Briefing aus Bern

Kritik an Schweizer Corona-Strategie, «Like» als üble Nachrede – und Junge wollen die 2. Säule retten

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (90).

Von Philipp Albrecht, Elia Blülle, Bettina Hamilton-Irvine, Carlos Hanimann und Brigitte Hürlimann, 27.02.2020

Das Coronavirus hat die Schweiz erreicht: Am Dienstag informierte das Bundesamt für Gesundheit, dass im Tessin ein 70-jähriger Mann vom Virus infiziert worden sei und es schweizweit mindestens 70 weitere Verdachtsfälle gebe.

Trotzdem wollen die Schweizer Behörden an der Risiko­einschätzung im Moment nichts ändern. Das Virus stelle für die Bevölkerung in der Schweiz zurzeit noch ein moderates Risiko dar, sagte der Direktor des Bundesamts für Gesundheit an der Presse­konferenz. Drastische Massnahmen will der Bund erst ergreifen, wenn es in der Schweiz zu Ansteckungen kommt, bei denen die Übertragungs­kette nicht mehr zurückverfolgt werden kann.

Nicht alle sind einverstanden mit dieser Einschätzung. Der Berner Epidemien­forscher Christian Althaus übte in einem Interview mit der NZZ harsche Kritik an der Kommunikations­strategie des Bundes. An den Presse­konferenzen der vergangenen Wochen seien viele Falsch­informationen verbreitet worden. «Die Aussage, die Gefährlich­keit sei etwa so hoch wie bei einer saisonalen Grippe, ist absurd», sagt der Wissen­schaftler. «Sie basiert nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen.»

Althaus spricht von einer der grössten gesund­heitlichen Notlagen der jüngeren Schweizer Geschichte und rechnet im Worst-Case-Szenario mit 3 Millionen Infizierten. Es ergebe zwar keinen Sinn, Panik zu verbreiten, sagt er, aber die Bevölkerung müsse wissen, dass eine Epidemie auf die Schweiz zukommen werde. Angesichts der momentanen Bedrohungs­lage handelten die Behörden viel zu passiv. Althaus befürchtet, dass man akzeptiert habe, dass eine Ausbreitung nicht mehr zu stoppen sei. «Das wäre gefährlich.»

Sobald eine starke Gefährdung der öffentlichen Gesund­heit droht, ist es die Aufgabe des Bundesrats, eine «besondere Lage» auszurufen und zum Beispiel Einrichtungen zu schliessen. Damit es nicht so weit kommt, schlägt Althaus vor, Patientinnen in Spitälern best­möglich zu versorgen, alle Verdachts­fälle sauber zu über­prüfen und beispiels­weise Alters­heime besonders zu schützen. Derweil hat das Bundesamt für Gesund­heit eine Kampagne lanciert, um empfohlene Hygiene­massnahmen in Erinnerung zu rufen.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Asylverfahren: Bund soll Handys durchsuchen dürfen

Worum es geht: Der Bund soll künftig im Asyl­verfahren auf Handy­daten und andere elektronische Geräte von Geflüchteten zugreifen können. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats hat einen entsprechenden Gesetzesvorschlag erarbeitet.

Warum Sie das wissen müssen: Die Identität von Geflüchteten spielt in Asyl­verfahren eine entscheidende Rolle. In rund drei Vierteln der Fälle kann das Staats­sekretariat für Migration (SEM) diese aber nicht von Anfang an zweifels­frei feststellen. SVP-Nationalrat Gregor Rutz hat deshalb eine parlamentarische Initiative eingereicht, damit die Behörden elektronische Geräte nach Hinweisen auf die Identität der Asyl­suchenden durchsuchen können. In Deutsch­land hat ein ähnliches Gesetz kaum nützliche Hinweise ergeben: Zwei Drittel der Durchsuchungen waren ergebnislos. In einem Schweizer Pilot­projekt wurden nur in 15 Prozent der 565 Fälle nützliche Hinweise gefunden. Trotzdem will nun eine Mehrheit der Kommission eine gesetzliche Grundlage für die Handyüberwachung schaffen: Die Asyl­suchenden sollen Smart­phones, Laptops, SIM-Karten, USB-Sticks und SD-Karten herausgeben müssen. Der Zugriff auf diese Daten ist ein schwerer Eingriff in die Privat­sphäre der Geflüchteten. Das SEM könnte gemäss dem jetzigen Vorentwurf nicht nur zur Prüfung eines Asyl­gesuchs auf die privaten Daten zugreifen, sondern auch zur Vorbereitung von Ausschaffungen.

Wie es weitergeht: Die Gesetzes­änderung geht nun bis zum 4. Juni in die Vernehmlassung. Dort dürfte sie auf Kritik stossen: Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat das Vorhaben bereits scharf kritisiert.

Rentenreform: Jungpolitiker machen eigenen Vorschlag

Worum es geht: Die berufliche Vorsorge benötigt dringend eine Reform. Sechs Jungparteien wollen nun die 2. Säule unter anderem mit einem flexiblen Rentenalter retten.

Warum Sie das wissen müssen: Das 3-Säulen-System der Schweizer Alters­vorsorge ist veraltet. Das Geld wird knapp, weil wir immer älter werden und unser Erspartes seit einigen Jahren keine Zinsen mehr abwirft. Doch die Politik beisst sich an einer Reform die Zähne aus. Zuletzt scheiterte im September 2017 ein grosser Reformvorschlag des Bundesrats für die 1. und die 2. Säule an der Urne. Gesundheits­minister Alain Berset feilt seither an einer neuen Vorlage. Nun haben sich die Jung­sektionen von SVP, FDP, CVP, BDP, GLP und EVP eingeschaltet. Sie fordern unter anderem:

  • ein flexibles Renten­alter, das an die Lebens­erwartung gekoppelt wird und für Frauen und Männer gleich ist;

  • einen flexiblen Umwandlungs­satz, der jährlich vom Bundesrat angepasst werden kann, und

  • ein Eintrittsalter von 18 statt 25 Jahren für die zweite Säule.

Die bisherigen Vorschläge des Bundesrats gehen nicht ganz so weit. So will Berset das Renten­alter der Frauen von 64 auf 65 Jahre erhöhen und den Umwandlungs­satz, der die Höhe der Jahresrente bestimmt, von 6,8 auf 6 Prozent senken. Die Gewerkschaften wiederum wollen vor allem die AHV stärken, und die Juso fordern, dass auch Kapitaleinkommen AHV-pflichtig werden.

Wie es weitergeht: Die parlamentarische Debatte zum nächsten Anlauf hat noch nicht begonnen. Der Jung­parteien­vorschlag fliesst in die laufende Vernehm­lassung ein. Sie basiert auf einem Kompromiss zwischen Gewerk­schaften und dem Arbeit­geber­verband, der auch dem Bundesrat gefällt.

Gesundheitskosten senken: Kommission gibt ihren Segen

Worum es geht: Die Gesundheits­kommission des Nationalrats hat sich am vergangenen Freitag einstimmig für das erste von zwei Massnahmenpaketen ausgesprochen, die dafür sorgen sollen, dass die Gesundheits­kosten nur in dem Umfang steigen, wie sie medizinisch begründbar sind.

Warum Sie das wissen müssen: Die beiden Massnahmenpakete des Bundesrats sind nur einer von diversen Ansätzen, um die Gesundheits­kosten in den Griff zu bekommen – wenn auch der umfassendste. Das erste Paket umfasst 9 Massnahmen, wie zum Beispiel die Einführung eines Experimentier­artikels, der innovative und kosten­dämpfende Projekte ermöglichen soll. Die Massnahmen basieren auf einem Bericht einer internationalen Experten­gruppe und sollen zu Einsparungen von jährlich mehreren hundert Millionen Franken führen. Das zweite Paket will vor allem definieren, wie sich die Kosten in der obligatorischen Kranken­pflege­versicherung entwickeln dürfen. Daneben sind mehrere Volks­initiativen zum Thema in der Pipeline. So fordert die CVP in ihrer Kostenbremsen-Initiative, dass die Prämien nicht stärker steigen dürfen als die Löhne. Die SP wiederum schlägt vor, dass die Prämien­belastung pro Haushalt nicht mehr als 10 Prozent des Einkommens betragen darf. Die radikalste Initiative stammt von Yvette Estermann: Die SVP-Nationalrätin will eine Kranken­kasse «light» – und könnte sich sogar vorstellen, mit der Initiative den Weg zu ebnen, um den Versicherungszwang abzuschaffen.

Wie es weitergeht: Der Bundesrat plant, das zweite Paket mit kosten­dämpfenden Massnahmen im März in die Vernehmlassung zu schicken. Das erste Paket wird das Parlament an einer Sondersession am 4. und 5. Mai behandeln.

Bundesgericht: Ein «Like» kann üble Nachrede sein

Worum es geht: Wer auf Social Media durch Liken oder Teilen dazu beiträgt, einen ehrverletzenden Inhalt weiterzu­verbreiten, kann sich der üblen Nach­rede schuldig machen – genauso wie der Autor der Nachricht. Dies hat das Bundes­gericht in einem Leiturteil festgehalten.

Warum Sie das wissen müssen: Liken und Sharen ist schnell gemacht: Oft werden die Knöpfe gedrückt, ohne gross darüber nachzudenken. Doch das höchste Gericht erinnert in seinem Entscheid an die Verantwortung der Nutzer. Strafbar wird das Liken oder Sharen dann, wenn die ehrverletzende Ursprungs­nachricht dadurch von Dritten wahr­genommen wird. Das hängt gemäss Bundes­gericht von der Pflege des Newsfeeds, vom Algorithmus des Netzwerk­dienstes und von den persönlichen Einstellungen der Nutzer ab. Es ist jedoch davon auszugehen, dass gelikte oder geteilte Inhalte in aller Regel eine Weiter­verbreitung an Dritte bedeuten: Der vom Autor der Nachricht ursprünglich anvisierte Empfänger­kreis wird deutlich erweitert.

Wie es weitergeht: Das Zürcher Obergericht hatte dem Mann, der mehrfach auf Facebook ehrverletzende Beiträge gelikt und geteilt hatte, die Möglich­keit verwehrt, zu beweisen, dass die Nach­richten der Wahr­heit entsprechen – was zur Straflosigkeit führen würde. Deshalb geht der Fall zurück an die Vorinstanz. Die Posts betreffen den Präsidenten des Vereins gegen Tier­fabriken, Erwin Kessler. Zu beweisen ist, ob Kessler anti­semitische und rassistische Auffassungen vertritt. Nicht geklärt hat das Bundes­gericht übrigens die wichtige Frage, ob es sich bei Facebook um ein Medium im Sinne des Strafgesetzbuchs handelt.

Die Bestürzung der Woche

Die SVP fordert, dass die Behandlung der Überbrückungs­rente für ältere Arbeits­lose von der Traktanden­liste für die Frühjahrs­session gestrichen wird. In einem Brief an die Büros von National- und Ständerat schrieben SVP-Präsident Albert Rösti und SVP-Fraktions­präsident Thomas Aeschi, sie seien «bestürzt» über die Absicht des Parlaments, das Gesetz bereits in der Frühjahrs­session fertig beraten zu wollen. Eine «seriöse und verantwortungs­volle gesetz­geberische Arbeit» sei in dieser kurzen Frist nicht möglich. Was die SVP nicht schreibt: Die Überbrückungs­rente soll negative Folgen der Personen­freizügigkeit abfedern. Und ist somit ein starkes Argument gegen die SVP-Begrenzungs­initiative, deren Annahme eine Kündigung der Personen­freizügigkeit zur Folge haben könnte. Für Aeschi ist klar: Sollte das Geschäft in Rekord­zeit durchgepaukt werden, zeige dies, dass man im Kampf gegen die SVP-Initiative bereit sei, sämtliche Prinzipien zu opfern. Zum Beispiel die von der SVP immer wieder beklagte parlamentarische Langsam­keit und Ineffizienz?

Bestürzend.

Illustration: Till Lauer