Eine hässliche Geschichte aus dem liberalen Amerika
Rassismus hat die Künstlerin Adrian Piper ins deutsche Exil getrieben. Nicht jener von Präsident Trump. Sondern jener, den sie als schwarze Professorin am College erlebte, an dem einst Hillary Clinton studierte.
Von Jörg Heiser, 15.02.2020
In den frühen 1990er-Jahren hörte ich zum ersten Mal von Adrian Piper. Es war eine Zeit, in der der boomende Kunstmarkt der 1980er-Jahre mit seinen Malerfürsten und Neo-Pop-Helden kollabiert war; die Mauer war gefallen, Deutschland war wiedervereinigt. Der Zweite Golfkrieg und die Jugoslawienkriege begannen. Die Kunstwelt – oder besser gesagt: ein Teil der Kunstwelt – fragte sich in einer Art Rückbesinnung, was von den radikalen Neuerungen seit den 1960ern – von Konzeptkunst, Performance, Fluxus, Pop-Art usw. – denn reaktivierbar sei für andere, neue Zeiten. Und so stiess man nun in den Kunstzeitschriften wieder auf das Werk von Adrian Piper.
Am deutlichsten kann ich mich daran erinnern, wie ich zum ersten Mal ein Schwarzweissbild sah, das vom Anfang der 1970er-Jahre stammte und Piper als junge Frau zeigt, wie sie in einem New Yorker Linienbus sitzt – mit einem in den Mund gestopften weissen Tuch.
Das Kunstwerk gehört zu einer Serie von Performances namens «Catalysis», benannt nach der chemischen Reaktion, für die man einen Katalysator benötigt, der dabei selbst nicht verbraucht wird. Die unangekündigten Aktionen im öffentlichen Raum waren solche Katalysatoren. Und dass Piper sich dabei gewissermassen nicht «verbrauchte» – darin steckte der Humor: ein stoisches Unbeeindrucktsein von der eigenen Anomalie.
Ob Piper nun im Central Park umherlief mit an ihren Zähnen befestigten, heliumgefüllten Mickey-Mouse-Ballons oder mit der U-Bahn fuhr in Klamotten, die sie zuvor eine Woche in einer Marinade aus Essig, Ei, Milch und Lebertran eingelegt hatte: Immer irritierten diese Aktionen die üblichen Muster des Kennens und Erkennens, mit denen wir fortwährend – bewusst oder unbewusst – Menschen kategorisieren, einordnen und allzu oft stigmatisieren. Piper machte ihre Performances nicht einfach aus Jux, sondern mit einer Konsequenz und einer Reflektiertheit, die etwas damit zu tun haben musste, dass sie als afroamerikanische Frau und Konzeptkünstlerin später auch eine Professur für Philosophie antrat.
2018 richtete das New Yorker Museum of Modern Art – immer noch die bedeutendste Institution ihrer Art weltweit – Adrian Piper die grösste Retrospektive aus, die es je einer lebenden Künstlerpersönlichkeit gewidmet hat. Gezeigt wurde ein Werk, das fünf Jahrzehnte umfasste. Die Ausstellung erregte viel Aufsehen, wanderte anschliessend nach Los Angeles und hätte letztes Jahr in München zu sehen sein sollen, wäre sie vom Geschäftsführer des krisengeschüttelten Hauses der Kunst nicht aus angeblichen Kostengründen abgesagt worden – und ersetzt durch eine Schau des deutschen «Malerfürsten» Markus Lüpertz.
Ebenfalls 2018 veröffentlichte Piper ihre Memoiren. Der Wirbel um ihre Retrospektive mag die Aufmerksamkeit ein Stück weit abgelenkt haben vom Zündstoff, den dieses Buch eigentlich enthält. Heute bekommt man den Blick dafür wieder frei. Der Band heisst «Flucht nach Berlin. Eine Reiseerinnerung» und ist in einer zweisprachigen, deutsch-englischen Ausgabe erschienen. Das Buch ist so schockierend, wie es fesselnd ist. Mal hat man das Gefühl, man müsse es langsam und konzentriert lesen wie ein episches Gedicht. Dann wieder will man es verschlingen wie einen Thriller. Es ist berührend, erschütternd, meist beides zugleich. Dies ist definitiv nicht die Sorte Künstlermemoiren, bei denen es um süffige Anekdoten unter Alphatieren geht. Das macht schon der Titel klar. Flucht? Solch ein Wort wählt man (hoffentlich) nicht leichtsinnig.
«Du möchtest wissen, warum ich die USA verlassen habe und mich weigere, zurückzukehren?», heisst es gleich am Anfang, gefolgt von der Antwort: «Darum.» Und tatsächlich erzählt Piper im Folgenden, zwischen den Deckeln eines mit zahlreichen Kunstwerken und Privatfotos illustrierten Hardcover-Buches, warum sie eine amerikanische Künstlerin ist, die seit 2005 im Exil lebt. In Berlin. Eine Künstlerin, die nicht einmal ihre eigene Retrospektive in New York besuchte. Es geht um Mobbing am Arbeitsplatz, um Psychoterror an der Universität, um rassistische und sexistische Diskriminierung. Und es geht um den Widerstand dagegen – auch in Form dieses Buchs, das eine Art Abrechnung ist. Denn man könnte auch sagen, dass Piper in den Neunzigerjahren zur Whistleblowerin wurde. Und wie andere amerikanische Whistleblower wurde sie dafür massiv bestraft.
Aber das Buch erzählt nicht nur von den Gründen, die die Philosophieprofessorin und Kant-Expertin Adrian Piper hatte, aus einem Land zu flüchten, in dem sie sich massiven Repressalien ausgesetzt sah. Es macht auch deutlich, dass mehr oder minder alle Werke, die Piper, die Konzeptkünstlerin, in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen hat, sich direkt aus ihren traumatischen Erfahrungen speisen.
Nehmen wir als Beispiel die Installation «Cornered» von 1988, die eigentlich gerade in München zu sehen sein sollte. Piper erscheint auf einem Monitor, der in die Ecke gedrängt ist, hinter einem umgekippten Tisch. Sie sieht aus wie eine Nachrichtensprecherin, mit eleganter Erscheinung und Perlenkette. Sie sagt: «Ich bin schwarz.» Nach kurzer Pause fährt sie fort mit einem ebenso ruhig wie eindringlich vorgetragenen Monolog. Er nimmt die mögliche Reaktion eines typischen, sich als «weiss» verstehenden Museumsbesuchers vorweg: «Wenn Sie finden, dass ich unnötiges Aufhebens verursache, wenn ich verlautbare, dass ich nicht weiss bin, dann finden Sie wohl auch, dass die richtige und angemessene Vorgehensweise für mich darin bestünde, einfach als weiss durchzugehen. Diese Sichtweise impliziert allerdings, dass es grundsätzlich besser ist, als weiss identifiziert zu werden.»
Pipers Argumentationskette setzt sich in der ungeschnittenen, sechzehnminütigen Einstellung mit der Präzision eines Uhrwerks fort, bis sich mit ebenjener Präzision die unausweichliche Erkenntnis einstellt: «Rasse» ist ein komplett ideologisches Konstrukt.
In der Nachfolge James Baldwins
Werke wie «Cornered» erscheinen durch die Memoiren als Verarbeitung von Pipers persönlichen Erfahrungen im akademischen Milieu, aber das heisst nicht, dass man die Werke darauf reduzieren kann. Die Arbeiten sind nicht blosse Illustration biografischer Vorkommnisse. Sie sind auch kein therapeutisches Ventil. Vielmehr entfalten sie eine kathartische Wirkung, weil sie potenziell uns alle ansprechen.
Das erwartet man auch von einer Autobiografie: dass sie über das Anekdotische hinauswächst und eine künstlerische, gar politische Dimension annimmt. Insofern lässt sich Pipers Buch in Beziehung setzen zu einer Traditionslinie grosser Autobiografien, die sich mit den Wurzeln des amerikanischen Rassismus auseinandersetzen – vielleicht am deutlichsten mit James Baldwins «Notes of a Native Son» von 1955 (auf Deutsch zuerst 1963 erschienen als «Schwarz und Weiss oder Was es heisst, ein Amerikaner zu sein»). Das liegt auch an offensichtlichen Parallelen.
Piper (Jahrgang 1948) wie Baldwin (Jahrgang 1924) wuchsen als künstlerische und intellektuelle Ausnahmebegabungen in Nord-Manhattan unter Afroamerikanern auf. Beide sind grundsätzlich nicht imstande, sich angesichts von Diskriminierungen wegzuducken und zu schweigen. Und beide gingen ins Exil nach Europa. Bei Baldwin war es das FBI, das ihm das Leben schwer machte und mit dazu beitrug, dass er 1970 nach Frankreich in die Provence zog, wo er 1987 starb.
Aber es gibt natürlich auch Unterschiede: So wurde James Baldwins Stiefvater paranoid und ging schroff mit ihm um, während Piper ihren Vater als einen Mann bescheidener Anständigkeit und liebevoller väterlicher Zuwendung beschreibt. Auch sonst sorgten ihre Eltern dafür, dass Familie und Freunde es etwa unterliessen, sie durch Kommentare über ihr Äusseres auf ihr Aussehen zu reduzieren. Bis die Klassenlehrerin der fünften Klasse die Eltern fragt, ob der Tochter bewusst sei, dass sie «farbig» sei.
Erst 1978, so Piper, habe sie sich plötzlich an diesen Vorfall wiedererinnert, nachdem ein Studienkollege, dessen Annäherungsversuche sie abgewiesen hatte, auf ihre «Rasse» zu sprechen gekommen war. Zahlreiche ihrer künstlerischen Werke sind direkt gespeist von solchen Erfahrungen, etwa die Zeichnung mit dem sprechenden Titel «Selbstporträt, meine negroiden Merkmale übertreibend» («Self-Portrait Exaggerating My Negroid Features», 1981).
Und während Baldwin seine mitreissende Prosa an Predigern geschult hatte, erinnert Pipers Stil zu gleichen Teilen an die deduktive Klarheit der Philosophen und die imaginativen Gedankensprünge der Konzeptkünstler. Durch die Art, wie sie erzogen worden war, hatte sie gelernt, sich selbstverständlich und furchtlos als freies intellektuelles Individuum zu verstehen.
Aber diese Furchtlosigkeit, so schreibt sie, habe es ihr zuweilen auch schwierig gemacht, Reaktionen zu lesen:
Ich habe unzählige Kollegen und ehemalige Freunde beschämt, in Verlegenheit gebracht oder vor den Kopf gestossen, […] weil ich voraussetzte, dass ich ihrem Wort – wie einst dem meiner Eltern – trauen konnte. Ich brauchte Jahrzehnte, bis ich kapierte, was das Problem war: Da ich in einem Umfeld aufgewachsen war, in dem die Menschen meinten, was sie sagten, fehlte mir die Fähigkeit, zwischen aufrichtigen Äusserungen und lediglich höflichen oder diplomatischen Floskeln zu unterscheiden.
Höflich und diplomatisch: Piper spricht hier von den Usancen der Kunstwelt, mehr aber noch von der akademischen Welt, in die sie Einzug hielt als Doktorandin von John Rawls, dem berühmten Philosophen und Theoretiker der Gerechtigkeit.
Das Trauma
1990 trat sie eine ordentliche Professur der Philosophie am Wellesley College an. Die Schule ist eine der «Seven Sisters», der weiblichen Pendants zu den ursprünglich nur männlichen Studenten offenstehenden «Ivy League»-Eliteuniversitäten wie Harvard oder Stanford. Zu den Alumnae des Wellesley gehören Hillary Clinton und Madeleine Albright. Umso schockierender ist, was Piper beschreibt: nicht weniger als eine Geschichte systematischen Mobbings und fortgesetzter Diskriminierung, Dinge, die in ihrer detaillierten Schilderung bis zu gravierenden Verletzungen des Arbeits- und Sozialrechts reichen.
In den frühen 1990er-Jahren kümmert sie sich um ihre sterbende Mutter und wird dabei selber krank. Intrigante Verhältnisse am Arbeitsplatz, falsche Verdächtigungen – inklusive der Anschuldigung, sie täusche ihre Erkrankungen nur vor – sind an der Tagesordnung. An einer Universität, die sich ihrer Integrität, ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit und ihrer liberalen Antidiskriminierungspolitik rühmt –, ausgerechnet an diesem Ort wird die Frau, die beauftragt worden war, einen internen Bericht zur Diskriminierung von Afroamerikanern am College zu recherchieren und zu verfassen, offenbar am Ende dafür bestraft, ihre Arbeit gemacht zu haben. Der Bericht selbst wird unterdrückt.
Das erscheint unglaubwürdig? Man kann auf die Website der Künstlerin gehen, wo ebendieser Report abrufbar ist. Er präsentiert die Ergebnisse sorgfältiger empirischer Recherchen, nachvollziehbar und wohlbegründet. Minutiös werden verschiedene Formen der Zurücksetzung aufgezählt, die sich aus einer «falschen Fassade der Zivilität und der tadellosen Manieren» ergäben.
Diese Fassade suggeriere eine Art multikulturelles, liberales Paradies der Gleichbehandlung, tatsächlich aber werde, so Piper, an der ehrwürdigen Hochschule genau damit Ausgrenzung betrieben. Denn wer sich diesem Selbstbild nicht unterordne, sei auf verschiedene Weisen ausgeschlossen oder zurechtgewiesen worden. Berichte über rassistische Vorkommnisse seien – so zitiert der Report verschiedene Quellen – nicht nach ihrem Tatsachengehalt beurteilt worden, sondern danach, ob sie dem Image der Eliteeinrichtung schaden.
Piper listet in ihrem Buch zahlreiche Massnahmen auf, die man gegen sie in Stellung gebracht habe: Gehaltskürzungen, verzögerte oder gestrichene Gesundheitsversicherungszahlungen (während sich Piper aufgrund schwerer Erkrankungen kostspieligen diagnostischen Tests unterziehen musste), das Unterbinden der Auszahlung von Forschungsgeldern, das «versehentliche» Auslassen ihrer Seminarangebote im Vorlesungsverzeichnis. Hinzu kommen wiederholt aufgeschlitzte Autoreifen und viermaliger vandalistischer Einbruch in ihr Haus.
Aber selbst wenn man annimmt, dass Piper mit den letztgenannten Vorkommnissen eben einfach nur besonders viel Pech hatte, erscheint eine Tatsache schon für sich genommen sehr schwerwiegend: Das Wellesley College hat die Professur Pipers beendet, zwei Monate bevor sie Anspruch auf substanzielle Ruhestandszahlungen gehabt hätte.
Verarbeitung durch Kunst
Laut Piper gibt es drei Instrumente, jemanden loszuwerden oder zum Schweigen zu bringen. Erstens: Man setzt Gerüchte über die Person in die Welt, um die Atmosphäre um sie herum zu vergiften. Zweitens: Man dämonisiert sie, indem man ihr schlechte Absichten nachsagt. Drittens: Man schliesst sie aus durch Schweigen und Nichtinformation. Diese Instrumentarien werden von einer eigenen Rhetorik der Verleugnung begleitet, die Piper zu einem Werk verarbeitete, das den Umschlag des prächtigen Katalogs der Ausstellung im Museum of Modern Art ziert.
Zu sehen ist darauf ein Ausschnitt von «Decide Who You Are» (Entscheide, wer du bist), einer Serie, die Piper 1991 begann. Er zeigt ein Schwarzweissporträt eines achtjährigen schwarzen Mädchens. Es ist Anita Hill – jene Anita Hill, die es lange vor #MeToo gewagt hatte, gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten, den nominierten Supreme-Court-Richter Clarence Thomas, wegen sexueller Belästigung auszusagen. Ganz ähnlich wie zweieinhalb Jahrzehnte später Christine Blasey Ford, die gegen den ebenfalls für den Supreme-Court-Nominierten Brett Kavanaugh aussagte. «Meine Wahl fiel auf Anita Hill», schreibt Piper, «weil sie bei ihrer öffentlichen Zeugenaussage […] vollständig und wahrheitsgetreu Auskunft gab, ungeachtet der schwerwiegenden Konsequenzen für sie selbst und ihr Wohlbefinden. Und ich habe dieses Kinderbild von ihr gewählt, weil mir die Tatsache, dass sie dazu in der Lage war, verriet, dass sie […] dieselbe Art Spross wie ich [gewesen war].»
In dem Kunstwerk wird das Anita-Hill-Kinderfoto von roten Schreibmaschinenlettern überschrieben, so, als würde die optimistische Furchtlosigkeit, die ihr Gesichtsausdruck verrät, dem massiven Versuch der Verunsicherung ausgesetzt: «Ich weiss nicht, was du meinst. Mir ist nichts Unrechtes aufgefallen. Mir kommt das völlig in Ordnung vor. Ich verstehe nicht, warum du so etwas sagst. Ich sehe da kein Problem. Dir steht nicht zu, das zu sagen. Jetzt lass mal gut sein. Ich tue dir damit eigentlich einen Gefallen. Warum so überempfindlich» … Die Litanei ist endlos. Und fühlt sich sehr real und authentisch an.
Piper kommentiert:
Wenn mich heute jemand mit dieser Art zu sprechen in den Wahnsinn zu treiben versucht, bekomme ich Angst, denn ich weiss, dass hinter diesen Worten der Leugnung und Einschüchterung schlimme Absichten und Sachverhalte stecken, die die sprechende Person verbergen will […] und es zeigt mir, dass das klarste und offenkundigste dieser böswilligen Motive in dem Versuch besteht, mich […] zum Schweigen zu bringen. […] Auch dies ist ein Grund für das Schreiben dieser Memoiren: zu zeigen, dass dieser Versuch gescheitert ist.
Damit sind wir bei der kalten Wahrheit im Herzen dieser Memoiren angelangt: dass in den Leuchttürmen des Liberalismus und der Chancengleichheit Diskriminierungsmechanismen weiterhin bestehen bleiben können – und dass sie dazu noch fortwährend geleugnet werden. 2006, ein Jahr nach Pipers Übersiedelung nach Berlin, entdeckt sie ihren Namen auf einer behördlichen US-Liste «verdächtiger Reisender» und beschliesst, nicht in die USA zurückzukehren, solange ihr Name auf der Liste steht – was wiederum das Wellesley College nicht nur zum Anlass nimmt, ihr Ersuchen um eine unbezahlte Freistellung abzulehnen, sondern auch zum Vorwand, ihr die entfristete Professur zwei Monate vor dem Erreichen des Ruhestandsalters zu entziehen. Dies war die Kulmination einer fünfzehnjährigen Auseinandersetzung, bei der die meisten wohl wesentlich früher aufgegeben hätten.
Verrat und Ruhestand
«Selbstporträt als nette weisse Frau» entstand schon 1995: Die Künstlerin schaut ruhig und freundlich in die Kamera, aber über ihrem Kopf schwebt eine Gedankenblase, in der steht: «WHUT CHOO LOOKIN AT, MOFO». Was guckst du, Motherfucker!? Das Bild spiegelt ironisch die Spannung zwischen Fassade und Projektion, Angst und Ignoranz zurück, die man an Orten wie dem Wellesley College wohl erfahren kann.
Die Arbeit findet ihre logische Fortsetzung in einem weiteren Selbstporträt von 2012, abgebildet in «Flucht nach Berlin»: Sie lächelt freundlich, mit einer seltsamen künstlichen Hautfarbe, daneben ein unterschriebenes Statement: «Liebe Freundinnen und Freunde, zu meinem 64. Geburtstag habe ich mich entschlossen, meine rassenmässige und nationale Zuordnung zu verändern. Von nun an lautet meine neue rassenmässige Zuordnung weder schwarz noch weiss sondern 6,25 % grau […] Bitte feiert mit mir diesen aufregenden neuen Vorstoss in Sachen sinnlos genauer Verwaltung und vergeblicher institutioneller Kontrolle!» Neben dem Bild steht noch ein weiteres Statement: «Adrian Piper has decided to retire from being black» (etwa: Adrian Piper hat sich entschlossen, vom Schwarzsein zurückzutreten und in den Ruhestand zu gehen).
Das Ganze löst unweigerlich kognitive Dissonanz aus: Darf sie das? Kann man das ignorieren? Sagt sie das wirklich, «vom Schwarzsein zurücktreten»? Verleugnet sie plötzlich ihren Hintergrund, verrät sie gar ihre Community?
Doch wenn man an die erwähnte Geschichte des Mobbings und der Diskriminierung am Arbeitsplatz denkt, dann kann man das mit dem Ruhestand durchaus wörtlich nehmen: Sie versetzt sich selbst in den Ruhestand von dem Job, Zielscheibe der Stigmatisierung durch jene zu sein, die ihr ebendiesen Ruhestand verweigert haben. Sie versetzt sich in den Ruhestand, tritt zurück aus einem Umfeld, in dem toxische, rassistische Strukturen fortbestehen konnten und ihre hässliche Fratze zeigten, weil sie es gewagt hatte, zur Whistleblowerin zu werden: «Das fischäugig abwartende ‹und was willst du damit sagen›-Schweigen, […] die gedankenlose Selber-Schuld-Mentalität, […] das eilige steptanzartige Sich-aus-dem-Staub-machen.»
Am schlimmsten aber ist der wiederholte Hinweis, «dass ich für vieles dankbar sein müsse und mich daher besser nicht beklagen sollte». Womit gemeint ist, dass sie sich gefälligst damit zufriedengeben solle, die erste Afroamerikanerin auf einer ordentlichen Professur am College zu sein. Mit anderen Worten: Pipers Beweggründe für die Flucht liegen nicht nur darin, dass sie einmal Pech gehabt hat in ihrem Job. Sie liegen auch darin, dass sie als Whistleblowerin systematisch von nahezu allen ihren Kollegen und Bekannten im Stich gelassen worden ist – und zwar gerade auch von jenen, die wie sie selbst Diskriminierung erfahren hatten.
Wie einst Braveheart
2002 macht Piper mehrere Operationen und eine Krebsdiagnose durch und sieht vom Krankenbett aus «Braveheart» – Mel Gibson als Rebell des 13. Jahrhunderts, den der schottische Hochadel in der Schlacht im Stich lässt: «Sie schauten nur zu, machten dann auf ihren Pferden kehrt und traten den Rückzug an. Sie hatten sich ausnahmslos vom englischen König kaufen lassen.» Und Piper schreibt weiter:
Im Grunde ist mit dem Schwarzenkomitee am College genau dasselbe passiert. Wir hatten ein Bündnis geschlossen, um den Rassismus am College zu bekämpfen und das College zu zwingen, seinem Versprechen nachzukommen, mehr unbefristete Stellen mit schwarzen Lehrkräften zu besetzen. Ich hatte mich 1992 im Alleingang gegen die Auflösung des Schwarzenkomitees durch den Fachbereichsrat eingesetzt, und tat dies 1999 erneut. […] Als ich sie um Hilfe bat, schauten sie nur zu und zogen sich zurück.
Piper macht Bekanntschaft mit der klassischen Teile-und-herrsche-Taktik der Macht: Eine gezielte Kombination aus Einschüchterung und Anreizen untergräbt jede Solidarität mit ihr. «Prominente Afroamerikanerinnen aus Lehre und Forschung, Kunst und den nationalen elektronischen Medien waren besonders empfänglich für den plötzlichen Interessens- und Freigebigkeitsboom des College zu dieser Zeit – für dessen unerwartet wohlwollende Verleihung von Preisen, Geschenken und Einladungen zu Gesprächen oder Vorlesungen. Keine dieser Frauen, von denen ich die meisten persönlich kannte, sprach sich für mich aus.»
Wenn man diesen scharfen Vorwurf liest, kann man sich schlagartig die Gegenrede jener vorstellen, die Pipers Ausführungen als undifferenzierte und ungerechtfertigte Anschuldigungen zurückweisen würden, ja, als Verrat an der antidiskriminatorischen Sache. Aber wenn man diese Passage im Gesamtzusammenhang ihrer Autobiografie liest, ist man vertraut mit dem grossen, grauen Block aus Schweigen, den das moralischen Versagen im Umfeld von Whistleblowern darstellt, die nicht zuletzt von denen im Stich gelassen werden, für deren Belange sie sich einsetzen.
Diese bittere Einsicht ist nichts für Zartbesaitete. Alle, die je etwas mit emanzipatorischen Politiken zu tun hatten, wissen das im Grunde ihres Herzens – und werden vielleicht dennoch lieber an dem Mythos festhalten, die Streiter für die Sache stünden stets und immer in bedingungsloser Solidarität zueinander.
Versprechen und Vertrauen
2015 gewann Adrian Piper den Goldenen Löwen der Venedig-Biennale, sozusagen den Oscar der Kunstwelt. Für ein Werk, das auf ihren Ansichten und Überzeugungen als kantischer Philosophin und politisch denkendem Menschen aufbaut – und auf ihren Erfahrungen in professionellen Umfeldern, die sich ihrer Integrität und Vertrauenswürdigkeit rühmen, ebendiese Standards aber oft verfehlen. Das Werk besteht aus drei schiefergrauen Wänden, vor denen goldene Rezeptionstheken platziert sind und auf denen jeweils ein Satz in goldenen Lettern steht: «Ich werde immer zu teuer sein, um gekauft zu werden», «Ich werde immer meinen, was ich sage» und «Ich werde immer das tun, was ich sage» («The Probable Trust Registry: The Rules of the Game #1–3», 2013).
Die Besucher können an diesen drei Rezeptionen einen Vertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, sich an eines, zwei oder alle drei dieser Versprechen zu halten. Nach dem Ende der Ausstellung erhält jeder Unterzeichnende eine Liste aller anderen Unterzeichner, allerdings ohne Kontaktinformationen, die nur mit Einverständnis der anderen Partei herausgegeben werden.
Das «Probable Trust Registry», das «Verzeichnis der wahrscheinlich Vertrauenswürdigen», baut letztlich auf Pipers kantischer Herleitung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Ethik auf: Ein Versprechen ist nichts wert, wenn man es sich nicht zuerst selbst gegeben hat. Und wenn man das Einsichtsvermögen nicht besitzt, die Notwendigkeit zu erkennen, sich an bestimmte Regeln zu halten, wird man auch sonst keinen Sinn darin sehen, sich an gegebene Versprechen zu halten.
Aber was ist, wenn ich genau dafür verfolgt werde, dass ich das eine Versprechen gebrochen habe (zum Beispiel, keine Staatsgeheimnisse preiszugeben), um das andere zu halten (einzuschreiten, wenn ebendieser Staat die Rechte seiner Bürger massiv verletzt, zum Beispiel durch Überwachung)? Die Tatsache, dass Whistleblower wie Edward Snowden, Chelsea Manning oder auch Julian Assange wie absolute Schwerstverbrecher behandelt und verfolgt werden, lässt darauf schliessen, dass der Sozialvertrag, auf den ein «Verzeichnis der wahrscheinlich Vertrauenswürdigen» implizit verweist, längst gebrochen und dringend reparaturbedürftig ist.
Die Schuldfrage
Für Piper hat die Zivilgesellschaft in ihrer Wahlheimat Deutschland ein robusteres Fundament als in anderen Teilen der Welt: «Ich bin tief beeindruckt vom Niveau der öffentlichen Diskussionen und Debatten und vom hohen Grad an staatsbürgerlicher Informiertheit durch Nachrichtenmedien, den sie voraussetzen. […] Hier herrscht eine Kultur, die fest entschlossen ist, ihren Bürgern eine nachdenkliche und informierte Einsicht in die Inakzeptabilität des Kriegs um jeden Preis zu vermitteln, und allmählich gelingt es ihr.»
Angesichts der jüngsten Entwicklung in Deutschland mag man skeptischer sein als die Exilantin. Auch in Deutschland sind viele Tabus am Werk, etwa wenn es um die Kolonialvergangenheit des Landes geht – bis hin zur Weigerung, den Völkermord an den Herero und Nama in ehemals Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) als solchen offiziell anzuerkennen.
Dennoch: Das Land hat sich, anders als andere Länder, zu seiner grössten Schuld bekannt, wenn auch unter dem Druck der völligen Niederlage als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. Es geschah nach und nach und hat viele Jahrzehnte gebraucht, bis man davon sprechen konnte, dass Deutschland sich voll zur Verantwortung für die Shoah bekennt. Nicht umsonst bezeichnet der faschistisch denkende und argumentierende AfD-Politiker Björn Höcke das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das 2005 im Zentrum Berlins errichtet wurde, als «Denkmal der Schande».
Sehr im Gegensatz zu Höcke bewundert Piper, wie sie am Ende ihres so lesenswerten Buchs bekennt, die Bundesrepublik genau dafür, dass ihre Entwicklung es ihr erlaubt hat, diese Schande auf sich zu nehmen.
Sie muss nicht einmal explizit sagen, dass sie eine vergleichbare Entwicklung – eben das Bekenntnis zur Schande – in den USA bislang vermisst. Mit James Baldwin gesagt, ist Amerika immer noch «der unaufrichtige Sachverwalter schwarzen Lebens und schwarzen Wohlstands […] und der brennenden, begrabenen amerikanischen Schuld …».
Brennende, begrabene Schuld: Da denkt man an Gespenstergeschichten und Horrorfilme. Und bei den USA an die weitgehende Ausrottung der Ureinwohner und an die Sklaverei. Man muss nicht Freud sein, um zu verstehen, dass der Versuch, die Schuld ein für alle Mal loszuwerden, zum Scheitern verurteilt ist.
Allein die Tatsache, dass Intellektuelle wie Piper oder Baldwin das Land verlassen, sollte eine Diskussion in Gang setzen über die begrabene, brennende Schuld. Pipers Buch ist dafür der denkbar bewegendste, schockierendste Beleg. Zugleich ist es aber auch eine Ermutigung, den Mund aufzumachen, wo es nottut, nicht klein beizugeben, egal, welcher «Rasse» oder welchem Geschlecht man zugeordnet wird.
«Flucht nach Berlin» zeigt eindrücklich, dass Piper nicht klein beigegeben hat: Mit philosophischer Klarheit, künstlerischer Einbildungskraft und Humor stellt sie sich der weiterschwelenden, vergrabenen Schuld.
Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze».
In einer früheren Version schrieben wir von Bradley Manning statt Chelsea Manning. Wir entschuldigen uns für den Fehler.