Raus aus der Bubble

Das neue Album der Berner Band Jeans for Jesus entstand im digitalen Kollektiv. Ist es dieser cleane Mix, der zur Rebellion taugt in einem Land, in dem zu viele «meh Dräck!» fordern?

Von Timo Posselt, 23.01.2020

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Königs­mörder und Grenzöffner: Jeans for Jesus. Anja Wille

Raus. Raus aus Bern, raus aus dem Mundart­genre, raus aus der Schweiz. Diese Musiker kannten von Anfang an nur eine Richtung.

2013 treffen sich vier junge Berner zufällig in New York. Sie gründen eine Band und taufen sie Jeans for Jesus. Ein Name wie aus der US-amerikanischen Erleuchtungs­literatur. Die erste Single besingt einen Camping­platz am Neuenburger­see: «Estavayeah» wird 2013 zum Sommerhit für die Daheim­gebliebenen. Elektronische Beats, verspielte Samples, Kopfstimmen: Darauf hatte uns ein halbes Jahrhundert Berner Mundartrock-Dominanz nicht vorbereitet. Ihre Texte sind schweizerdeutsch, ihre Musik ist ortlos. Das ist der Anspruch.

Pedro Lenz – und Stephan Eicher

Als das zweite Album «PRO» 2017 erscheint, versteigt sich der Mundart­schriftsteller Pedro Lenz in der «Schweiz am Wochenende» zu einer Spitze gegen die Band: Sie wisse zwar sehr viel über Markt­strategien und Erfolgs­chancen, dafür weniger «über die schöpferische Kraft, die im Unbewussten liegt». Kein Wunder, so der Schrift­steller, schliesslich trinke diese Generation doch lieber Grüntee und mache Yoga, statt sich in verrauchten Kneipen inspirieren zu lassen.

Anders sah das einer, der zweifellos viele verrauchte Kneipen von innen gesehen hat: Stephan Eicher, der Grandseigneur des mehrsprachigen Chansons. Eine Tour lang stimmte sich Eicher mit seiner Band zu «Estavayeah» auf die eigenen Gigs ein. Sie hörten den Song im Tourbus, und er wurde ihr Schlachtruf. Für Eicher waren Jeans for Jesus fortan die Thronstürzler im Mundartpop – ohne dass er deshalb die alte Aristokratie um Polo Hofer und Co. verdammt hätte.

Frage an Stephan Eicher: Was macht Jeans for Jesus zu Thron­nachfolgern im Mundartpop?

Ihr Spiel mit der sich immer verändernden Sprache, musikalisch und optisch. Bei Jeans for Jesus zielt der Traum vom Ausbruch aus der Enge nicht nach Paris, nicht an die spanische Küste. Hier hängt niemand mit der Nase am Gitter­draht eines Provinz­flughafens. Nein! Vom Sofa zwischen Ostermundigen und Ostring nach Estavayer zur Bratwurst am See. Jeans for Jesus haben Charisma, Form und Intelligenz. Toll!

Eicher coverte daraufhin ausgerechnet die Fernweh­hymne der jungen Band: «L.A.» (gleichlautend wie das berndeutsche Wort für allein – «älei»). Zu vereinsamten Piano­akkorden singt Eicher in der Cover­version mit Schmirgelpapier­stimme von der Berner Beengtheit.

Der gleiche Eicher, der sich selbst nie von ihr einschränken liess, der erst von Zürich aus mit seinem Bruder bei Grauzone die Neue Deutsche Welle mit lostrat und dann Richtung Paris zog. Worauf er in Frankreich bekannter wurde, als er hierzulande war. Eicher, auch so einer, für den es immer nur eine Richtung gab.

Popgeschichts­bewusstsein hatten Jeans for Jesus mit dieser Kollaboration bewiesen, und während sie weiter an ihrem Grüntee nippten, pflügten sie die Schweizer Musik­landschaft auch in der Breite um: Nicht weniger als 64 Remixes ihrer Songs von anderen Künstlerinnen und Künstlern sind unterdessen erschienen. Darunter einige der spannendsten des Landes.

350 Gigabyte Daten in der Cloud

Nun erscheint das dritte Album «19xx_2xxx_». Sprich: «Neunzehnhundert zweitausend». Ein Titel wie ein Dateiname. Und das ist Programm. Dieses Album wurde vollständig in der Cloud geschaffen. «Wir sind nicht die Band, die in Bern wohnt und sich dreimal die Woche zum Jammen trifft», sagt Philippe Gertsch. Jeans for Jesus sind postmoderne Kleptomanen: «Wir bedienen uns an extrem verschiedenem Material und machen daraus etwas Neues. Wir verstehen Pop als eine Auflösung von Genre­grenzen und Autorschaft», so Marcel Kägi. 350 Gigabyte Daten im Projekt­ordner, acht verschiedene Whatsapp-Chats und unzählige Versionen jedes der sechzehn Songs, aber kein gemeinsamer Wohnort. Dieses Album entstand im digitalen Kollektiv. Und so klingt es auch.

Handgemacht ist auf «19xx_20xx_» nichts, jeder Song wie auf Instagram mit einem Filter überzogen. Sechzehn Glasfaser­kabel-Popsongs, deren Refrains sich fast alle sofort einprägen. Die Bausteine sind bekannt: ruhelose Beats, gezuckerte Synthis, vorwitzige Samples und der Falsett­gesang von Michael Egger und Demian Jakob. Doch bei aller offensichtlichen Geschmeidigkeit: Dieses Album ist dicht, direkt, bedeutungsoffen. Es erschöpft sich noch lange nicht beim ersten Hören.

Marcel Kägi behauptet: «Mit solcher Cleanness kannst du in der Schweiz rebellieren.»

«Warum?»

«Weil vom linken Beat-Poeten bis zum reaktionären Rocker hier alle ‹meh Dräck!› fordern», gibt Demian Jakob zurück.

Gegen die Authentizitäts-Duselei der Babyboom-Generation setzen Jeans for Jesus künstlerische Offenheit. Aber macht sie das deswegen zu ästhetischen Rebellen? Noch heute zeigt sich die Band über den Anwurf von Pedro Lenz irritiert: «Das war für mich ein typischer Okay-Boomer-Moment», sagt Michael Egger. Das Internetmeme «Okay, Boomer» markiert gerade auch den Generationen­graben in der digitalisierten Gesellschaft. «Babyboom­superstar» heisst der dazugehörige Hit von Jeans for Jesus. Zu atemlosem Jersey-Club-Beat und Samples von 60er-Jahre-Soul besingen Jeans for Jesus eine einst idealistische Generation:

Liebi, du nimmsch dir Sex, ey
Du redsch vo Money u was für di Familiä isch
Safe si, soziau u frei si
Du hesch üs ds Internet gäh, wüus Atombombä git

[Liebe, du nimmst dir Sex, ey
Du sprichst von Money und was für dich Familie ist
Safe sein, sozial und frei sein
Hast uns das Internet gegeben, weil es Atombomben gibt]

Eine Strophe in Assoziations­ketten: #MeToo, die Aushöhlung der Sozial­demokratie, ein drohender Nuklear­krieg. Und im Refrain fordern Jeans for Jesus nicht weniger als die Welt:

Superstar, gib chli Wäut zrügg
Nimm dini Schuudä mit, Boy

[Superstar, gib ein bisschen Welt zurück
Nimm deine Schulden mit, Boy]

Keine Kriegserklärung, nur ein Abgesang auf eine ambivalente Figur. Das Video zum Song zeigt die Agglo als entfremdete Digitalwelt aus der Architektur­software «Lumion 3D»: Reihenhaus, Weisswein, Sportgerät, alles seelenlos. «Natürlich steckt noch sehr viel Boomer-Ideologie in uns, zum Beispiel Selbst­verwirklichung und Idealismus», sagt Demian Jakob: «Aber wir können diesen Lifestyle nicht einfach weiterführen.»

Es sei zynisch, wenn der Boomer dreissig Jahre dominiere und dann den Kids einen postideologischen Talk aufdrücke, so Michael Egger: «Die Boomer-Generation startete ideologie­kritisch und gab schliesslich viele Träume auf.» Sicher sei das eine Verkürzung, genauso wie das viral gegangene Meme. «Aber kümmern wir uns nun darum, wie wir es besser machen können.» Was tun? Zusammenarbeiten!

Also luden Jeans for Jesus Stephan Eicher zur Kollaboration ein. Diesmal singt der Chansonnier in der eigens geschriebenen Single «1900 quelquechose» mit. Gedämpfter Elektro-Herzschlag, einlullendes Synthifiepen, und Eicher haucht den Refrain:

mille neuf cent quelque chose
l’an 2 mille et des poussières
je suis prêt à prendre une pause
j’ai vraiment rien d’autre à faire

Es ist ein Duett mit Sänger Michael Egger und die französische Version des Tracks, der auf Berndeutsch auf dem neuen Album erscheint – «2000&irgendwo». Darin heisst es:

19hundert und so
2tusig und irgendwo
I ha nüt angers vor
I la jederzit los

[19hundert und so
2tausend und irgendwo
Ich hab nichts anderes vor
Ich lass jederzeit los]

Ein doppeltes Echo, zweisprachig, über zwei Musiker­generationen hinweg. Nein, Plattheit ist nicht die Sache von Jeans for Jesus. So kongenial übersetzt hat den Song übrigens der Schweizer Rapper Greis. Noch in diesem Jahr soll ein Album mit Songs auf Französisch erscheinen. In Frankreich läuft das Duett mit Eicher bereits in den Radios.

Posterboys des Feminismus?

Nicht jeder Song auf «19xx_20xx_» spielt mit solchen Metaebenen: «Merci» besingt eine Trennung, «Selfcheckout» den Party-Lifestyle. Eingängig sind sie alle, bis auf das sperrige «Mango Mango», das auch textlich mit seiner Vulva-Analogie schnell auf die Nerven geht. Sowieso sind die «Girls», «Babes» und «Chicks» auf «19xx_20xx_» allgegenwärtig. Noch mit dem letzten Album «PRO» wurden Jeans for Jesus zu Posterboys des Feminismus hochgejubelt, mit dieser Erwartung brechen sie nun.

Wie singt Mann im Pop über Frauen ohne übergriffige Reduzierungen? Die Frage lässt Jeans for Jesus nicht los.

Sie hörten sich durch die Musik ihrer Teenager­jahre. Im Song «Nothin’» zitieren sie den Gangsta-Rapper N.O.R.E. In «Consensual» sampeln sie den Track «Sitz uf mis Gsicht» des Berner Rappers Dawill. «Ein Erdbeben von einem Cunnilingus» nennt die Sturmmasken-Schrift­stellerin Jessica Jurassica den Original­track im Berner Kultur­magazin «KSB» und feiert ihn für seine «lustvolle, emanzipative Erotik».

Diese Suchbewegung nach einer emanzipierten Popsprache eint viele männliche Schweizer Musiker zurzeit genauso wie ihr ständiges Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Nicht nur darin sind Jeans for Jesus Teil einer grösseren Entwicklung in der Schweizer Musiklandschaft.

Was der Solothurner Pronto im Rap vormacht, probieren Jeans for Jesus im Elektropop: Sie artikulieren aus der Schweiz heraus eine internationale Ästhetik. Am deutlichsten hört man diese in «127.0.0.x». Der Track ist dreiteilig – und eine überwältigende Zumutung.

Und zwar so: Elon Musk schenkt Jeff Bezos Rotwein ein, ihr Plan: die Welt mit Technologie retten. Von den Ferien­bildern ist es nur ein Fingerwisch zum «Fascho»-Profil, und die «Flat Earth»-Verschwörungs­theorie stimmt, denn jemand hat die Welt geplättet. Unübersichtlich? Willkommen in der neuen Dekade! So klingt bei Jeans for Jesus Informations­überfluss. Musikalisch stäubt der Track in alle Richtungen, ohne Zentrum, wie ein Schwarm.

Diese Band könnte es sich einfacher machen und bis zum Ruhestand wie Lo & Leduc an Firmen­anlässen, Aktionärs­versammlungen und dem «Tag der Milch» spielen. Nur sind Jeans for Jesus dafür zu unangepasst. 2018 spielten sie an der illegalen Besetzung des Zürcher Platzspitz: «Parc sans frontières» hiess die Aktion und richtete sich gegen die Zwangs­massnahmen und Ausgrenzungen der Schweizer Asylpolitik. Über tausend Menschen kamen, die Bühne war nur ein Demowagen, und Jeans for Jesus sprengten den Rahmen mit einer aufwendigen Lichtshow. Ästhetisch wie politisch kennt diese Band nur eine Richtung: raus aus der Komfortzone.

Zum Album

Jeans for Jesus: «19xx_20xx_» (Universal). Albumlink und Tourdaten finden Sie hier.

Zum Autor

Timo Posselt, 1991 geboren, studierte in Basel und im norwegischen Bergen Deutsch, Genderstudies und Geschichte. Er schreibt als freier Journalist über Pop, Film und Literatur und lebt in Basel. Für die Republik schrieb er zuletzt über Faber.