«Ich bettle nicht mehr darum, dass man uns leben lässt»

Jüdisch und queer – der Tänzer René Fürstenfeld und die Juristin Salome Zimmermann sind Hass und Hetze gewohnt. Als Juden sind sie gesetzlich davor geschützt. Als gleichgeschlechtlich Liebende nicht.

Von Anja Conzett (Text) und Annick Ramp (Bilder), 23.01.2020

Roland Liebi scheut sich vor Zärtlichkeiten an der Öffentlichkeit. Sein Partner René Fürstenfeld (rechts) hat es satt, sich zu verstecken.

René Fürstenfeld geht mit federndem Gang auf seinen Partner zu, ergreift seine Hand, lächelt fordernd und schiebt das Kinn vor. Der Mann, mit dem er seit sechzehn Jahren eine Beziehung führt, zögert kurz, dann begrüsst er ihn mit einem flüchtigen Kuss auf den Mund.

Das Paar steht in der Tiefgarage der Eigentums­wohnung, niemand schaut zu, niemand, der sie beschimpfen oder angreifen könnte.

Das Zögern habe er längst verinnerlicht, erklärt Roland Liebi später beim Kaffee, oft nehme er es gar nicht mehr bewusst wahr. Händchen halten auf offener Strasse? Würde er nie. «Nur nicht provozieren.» René Fürstenfeld, pensionierter Profitänzer und bühnengeil, wie er sagt, scheut sich dagegen nicht vor Provokation – ob auf offener Strasse oder im Internet. «Ich bin jetzt 64, seit fast 40 Jahren geoutet. Ich bettle nicht mehr darum, dass man uns leben lässt.» Die Scheu seines Partners akzeptiert er dennoch. Er weiss zu gut, wo sie gewachsen ist.

Verzweifelte Anrufe

Angst vor pöbelnden Sprüchen, Angst vor Ausgrenzung und Benachteiligung, Angst vor Beschimpfungen bis hin zu Schlägen. Angst ist ein fester Bestand­teil des Alltags vieler schwuler und lesbischer Menschen in der Schweiz. Nicht ohne Grund: Wenn zwei Frauen Zärtlichkeiten austauschen, werden sie womöglich zum «Live-Lesben­porno» aufgefordert, «Schwuchtel» und «schwul» sind noch immer Schimpf­wörter, und zwei Männer, die sich öffentlich küssen, laufen Gefahr, verprügelt zu werden.

Es ist also kein wunderliches Verhalten, sich als schwuler Mann vor einem flüchtigen Kuss umzublicken. Es ist vollkommen vernünftig. Auch in der heutigen Zeit. Vielleicht gerade in der heutigen Zeit.

Die Helpline der LGBT-Verbände nehme jede Woche im Schnitt zwei Anrufe entgegen, die verbale und physische Angriffe schildern, sagt Salome Zimmermann, Vorstands­mitglied der Lesben­organisation LOS, Juristin und ehemalige Bundes­verwaltungs­richterin. Offizielle Statistiken, wie häufig Schwule und Lesben in der Schweiz Opfer homophober Gewalt werden, existieren keine, da diese Übergriffe nicht gesondert registriert werden. Beim jüngsten Fall homophober Gewalt in Zürich, wo zwei Männer an Silvester im Ausgang zusammen­geschlagen wurden, ermittelt die Polizei wegen einer «Auseinander­­­setzung zwischen zwei Gruppen von Männern», wie die NZZ schreibt.

Egal, ob rassistisch oder homophob – Angriffe auf die Identität seien immer besonders schmerzhaft, sagt Salome Zimmermann.

Dass es, entgegen der Praxis der Polizei, sehr wohl einen Unterschied macht, wenn man wegen seiner sexuellen Neigung attackiert wird, davon ist Zimmermann überzeugt. «Homophobe Übergriffe sind genauso wie rassistische oder sexistische Übergriffe ein Angriff auf die Identität – eine Identität, die man sich nicht aussuchen kann. Und die Verletzung schmerzt umso mehr, weil sie die seelische Heimat betrifft.» Wie weh solche Bemerkungen tun können, weiss sie aus eigener Erfahrung. Als sie ihr Coming-out hatte, kam eine Freundin auf sie zu und sagte: «Das hast du doch nicht nötig.» – «Als sei das für mich keine Notwendigkeit, sondern etwas, mit dem ich mich schmücken wolle.» Zimmermann schüttelt den Kopf.

«Dreckige Tiere»

Die Juristin Salome Zimmermann und der Profi­tänzer René Fürstenfeld sind sich nie begegnet. Ihre Leben verlaufen vollkommen unterschiedlich. Doch sie haben zweierlei gemeinsam: Beide sind jüdisch, und beide leben in gleich­geschlechtlichen Beziehungen. Und noch etwas teilen sie: die Feststellung, dass es wieder schlimmer geworden ist mit dem Hass und der Schikane gegen Schwule und Lesben. «Die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben», sagt Zimmermann. «Vor fünfzehn Jahren ging es uns besser», sagt Fürstenfeld. Diesem Trend müsse Einhalt geboten werden, sagen beide.

Gegen direkte Beschimpfungen, Drohungen und physische Gewalt können Schwule und Lesben bereits heute gerichtlich vorgehen. Gegen Diskriminierung und die generelle Herabsetzung ihrer Menschen­würde nicht. Das heisst: «Du Homo-Sau» und «Ihr zwei, hört auf, euch zu küssen, sonst setzts was» sind potenziell strafbar. «Alle Lesben sind dreckige Tiere» und «Schwulsein ist eine Krankheit, die sich mit Schlägen heilen lässt» – wie vor kurzem ein junger Mann gegenüber «20 Minuten» sinngemäss verlautete –, sind es nicht. Die Ausweitung der Rassismus­strafnorm soll das ändern.

Am 9. Februar stimmt die Schweiz darüber ab, ob die Strafnorm, die Diskriminierung und Hass gegen Angehörige einer Religion, Rasse und Ethnie unter Strafe stellt, künftig auch Schwule und Lesben schützen soll. Bundesrat, Parlament, SP, CVP, FDP und Grüne sind dafür. Dagegen sind lediglich SVP und EDU, sie haben das Referendum ergriffen.

Die Gegner sehen durch die Ausweitung der Strafnorm die Meinungs­freiheit gefährdet. Selbst­verständlich seien auch sie gegen homophoben Hass und Hetze, aber die Rassismus­strafnorm sei das falsche Mittel dagegen. Was man denn überhaupt noch sagen dürfe, fragen sie. Und sagen, dass das doch sinnlos sei: Der Hass gegen Schwule und Lesben werde deswegen doch nicht verschwinden.

Stimmt, sagt Fürstenfeld. «So wie sich auch nicht jeder an das Höchsttempo hält, nur weil es ein Gesetz dafür gibt.»

Und Fürstenfeld weiss: Auch der Antisemitismus ist nicht einfach auf einen Schlag verschwunden, als die Strafnorm gegen Rassen­diskriminierung ins Gesetz­buch übernommen wurde, Artikel 261bis des Schweizer Strafgesetzbuches. Die Stimm­bürgerinnen hiessen den Artikel am 25. September 1994 mit 54,6 Prozent gut, nachdem ein Komitee um die Schweizer Demokraten und die Ligue vaudoise das Referendum ergriffen hatte.

Im Schnitt gibt es heute jährlich 34 Urteile wegen Verstosses gegen die Rassismus­strafnorm. Das berühmteste Beispiel ist der Fall des «Kristall­nacht-Twitterers», der im Juni 2012 auf dem sozialen Netzwerk postete: «Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristall­nacht … diesmal für Moscheen.»

Die Spielregeln der Gesellschaft

Fürstenfeld erinnert sich, wie 1994, während der Diskussion um die Einführung der Rassismus­strafnorm, ein nicht jüdischer Verwandter im Familien­kreis sagte, er sei dagegen. Das gebe nur Juristen­futter, die Leute würden doch deshalb nicht aufhören, antisemitisch zu sein. Daneben sass Fürstenfelds Mutter, wie er erzählt, die mit sieben Jahren aus Wien vor den Nazis flüchten musste, die Verwandte und Freunde an die Gaskammern verlor. Sie habe auf die Einführung der Strafnorm geplangt, sagt Fürstenfeld. «Es war eine Erleichterung für uns.»

Dass die Rassismus­strafnorm einen Unterschied macht, spürt Fürstenfeld bei sich selbst. Ausgrenzung als Jude erlebt er vor allem, wenn es ums Geld geht, zum Beispiel beim Abrechnen von Gagen oder den Tanz­stunden, die er jahrelang gab. Er habe es nie für nötig befunden, gegen die blöden Sprüche und schlechten Juden­witze vorzugehen, sagt Fürstenfeld. «Aber es gibt ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich es könnte.»

Tanz dich frei – René Fürstenfeld findet den Mut zum Coming-out auch wegen seiner Karriere als Profitänzer.

Und auch in die andere Richtung spürt René Fürstenfeld die Wirkung des Gesetzes. Denn manchmal ertappt er sich dabei, wie er selbst rassistisch denkt. Zum Beispiel, als er vor zwei, drei Jahren am Bahnhof Oerlikon von einem Halbstarken verbal attackiert wurde, nachdem er seinen Partner verabschiedet hatte. Der ist sicher vom Osten, dachte er sich, der ist fehl am Platz, nicht ich. Raus mit dem, raus mit denen. Auch deshalb ist er froh, dass es die Rassismus­strafnorm gibt, sagt er. «Weil sie auch mich zwingt, das eigene Denken zu hinterfragen.»

«Das Strafrecht definiert die Spielregeln einer Gesellschaft. Und die lösen ein Umdenken aus», sagt Juristin Salome Zimmermann. Den Beweis dafür liefern ihr ausgerechnet die Gegner.

Wie schon 1994 die Gegner der Rassismus­strafnorm argumentieren heute die Gegner ihrer Ausweitung mit der Einschränkung der Gewerbe­freiheit. Einem Gewerbe soll es freistehen, ob es schwule oder lesbische Menschen bedient, so das Credo.

«Würde ein Restaurant Gästen den Zutritt verweigern, weil sie jüdisch sind, wäre das strafbar», sagt Zimmermann. «Kaum einer der Gegner der Ausweitung der Strafnorm würde sich heute noch öffentlich trauen, diese Praxis infrage zu stellen – weil sie etabliert ist.»

Ein Restaurant, das Schwulen und Lesben den Zutritt verweigert, würde heute zwar sehr wahrscheinlich heftige Proteste auslösen, strafrechtlich könnte man aber nicht dagegen vorgehen.

«Es ergibt keinen Sinn, dass ich als Jüdin geschützt bin, als Frau, die eine Frau liebt, aber nicht», sagt Zimmermann.

Tatsächlich wird die bestehende Rassismus­strafnorm im aktuellen Abstimmungs­kampf kaum oder nur hinter vorgehaltener Hand infrage gestellt. Dafür wird ein anderes Argument ins Feld geführt: Wenn die Rassismus­strafnorm auch für Lesben und Schwule gelten solle, könne man sie beliebig auf alle möglichen Minderheiten ausweiten.

Zimmermann holt tief Luft. «Ich möchte die Blondine kennenlernen, die aufgrund ihrer Haar­farbe im Ausgang zusammen­geschlagen wird.» Dann wird sie wieder ganz Juristin: «Die Rassismus­strafnorm wurzelt in der Juden­verfolgung durch die Nazis. Schwule und Lesben wurden im Nazireich ebenfalls verfolgt und in Konzentrations­lager gesteckt, und auch heute noch werden wir in vielen Ländern für Teile unserer Identität verfolgt. Deshalb brauchen wir zusätzlichen Schutz.»

«Wir wollen nichts Besonderes sein», sagt René Fürstenfeld, «wir wollen nur als das wahrgenommen werden, was wir sind – normale Menschen. Und solange uns ein signifikanter Teil der Bevölkerung ein friedliches, würdiges Leben abspricht, brauchen wir die ausgeweitete Rassismusstrafnorm.»

Das «russische Modell»

René Fürstenfeld weiss, wogegen er vorgehen würde, wäre die Rassismus­strafnorm bereits ausgeweitet. Auf der Website der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) ist seit geraumer Zeit ein Artikel abrufbar, der Schwulen und Lesben vorwirft, Pionier­arbeit für Pädophile zu leisten – und konkrete Lösungen vorschlägt, wie mit dem «Problem» der gleich­geschlechtlichen Liebe umzugehen sei: von «Homo-Steuer» und «medizinischer Lösung» bis zum «russischen Modell», gemäss dem «Homosexualität an der Öffentlichkeit» unter Strafe stehen soll.

Fürstenfeld kennt zwei Männer, die noch immer nicht geoutet sind. Seit Jahren ein heimliches Leben führen und ein öffentliches mit Alibi­partnerinnen. Im Schatten leben müssen, in ständiger Angst vor Strafe, weil man ist, wie man ist. Er kennt das. Und nein, verstecken werde er sich nie wieder, sagt René Fürstenfeld.

Er ist noch nicht ganz volljährig, als im Lehrlings­heim «Die Konsequenz» gezeigt wird. Der Film über eine tragische schwule Liebes­beziehung ist die erste positive Auseinander­setzung, die René zum Thema Schwulsein erlebt. Und er denkt sich: «Das ist es! Das ist, was mit mir los ist.» Sich zu outen, davon ist er noch weit entfernt. Ende der Siebziger, mit Anfang zwanzig, tanzt er sich frei, wortwörtlich, sein Stepptanz führt ihn nach London. Dort landet er zufällig in einer Schwulen­bar, geht immer wieder hin, und immer, wenn er da ist, sitzt er hinter der Tür, sodass ihn niemand sieht, der reinkommt. Zurück in der Schweiz, fasst er sich ein Herz. Die Mutter weint, als er es ihr erzählt. Sie ist besorgt um das Wohl­ergehen des Sohnes, braucht einen Moment. Das macht nichts, sagt sich der Sohn, ich habe ja auch ein paar Jahre gebraucht. Irgendwann schneidet die Mutter Annoncen für Schwulen­brunchs aus der Zeitung und legt sie ihm hin.

Auch Salome Zimmermann wächst mit dem Gefühl auf, sie müsse sich zurückhalten. Als Sieben­jährige Anfang der Sechziger­jahre weiss sie mehr über den Holocaust «als 90 Prozent der Erwachsenen in diesem Land». Schon von klein auf versucht sie, nicht negativ aufzufallen. Auch nicht positiv. Als sie in einer SRF-Fernseh­show für schlaue Kinder auftritt, kommt am nächsten Tag eine Klassen­kameradin auf sie zu und sagt: «War gut, ist man sich von euch ja nicht anders gewohnt.» – «Von euch?», fragt Salome. «Von euch Juden.»

Zurückhaltung gewohnt – Salome Zimmermann entdeckt spät, dass sie lesbisch ist, es ist ein Aha-Erlebnis.

Rückblickend erkennt sie, dass sie damals anders war als andere junge Frauen. Sie leistet den weiblichen Militär­dienst und geht mit Männer­gruppen bergsteigen, zu einer Zeit, in welcher der SAC Frauen noch gar nicht aufnimmt. Nach ihrer Dissertation möchte sie habilitieren, doch ihr Professor sagt, das sei nichts für eine Frau. Sie heiratet, hat zwei Söhne, ist nicht unglücklich, merkt aber, dass etwas für sie nicht stimmt. Dass sie lesbisch ist, wird ihr erst vor zehn Jahren bewusst, als sie sich in eine Frau verliebt. Plötzlich ergibt alles Sinn.

Hätte sie früher bemerkt, dass sie lesbisch ist, wenn gleich­geschlechtliche Liebe sichtbarer und akzeptierter gewesen wäre? «Vielleicht. Aber ich glaube, mein Weg hat mehr mit meiner persönlichen Geschichte zu tun.»

Frau, jüdisch, lesbisch. Für Zimmermann gehört alles zusammen. Ob sie für LOS im Vorstand sitzt, sich für die Ehe für alle engagiert oder in Israel Palästinensern hilft, ihr Leben trotz Besatzung zu meistern: «Es ist ein und dasselbe Engagement.»

Für René Fürstenfeld ist die Abstimmung vom 9. Februar ein Fieber­messen. «Geht es den Schwulen und Lesben schlecht, ist das auch kein gutes Zeichen für andere Minderheiten.»

Im Ranking der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association Europe besetzt die Schweiz Rang 28 von 49 Ländern. Laut Amnesty International haben die meisten europäischen Länder bereits Gesetze, die Hass und Hetze gegen Schwule und Lesben ahnden.

Als im Frühjahr letzten Jahres in Lausanne eine Lesben­demo stattfindet, sind die Kommentar­spalten unter dem Bericht von «20 minutes» voller Hass. Das Medium hat die Kommentare unterdessen gelöscht. Vieles aus der Flut von Beschimpfungen, Vergewaltigungs- und Todes­wünschen war strafbar. Allerdings nicht in der Schweiz, sondern nur in Frankreich, wo es eine Strafnorm gibt, die Schwule und Lesben vor hate speech schützt. Da der Artikel samt Kommentaren auch im Nachbar­land lesbar war, hätten René Fürstenfeld und Salome Zimmermann dort Anzeige erstatten können.

Aber dafür hätten sie einen französischen Pass gebraucht.