Martin stürzt ab

Mit 8 Jahren sah ich, wie ein Junge blutend neben den Tramgleisen lag. Das Bild habe ich nie mehr vergessen. 20 Jahre später will ich wissen: Was ist damals passiert?

Von Ronja Beck (Text) und Isabel Seliger/Sepia (Illustration), 21.02.2020

Münchenstein war aschgrau, als uns die Schul­glocke ins Wochenende schickte. Ich tauschte meine Finken gegen Schuhe und machte mich auf den Nachhause­weg: die Strasse ohne Zebra­streifen; der Spielplatz mit den feuchten Holzspänen; die miefige Unter­führung und die Beton­schlucht hinab zur Tramstation; die Gleise entlang bis zu den tannen­grünen Fenster­läden, hinter denen ich aufgewachsen bin.

Am Nachmittag des 3. November 2000 war etwas anders. Bei der Tramstation Münchenstein Dorf, vier Minuten von meinem Elternhaus entfernt, beugte sich ein Mann in neongelber Jacke über einen Knaben mit blutüberströmten Beinen. Das Tram verharrte in der Station, als läge es in einer Schock­starre. Der Mann in Neon tastete die Kinder­beine ab und fragte: Spürst du das?

Still stand ich da, wandte mich nach einigen Sekunden ab und eilte die Gleise entlang nach Hause, bis zu den tannen­grünen Fenster­läden. Ich weiss nicht mehr, was ich damals dachte. Und niemand erinnert sich, ob ich darüber gesprochen habe. Ich frass zu jener Zeit viel in mich hinein. Vielleicht auch seine roten Beine.

20 Jahre unverdaut.

Mit dem Kopf über Schotter und Schienen

Dezember 2019 in Münchenstein, die Kälte liegt hart auf der Haut. «Ich bin dann der Romeo», sagt Romeo Zolin kurz nach dem Handschlag. Ich werde ins «Sie» zurückfallen, er wird es mir nicht übel nehmen. Heute gibt es wichtigere Dinge zu erinnern.

Wir gehen ins Bäckerei-Café Birseck, ein Spunten, eingeklemmt zwischen Bahnhof und Industrie, mit starkem Kaffee und schwerer Eiche. Eine sanfte Links­kurve entfernt von der Stelle, wo der Bub vor 20 Jahren lag. Und wo nur Momente später Romeo Zolin zu ihm in den Kranken­wagen kletterte.

Zolin hat die Ärmel seines Pullis hochgekrempelt, der rechte Arm liegt kumpelhaft auf der Stuhllehne neben ihm, am Handgelenk eine Apple Watch. Seine Finger wirken aufgedunsen, vielleicht wegen der 8 bis 10 Tabletten, die er jeden Tag einwerfen muss. Zolin, Anfang 60, hat es mit dem Herzen. Vor wenigen Jahren dann Lungen­krebs, Chemo, «Holz aalänge». Später wird er mir sein Schöggeli zuschieben – der Blutzucker.

Keine Sekunde merkt man ihm das alles an, während er seine 14 Jahre als Betriebschef der Basel­bieter Verkehrs­betriebe, genannt BLT, vor mir ausbreitet. Das Gezanke mit dem Chef, die Freiheiten ohne die Bürokratie. «Meine Leute», sagt er noch heute, auch wenn sie es seit 18 Jahren nicht mehr sind.

Wenn seine Leute riefen, dann kam er als Betriebs­chef meistens persönlich, bei Personen­unfällen immer, auch wenn er dafür um halb fünf Uhr morgens nach Solothurn rausfahren musste. «Das sind schwierige Momente für die Wagen­führer. Ich fand, da muss einfach jemand dort sein.»

Der 3. November 2000 war so ein Moment.

«Es war so um halb vier am Nachmittag. Ich sass in meinem Büro in der Zentrale, als der Notruf des Wagen­führers reinkam. Ein Schüler sei in der Wagentür eingeklemmt und mitgeschleift worden. Da habe ich alles fallen lassen.»

Eine Woche nach dem Unfall folgte der Bericht im Lokalteil der «Basler Zeitung». Zolin wird darin zitiert: «Man darf sich das gar nicht vorstellen, mit dem Kopf über Schotter, Schienen und Weichen geschleift zu werden.»

Eine Antwort und eine Frage

Fast ein Jahr bevor ich mit Ex-Betriebschef Romeo Zolin zusammensitze, habe ich nach dem Jungen von der Haltestelle zu suchen begonnen. Mit einer Anfrage an die Baselbieter Polizei. Frau Beck, ich habe schlechte News, schrieb der Medien­sprecher nach einigen Tagen. Das Archiv wusste noch weniger als ich.

Also Facebook. In einer Gruppe für München­steinerinnen, zwischen Ärger über vermüllte Grillstellen und körnigen Klassenfotos, fragte ich nach dem Jungen mit den roten Beinen. Es war er selbst, der zurückschrieb:

«Sisch alles ok s goht mer tiptop.»

Eine 20 Jahre alte Frage, beantwortet in unter 30 Minuten. Das hatte ich mir spektakulärer vorgestellt. Ich klickte auf sein Profil.

Dort leuchtete mir grün das Bild eines Basler Trams entgegen.

Auf dem Podest der Furchtlosen

April 2019 in Basel, wir sitzen im Café Unternehmen Mitte in der Innenstadt, umzingelt von Menschen mit MacBooks, hinter uns sprechen junge Amerikaner zu laut, Martin trinkt eine Cola. Das verletzte Kind ist zu einem grossen, kräftigen Mann gewachsen. Martin heisst eigentlich anders, er will anonym bleiben. Denn das, was war, passt nicht zu dem, was ist.

Er erzählt von einer abgebrochenen Lehre, dann Temporärjob, Temporärjob, Temporärjob. Eine andere Lehre, mit gutem Abschluss, aber danach keine Stelle. «Absagegrund: keine Berufs­erfahrung. Das war das Geilste. Du kommst aus der Lehre – wie willst du Berufs­erfahrung haben?» Also RAV, irgendwann Sozialamt, wieder temporär. «Ich bin zu verschiedenen Firmen und habe gehofft, dass die irgendwann eine Fest­anstellung schmeissen.» Aber es war immer Martin, der irgendwann schmiss.

«Wollen wir ein bisschen über deine fernere Vergangenheit sprechen, Martin?»

«Können wir. Aber es ist nicht mehr viel hängen geblieben. Es ist lange her.»

«Ich bin erschrocken, dass es schon 20 Jahre sind!»

«Jaja, da waren wir noch jung, weisch. Wir waren einige Jungs, jeder hat ein bisschen Scheisse gemacht. Irgendwann kam halt das Tramsurfen.»

Martin war am 3. November 2000 nicht in die Fänge einer defekten Tramtür geraten, wie der Wagen­führer zuerst gemeldet hatte.

«Es war einfach hirnverbrannt», sagt Martin.

Als das gelbe Baselbieter Tram an jenem Freitag­nachmittag an der Station Brown Boveri hielt, stieg Martin beim letzten Wagen auf die Kupplung. Das Metall­stück ragte bei den alten Fahrzeugen wie ein Podest aus dem Hintern, darüber hing damals ein dickes Elektro­kabel, mit dem man die Wagen verband. So hatte man was zum Festhalten.

Es war nicht der erste Schienenritt für den 11-Jährigen. Das «Tramsurfen» war bis in die Nuller­jahre für Jugendliche in beiden Basel eine verbreitete Mutprobe. Unfälle wurden praktisch keine verzeichnet. Blaue Flecken seien wohl lieber heimlich gepflegt worden, schätzt Ex-BLT-Mann Romeo Zolin. Und mit den neuen, glatten Trams, den «Combinos», «Flexitys» und «Tangos», die seit der Jahrtausend­wende die alten Motor­wagen in der Region beinahe vollständig ersetzt haben, ist die Sache vom Tisch.

Damals, am 3. November 2000, standen Martin und seine zwei Freunde an der Tramstation. Während das Tram hielt, stieg sein Kumpel als Erster auf den Tritt der Furchtlosen. Mit dem blinden Passagier lenkte das Drämmli in die grosse Rechts­kurve ein, ratterte die 500 Meter hinab bis Münchenstein Dorf, vorbei am Doppel­haus mit den tannen­grünen Fenster­läden, so schnell, dass die Gläser in den Schränken bibberten. Der Kollege stieg ab und wartete.

Jetzt du, Martin.

«Der war sich der Sache doch gar nicht bewusst – wie soll er auch!», sagt Romeo Zolin.

Wieso es Teenager einfach nicht lassen können

Wieso steigt ein 11-Jähriger, ein Kind, hinten auf einen Tramwaggon, ungesichert und praktisch ohne Halt, wieso macht ein Kind diesen Höllenritt, den es so schnell mit dem Leben bezahlen könnte?

Google spuckt immer wieder denselben Namen als Antwort auf meine Fragen aus: Sarah-Jayne Blakemore. Sie hat ein Buch geschrieben. Es ist 2018 erschienen, und sein Titel klingt vielversprechend: «Das Teenager-Gehirn. Die entscheidenden Jahre unserer Entwicklung.».

«Halbwüchsige sind nicht dumm, rational verstehen sie Gefahren durchaus», lese ich darin. Blakemore ist eine Neuro­wissenschaftlerin – und, das wird auf den ersten Seiten klar: eine Advokatin für die Sünden der Jugend. Nicht weil sie diese besonders lustig oder gescheit fände. Nur weiss sie: Die Jungen haben keine grosse Wahl.

Nächtliches Rausschleichen, heimliches Rauchen, Prügeleien: Lange Zeit galten die Hormone als die Schuldigen für das wilde Tun der Jugend. Bis Ende der 90er-Jahre erste Studien zeigten, dass das menschliche Gehirn nicht plötzlich im Kindes­alter in seiner Entwicklung stoppte, wie man lange angenommen hatte. Vielmehr macht das menschliche Hirn bis in die Zwanziger hinein grössere Sprünge. Weitere Studien ab Ende des Jahres 2000 fügten an, dass sich gewisse Hirnregionen dabei unterschiedlich schnell ausbilden. Die Belohnungs­systeme reifen früher, während der präfrontale Kortex, der unter anderem für die Kontrolle unserer Impulse zuständig ist, oft bis ins junge Erwachsenen­alter hinterher­hinkt. Dieses Ungleich­gewicht treibt die Jungen zum Risiko, vermuten die Forscherinnen.

Sind dann auch noch Freunde dabei, wird die Situation heiss. In Versuchen handelten Jugendliche, die allein waren, beinahe gleich wie die erwachsenen Teilnehmerinnen. Sobald Freunde dazustiessen, wurde ihr Verhalten wesentlich risiko­reicher, während die Erwachsenen ihres kaum anpassten.

Blakemore, Mutter zweier Teenager, schreibt: «Das halbwüchsige Hirn ist kein funktions­gestörtes oder defektes Erwachsenen­gehirn.» Was Martin und seine Freunde an dem grauen Nachmittag des 3. November getan hatten, war keineswegs hirnverbrannt. Im Gegenteil: Es war stinknormal – für einen Jugendlichen.

Romeo Zolin, kinderlos, muss das verstanden haben. Sonst wäre es wohl nie zu diesem Deal mit der Jugend­anwaltschaft gekommen, von dem er vor leerer Kaffee­tasse erzählt.

«Vor allem bei Sprayereien und Vandalen haben wir sehr stark mit der Jugend­anwaltschaft zusammen­gearbeitet», sagt er. «Beim ersten Delikt – Delikt klingt immer so grausam –, beim ersten Vorfall haben wir dem Jugendlichen die Chance gegeben, eine Woche bei uns im Depot zu arbeiten, zu schauen, was wir machen, und wir haben ihm zu verstehen gegeben – ich sags, wie ichs den Jungen anno dazumal gesagt habe –, dass wir keine Wichser sind.»

Martins Fehler

3. November 2000 in Münchenstein, das nächste Drämmli fährt in die Station Brown Boveri ein. Martin steigt auf die Kupplung. «Es war eigentlich noch easy, nur – ich weiss nicht, ob es irgendeinen Stein auf den Gleisen hatte. Es hatte einfach einen huere Buckel. Und wenn du das Gleich­gewicht verlierst, fliegst du natürlich runter.»

Wo er sein Gleichgewicht verlor, ist nicht ganz klar. Auf Seite 37 der «Basler Zeitung» vom 8. November 2000 steht, er soll in der grossen Kurve zu Beginn der Strecke gefallen sein. Die Kapuze seiner Windjacke habe sich dabei in der Kupplung verfangen. Das Tram habe den Schüler schliesslich bis zur nächsten Haltestelle mitgerissen. Seine Beine: über einen halben Kilometer Schotter geschleift, bei bis zu 50 Kilometern pro Stunde.

«Ich glaube, ich fiel später», sagt Martin.

«Ich bin mir sicher, dass es nicht die ganze Strecke war. Der Bub hätte anders ausgesehen», sagt Zolin.

«Ich bin runter, und als ich wieder aufwachte, lag ich da», sagt Martin. «Du siehst Leute rumstiefeln, wirst in den Karren gepackt und ins Spital gebracht. Dann ist es eigentlich rum.»

Martin erinnert sich nicht, wie die Sanitäter seinen kleinen Körper hoben und auf die Trage legten. Wie sie ihn abtasteten, um zu prüfen, ob er noch fühlte. Wie das Blut aus den Schürf­wunden drückte. Keine Ahnung von dem kleinen Mädchen, das plötzlich zu seinen Füssen stand. Oder von den Schmerzen, die ihm sein verdrehter Fuss bereitete. Martin weiss nicht mehr, dass wenige Momente später Romeo Zolin zu ihm in den Kranken­wagen stieg, das Schmierfett von der Kupplung an seiner Jacke sah und erleichtert war: Es war keine defekte Tramtür.

Martin erinnert sich nicht mehr, wie er das Erfinden sein liess – und gestand.

Martin wurde direkt ins Spital gefahren und nach kurzer Zeit mit Stöcken wieder entlassen. Nebst Schürf­wunden und Prellungen hatte er sich wahrscheinlich die Bänder gezerrt. So ganz genau weiss Martin auch das nicht mehr. «Du musst einfach lernen abzuschalten und solche Dinge hinter dir zu lassen.»

Martins neue Stelle

Die Sonne steht viel zu früh viel zu tief, mit einem «Aadie mitenandr» treten Romeo und ich aus dem Café Birseck und gehen die wenigen Meter zur Haltestelle Münchenstein Dorf. Martin hätte eigentlich dabei sein sollen. Er fand den Gedanken erst befremdlich, immerhin wisse er ja kaum noch etwas. Nach dem wochenlangen Versuch, einen Termin zu finden, gab ich entnervt auf.

Schade, und doch gut so. Martin sagte nicht grundlos ab, er musste für seine kranken Kollegen einspringen. Seit letztem Frühling hat er endlich eine Festanstellung. Bei den «Grünen», wie er sagt.

Bei unserem Treffen stand Martin wenige Wochen vor dem Stellen­antritt. Als ich mich im Dezember mit Romeo Zolin treffe, steuert Martin die «Grünen» auf allen neun Linien durch die Stadt: Der Tramsurfer arbeitet heute als Tramchauffeur, bei den Basler Verkehrsbetrieben.

Mit 13 Jahren der Besuch eines Tramdepots mit der Schul­klasse, das erste Mal in der Führer­kabine, der Beginn von Martins Faszinosum, ein Funke, der 15 Jahre später endlich auf Holz traf.

Es gibt noch einige wenige alte Trams, die durch Basel fahren. Hinten das Podest, die Kabel aber gekappt und vernietet.

In den Tagen, die folgen, erzähle ich den Menschen von Martin, wie ich es die 20 Jahre zuvor bereits getan hatte. Als Kind flüsternd unter der Bettdecke. Als Teenager beduselt an einer Hausparty. Als Mittzwanzigerin an der Redaktionssitzung.

Doch Martins Geschichte ist nicht mehr dieselbe. Sie endet nicht mehr mit den blutroten Beinen eines Kindes und den eingefrorenen Gesichtern meiner Zuhörer. Mit einem Fehler am Schluss.

Martins Geschichte endet jetzt in Grün.