlag auf eine Synagoge in Halle, jetzt die Morde in Shisha-Bars in Hanau – drei rechtsextreme Attentate in neun Monaten. Was ist da los?
Der Rechtsterrorismus in Deutschland ist kein neues Phänomen. Der NSU ist der Beweis dafür. Oder die rechten Netzwerke innerhalb der Bundeswehr, die letztes Jahr aufgedeckt wurden. Es gibt Verstrickungen von rechten Netzwerken in den Verfassungsschutz, die Bundeswehr, die Polizei, den Beamtenapparat.
Vertrauen Sie den Sicherheitsbehörden?
Nein. Sie hätten mich das auch schon vor zwei Jahren fragen können, und ich hätte die gleiche Antwort gegeben: Nein, nicht in Gänze. Mein Vertrauen ist zerrüttet.
Warum?
Wegen dieser inzwischen normal gewordenen Verniedlichung der rechtsterroristischen Bedrohung. Aber auch weil ich immer wieder persönlich erlebt habe, dass man mich nicht ernst nahm, wenn ich wegen Morddrohungen zur Polizei ging. Man hat das Ganze kleingeredet und nie verfolgt. Wegen rassistischer Polizeigewalt, struktureller Natur. Das zeigt zum Beispiel der Fall von Oury Jalloh, einem Mann, der sich im Gefängnis in Dessau angeblich selbst in Brand gesetzt haben soll. Er war an eine Matratze gefesselt und soll sich trotzdem selber angezündet haben? Es ist absurd: Bis heute, fünfzehn Jahre später, sind noch immer so viele Fragen in seinem Fall ungeklärt.
Was hat das alles mit dem zu tun, was Sie in Ihrem Buch «Sprache und Sein» verhandeln?
Wenn wir in öffentlichen Debatten fragen: Gehört der Islam zu Deutschland?, dann diskutieren wir ganz nonchalant die Existenzberechtigung von Menschen. Doch was bedeutet das letztlich, wenn wir diese Frage mit Nein beantworten? Das ergebnisoffene Diskutieren dieser Frage legitimiert menschenfeindliche und verfassungsfeindliche Antworten.
Können Sie das erklären?
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Verdienen Menschen mit Migrationshintergrund Rassismus? Es gibt mit Sicherheit Leute, die diese Frage gerne lange und breit diskutieren würden. Damit könnte man mit Sicherheit seitenweise Feuilletons in Zeitungen und Stunden in Fernsehen und Radio füllen. Doch auch in einer pluralistischen Demokratie muss nicht jede Diskussion geführt werden, bloss weil einige – meinetwegen auch viele – Menschen diese schöngeistig führen. Es gibt Fragen, die bewegen sich ausserhalb des Rahmens. Und der Rahmen in Deutschland ist unser Grundgesetz.
Und wenn man die Fragen doch stellt?
Dann stellen wir die Existenzberechtigung von Menschen infrage. Wenn wir fragen: Gehört der Islam zu Deutschland?, dann öffnen wir die Tür zur Entmenschlichung. Legitimieren Menschenfeindlichkeit.
Die Talkshow-Moderatorin Maybrit Illner hat in der letzten Sendung gesagt, es sei doch immer klar gewesen, dass die Antwort auf diese Frage Ja laute.
Das Problem ist nicht die Antwort, sondern die Tatsache, dass wir eine Frage diskutieren, die in der Konsequenz die Existenzberechtigung von Menschen zur Disposition stellt. Das wurde viel zu lange getan. Jahrelang wurde so Politik auf dem Rücken von marginalisierten Menschen gemacht. Mediale Diskussionen wurden mit einer voyeuristischen Haltung geführt, so, als würde man völlig unbeteiligt einem Autounfall zusehen. Dabei war man selber Teil dieses Unfalls.
Wie meinen Sie das?
Viele Medienschaffende tun so, als wären sie unbeteiligt. Dabei haben zahlreiche Redaktionen jahrelang Menschen eine Plattform gegeben, die biologistische Thesen über religiöse Minderheiten in die Welt gesetzt haben. Die rassistische Thesen vertreten haben. Entmenschlichend über Menschen gesprochen haben. Und jetzt filmen sie, wie das Auto auf die Wand zurast. Aber muss man solchen Leuten, solchen Ideen eine Plattform geben? Wenn ich das kritisiere, heisst es manchmal, «die Leute» wollten halt diese Thesen diskutieren. Denken wir uns das mal andersrum: Würde man auch einem Islamisten, der alle Nichtmuslime zu Ungläubigen erklärt, eine Plattform geben? Würde man dann auch sagen, er wird halt viel gelesen, die Menschen wollen das diskutieren?
Wohl kaum.
Wenn ich das Beispiel des Islamisten bringe, beantwortet man diese Frage sofort mit Nein. Das zeigt doch, dass man die Angst vor islamistischem Terror scheinbar ernster nimmt als die Angst vor Rechtsterrorismus.
Sie kritisieren immer wieder auch die Anlage von Talkshows. Sollte das Fernsehen auf konfrontative Diskussionsrunden verzichten?
Nein. Aber es braucht Korrektive zu Formaten, in denen vermeintliche Wahrheiten gegeneinander antreten, um die Gunst des Publikums buhlen und am Ende ein Gewinner dasteht. Diese Form des inszenierten, aber letztlich destruktiven Diskurses darf nicht als öffentlich prominenteste Form alleine stehen bleiben. Denn diese Form wird imitiert: auf sozialen Netzwerken, im Alltag, im Berufsleben.
Was wäre eine Alternative?
Es braucht Orte, wo Menschen auch mal öffentlich nachdenken dürfen. Gerade im Fernsehen, wo jede nachdenkliche Minute als verschwendete Minute gilt. Dabei ist gerade diese Minute des Nachdenkens so stark und aussagekräftig. Sie bezeugt, dass es auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit keine klaren, abgeschlossenen Antworten gibt. Dass es dazu ein gemeinsames Denken und Streiten braucht. Doch wann haben Sie das letzte Mal jemanden in einer Talkshow sagen hören «Ich weiss es nicht»?
Da müsste ich jetzt länger nachdenken …
Stattdessen belohnen wir Menschen, die eine abgebrühte Haltung an den Tag legen, so, als sei doch alles glasklar, alles sei schwarz und weiss. Aber die Welt besteht aus Grautönen.
Sie sassen selber häufig in Talkshows und waren Teil dieser Diskurse. In Ihrem Buch bezeichnen Sie sich deshalb als die «intellektuelle Putzfrau». Was meinen Sie damit?
Anfangs dachte ich, dass halt gewisse Debatten einfach mal geführt werden müssten, damit wir vorankommen. Doch ich erkannte, dass es nicht darum ging, die Fragen zu klären und die Debatte abzuschliessen. Sondern diese destruktiven Diskussionen am Leben zu halten, solange es geht. Schliesslich sind ganze Existenzen an sie geknüpft. Islam-Kritiker ist heute sozusagen ein Beruf in Deutschland. Dafür kriegt man Geld. Und Awards. Und Applaus. Und meine Aufgabe war in diesen Sendungen, hinter den anderen herzuräumen. Sie behaupteten irgendwas Destruktives, und ich versuchte dann, das auseinanderzunehmen und zu argumentieren: mit Daten, Fakten, Zahlen. Doch letztlich haben sie das Thema vorgegeben, die Stossrichtung bestimmt, aber auch wie wir darüber reden.
Kübra Gümüşay schiebt ihren Cappuccino zur Seite, greift nach ihrem Buch, das auf dem Tisch liegt, und liest das Zitat eines Beraters von George W. Bush vor: «Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, erschaffen wir eigene Realität. Und während ihr diese Realität analysiert (...), handeln wir erneut, erschaffen andere, neue Realitäten, dir ihr dann ebenfalls analysieren könnt ...» Sie blickt vom Buch auf.
Sie schaffen Realitäten. Wir sind unentwegt damit beschäftigt darauf zu reagieren. Stattdessen müssen wir Realitäten erschaffen und eigene Themen setzen, in denen es nicht darum geht, ob wir Menschen aus dem Mittelmeer retten, sondern wie wir sie retten. Realitäten, in denen es nicht darum geht, ob wir Geflüchtete aufnehmen, sondern wie wir sie aufnehmen. Nicht die Frage diskutieren, ob Frauen und Männer gleichgestellt sind, wie wir die Geschlechtergerechtigkeit umsetzen können. Aber wir lassen diese Diskussionen aus und überlassen die Themensetzung damit den Rechten. So beherrschen sie den Diskurs. Und wir reagieren darauf.
Wie kann man das ändern?
Es braucht Räume für Diskurse, in denen wir über unsere gemeinsame Zukunft diskutieren können. Wo sind diese Orte? Wo können wir konstruktiv streiten? Diese Orte fehlen. Das hinterlässt ein Vakuum. Wir sind unentwegt damit beschäftigt, einander zu kritisieren. Diese Angst, etwas Falsches zu sagen, führt zu Lethargie und Handlungsunfähigkeit. Der Philosoph und Quantenphysiker David Bohm sagt: Fehler sind ein Gewinn für alle. Aber wo sind die Orte, wo wir Fehler machen dürfen? Bei uns hat die Person, die Fehler macht, schon verloren. Dabei müssten Fehler für alle ein Erkenntnisgewinn sein. Wir alle lesen, sprechen, schreiben, gehen, weil wir Fehler gemacht haben. Ohne Fehler hätten wir das nicht gelernt.
Sie schreiben in Ihrem Buch: «Damit wir gemeinsam laut denken können, brauchen wir auch Regeln und Grenzen.» Welche Regeln?
Zum Beispiel, dass Kritik konstruktiv geäussert werden soll. Dass Fehler ein Gewinn für alle sind. Dass sie sogar erwünscht sind. Dass die Existenzberechtigung von Menschen nicht zur Debatte stehen darf. So offen diese Räume für Fehler sind, so klar sollte der Rahmen gesteckt sein.
Wo ziehen Sie die Grenze?
Den Rahmen bildet das Grundgesetz. Und die Haltung, mit der jemand in einen Diskurs geht: Wer nicht mit dem Bewusstsein für die eigene Fehlbarkeit den Raum betritt, sondern stattdessen mit einem ignoranten Absolutheitsanspruch in einen Diskurs tritt, verlässt ihn damit auch. Ganz automatisch sind deshalb Rechtsextremisten, Islamisten oder Rassisten ausgeschlossen. Man kann mit Rechten nicht ergebnisoffen über die Gleichberechtigung, die Menschlichkeit anderer diskutieren.
Aber?
Die Rechten haben kluge Strategien gewählt.
Zum Beispiel?
Sie haben Wörter wie «Gutmensch» in die Welt gesetzt. Eine interessante Frage ist: Durch wessen Augen betrachten wir die Welt in dem Moment, in dem wir dieses Wort verwenden? Und was macht es mit den Menschen, die wir betrachten? Als «Gutmenschen» werden Linke wie Konservative oder Wirtschaftsliberale bezeichnet. Diese Menschen vereint genau eine Sache: ein gewisser Humanismus. All diese Menschen werden mit diesem Wort in einen Käfig gesperrt. Und mit Stereotypen besetzt.
Welchen Stereotypen?
Linksgrün versifft, realitätsfern, naiv, übertolerant, verweichlicht … All diese Assoziationen haben dazu geführt, dass diese Menschen sich plötzlich von diesen Stereotypen abgrenzen mussten. Manche fingen an, von sich aus zu sagen, sie seien keine linksgrün versifften Gutmenschen. Aus vorauseilendem Gehorsam. Aus Angst, man könnte ihnen noch einmal den Vorwurf machen, sie seien zu gutgläubig, naiv, realitätsfern. Sie hörten auf, auf ihr Herz zu hören und humanistisch zu handeln, damit man ihnen nicht länger vorwerfen konnte, dass sie Gutmenschen seien. Das ist das Perfide an der Sprache. Wir sind uns dieser Macht der Sprache nicht bewusst.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Sprache als Museum.
Ich schlage vor, Sprache als Museum zu denken. Konzepte, Ideen, ferne Orte, nahe Orte, Gebirge, Meere, Tierarten – all diese Dinge werden im Museum der Sprache abgebildet. Sie alle werden kategorisiert, definiert und ausgestellt. Und im Museum der Sprache gibt es zwei Arten von Menschen.
Die «Unbenannten» und die «Benannten», wie Sie in Ihrem Buch schreiben.
Die «Unbenannten» entsprechen der Norm. Sie bedürfen keines Namens. Sie kuratieren das Museum, entscheiden, was reinkommt und was nicht, was benannt wird und was nicht. Die andere Kategorie sind die «Benannten»: die Menschen, die irgendwie von einer Norm abweichen und darum einen Namen brauchen.
Wer sind die «Benannten»?
Zum Beispiel Frauen, Migranten, Schwarze, LGBTQI. Ihr Name, ihre Kategorie ist ihr Käfig: die muslimische Frau, der geflüchtete Mann, die Gastarbeiterin, die Transfrau, aber auch breite Kategorien wie die Powerfrau oder der Ostdeutsche. Wenn ein Mensch primär über eine Kategorie wahrgenommen wird, wird einem Individualität, Komplexität, Menschlichkeit abgesprochen. Dafür wird einem ein Klischee aufgezwungen.
Beim geflüchteten Mann wäre das: sexistisch und gewalttätig.
Und bei der Powerfrau lautet das Klischee: keine Zeit für Familie und Ehemann. Wenn der Powerfrau das Klischee aber nicht passt, ist sie gezwungen zu betonen: Ich bin auch eine gute Ehefrau und ebenfalls Mutter. Sie muss sich aktiv immer wieder dagegen wehren.
Was ist mit dem «weissen alten Mann»?
Auch er wird für ein Kollektiv belangt und nicht mehr an seinem individuellen Verhalten gemessen. Er muss beweisen, dass er nicht dem Klischee entspricht, also beispielsweise nicht sexistisch, konservativ oder privilegiert ist. Ich bin keine Anhängerin dieser Pauschalisierung. Aber viele merken erst jetzt, mit dieser Bezeichnung, wie sich diese Entmenschlichung anfühlt, wenn der Spiess umgedreht wird und die Benannten die bislang Unbenannten plötzlich benennen. Andere müssen jedoch ihr ganzes Leben damit umgehen.
Aber Menschen brauchen doch Kategorien, um sich durch die Welt zu bewegen.
Richtig. Deshalb will ich Kategorien nicht abschaffen. «Die Kopftuch tragende Frau» kann eine korrekte Zuschreibung sein. Sie wird dann zum Problem, wenn man meint, man habe diesen Menschen verstanden, bloss weil man ihn einer Kategorie zugeordnet hat. Dann wird die Kategorie zum Käfig.
Nach dem Attentat in Hanau zeichneten viele Medien zunächst ein Bild von Klischee-Migranten in einer Shisha-Bar. Erst nach und nach erhielten sie Namen, Gesichter und eine Geschichte. Warum ist es wichtig, nicht nur auf den Täter zu schauen?
Wenn wir uns auf den Täter fokussieren und darüber diskutieren, ob er ein Einzeltäter sei oder nicht, müssen wir dafür nicht auf uns schauen. Aber ein Rechtsterrorist kann nie ein Einzeltäter sein. Jemand, der aus ideologischer Motivation heraus reagiert, handelt immer im Kontext. Er hat die Tat als einzelner Mensch begangen, aber er ist kein Einzeltäter. Diese Überhöhung des Bösen führt dazu, dass wir das Böse nicht in unserer Mitte sehen. Dass wir das Böse überhaupt ermöglicht, geduldet und wachsen lassen haben in unserer Gesellschaft.