Bereit für das Bad in der Gülle
Mit welchem Stil findet die SVP aus der Krise? Wer das Präsidium der Partei übernimmt, ist mehr als eine Personalie. Es ist ein Richtungsentscheid.
Eine Reportage von Elia Blülle, Carlos Hanimann (Text) und Goran Basic (Bilder), 21.01.2020
Die Wählerschaft zu Hause statt an der Urne, der Präsident zurückgetreten, die Nachfolge in weiter Ferne – die grösste Partei der Schweiz steckt in einer schweren Krise.
Rund 1400 SVP-Mitglieder wollten vergangenen Freitagabend an der Albisgüetli-Tagung hören, wie es weitergehen soll mit der Partei. Am 17. Mai steht ihr mit der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative eine grundlegende Auseinandersetzung bevor. Die SVP sucht Antworten auf die drängenden Fragen in der Bevölkerung: Krankenkassenprämien, Altersvorsorge, Klimawandel. Und sie braucht einen neuen Präsidenten, der die Partei wieder zum Erfolg führen soll.
95 Franken kostete der Eintritt ins Schützenhaus Albisgüetli. Doch statt teuren Rats und tiefer Analysen gab es flache Witze: Christoph Blocher machte sich fünfzehn Minuten lang lustig über die Berufe linker und grüner Frauen im Parlament.
In dieser Viertelstunde erntete Blocher die meisten Lacher. Danach folgte das übliche Programm: Kritik an Europa, an der Personenfreizügigkeit, an den Wirtschaftsverbänden. Applaus gab es trotzdem.
Zwei Tage zuvor hatte auch SVP-Nationalrat Andreas Glarner eine Parteirede gehalten. Auch er erhielt Applaus nicht für Inhalte und konkrete Lösungen, sondern für flache Witze: aus Petra Gössi machte er Greta Gössi, aus Freisinn Weichsinn – grosses Gelächter, tosender Applaus.
Ist das alles, was von der SVP zu erwarten ist?
Der Richtungsentscheid im Kanton Aargau
Mittwochabend, kurz nach 19 Uhr, Restaurant Ochsen in Lupfig AG. Der Festsaal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Eilig werden ein paar Stühle an die Wand gestellt, einer schnappt sich einen Bierharass als Untersatz. Es gibt heissen Beinschinken mit Kartoffelsalat für 17 Franken. Etwas mehr als 300 Personen sind gekommen; vor der Männertoilette bildet sich eine lange Schlange, nicht aber bei den Frauen.
Das Rüebliland ist SVP-Land. Im Kanton Aargau ist die Partei doppelt so stark wie die SP – die zweitstärkste Partei.
Und trotzdem: Bei den Wahlen im Herbst hat die Volkspartei 6,5 Prozent ihrer Wähleranteile verloren, das schlechteste Resultat in der Deutschschweiz, rund ein Fünftel der SVP-Wählerinnen gingen nicht an die Urne. Der kantonale Parteipräsident, Nationalrat Thomas Burgherr, ist nach acht Jahren an der Spitze zurückgetreten; die Partei machte unter ihm zuletzt vor allem mit internen Querelen von sich reden.
Und schon bald könnte das nächste Debakel folgen, wenn im Herbst Grossrats- und Regierungsratswahlen anstehen. Vor vier Jahren gaben bei den kantonalen Wahlen 32 Prozent der Wählerinnen ihre Stimme der SVP. Das wird die Partei kaum wiederholen können.
An diesem Mittwochabend in Lupfig geht es also nicht nur um die Wahl eines neuen Präsidenten, sondern um die Neuausrichtung einer erschütterten Kantonalpartei und die Frage, wie man die müde und resignierte Basis wieder einen und motivieren kann.
«Parteimanager oder Brandstifter», hat die Lokalzeitung vorgängig geschrieben. Fürs Präsidium kandidieren Grossrat Rolf Jäggi, ein stiller Schaffer, und Nationalrat Andreas Glarner, ein radikaler Polterer.
Jäggi gilt als «gmögig», aber Parteikollegen sagen, es fehle ihm an Charisma und Witz. Seine Ansprache am Mittwochabend erinnert eher an Managementseminar als an Wahlkampf. Glarner hat unerwartet leichtes Spiel in Lupfig.
Am Ende setzt sich der Polterer durch, holt zwei Drittel aller Stimmen, entgegen allen Erwartungen und obwohl er von Parteikollegen als «Imageproblem» bezeichnet worden ist. Ein Aargauer FDP-Nationalrat schreibt nach der Wahl auf Twitter: «Die Stahlhelm-Fraktion übernimmt».
Glarner wischt die Kritik an seinem radikalen Kurs beiseite: «Das sind keine SVPler», sagt er den gemässigten Sympathisanten, die sich von seiner Rhetorik abschrecken lassen. Er will den «Schmusekurs» der letzten Jahre beenden. Am Mittwochabend in Lupfig sagt Glarner, die SVP Aargau solle unter ihm zu einem «Leuchtturm mit nationaler Ausstrahlung» werden. Es brauche jetzt neue Vorbilder, denn die SVP Aargau sei wie die SVP Schweiz «ein Sanierungsfall».
Niemand nimmt ihm die harten Worte übel. Im Gegenteil. Die Basis ist froh darum: Glarner stehe hin, stecke den Finger in die Wunde, rede Klartext, heisst es in Lupfig. Er sei einer, der auch mal auf den Tisch haue und sage: «Gopferteckel, jetzt ist genug!» So wie der Blocher früher.
Die Sehnsucht nach der Vergangenheit, die Sehnsucht nach dem starken Mann – sie ist an diesem Abend zum Greifen.
Wo steht die SVP Schweiz?
Die SVP ein Sanierungsfall? Tatsächlich lässt sich an der Aargauer Kantonalpartei einiges für die SVP Schweiz ablesen. Die Partei schlitterte vergangenen Herbst orientierungslos in die Wahlniederlage, Ende Jahr folgte der Rücktritt des Parteipräsidenten Albert Rösti, seither taucht alle paar Tage ein neuer Name für die Nachfolge auf, die meisten Genannten winken gleich ab. Der Aufwand: zu gross. Der Job: zu mühselig. Die Aussichten: zu düster.
Als Favoriten gelten noch immer der Bauer und Unternehmer Marcel Dettling sowie der Spekulant und Millionär Thomas Matter. Aber so sicher ist man sich auch bei diesen zwei Kandidaten nicht. Ende Monat läuft die Frist für Kandidaturen ab. Mitte März soll das Präsidium neu besetzt werden.
Die SVP ist auf der Suche nach sich selbst. Röstis Rücktritt kam überraschend und zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Die Partei sei ratlos, intern spüre man Unruhe, schreibt Nationalrat Roger Köppel in der «Weltwoche». Und das in einem für die Partei strategisch wichtigen Monat: Kadertagung in Horn, Parteitag der SVP Aargau, Albisgüetli-Tagung in Zürich, Delegiertenversammlung der SVP Schweiz.
«So viel Blindflug war selten», urteilt Köppel. Scheinbar von der Partei entrückt, denkt er laut über deren Zustand nach: «Die Schach- und Winkelzüge ums SVP-Präsidium wirken erstaunlich wenig durchdacht.»
Und er fragt spöttisch: «Wer wird unter Martullo der neue Chef, die neue Chefin?»
Auch SVP-Übervater Christoph Blocher schätzt die Verfassung der Partei schlecht ein: Auf einer Skala von 1 bis 10 sieht er sie bei 5 – «gleich schlecht wie die anderen».
Und Albert Rösti sagte bei seinem Rücktritt: Die Kantonalparteien hätten zu wenig gemacht, die Basis zu wenig mobilisiert, der Wahlkampf habe massive Defizite aufgezeigt. «Ich bin kein Restrukturierer, sondern ein Gestalter», sagte Rösti.
Das klang nach Resignation. Und nach einer Partei, die an der Basis in einem desolaten Zustand ist.
Von einem härteren Kurs, von einem schärferen Ton, wie er mancherorts gefordert wird, hält Rösti aber wenig. Im Gegenteil: Seine konziliante Art habe verhindert, dass die SVP noch mehr Wähleranteile verlor, sagte Rösti kürzlich: «Ich glaube nicht, dass die heutige Zeit nach Poltern verlangt.»
Tatsächlich war Rösti am 20. Oktober bei den nationalen Wahlen der bestgewählte Politiker der Partei. Jetzt tritt er ab. Endet damit eine Ära der Nettigkeit?
Eine solche Ära habe es nie gegeben, sagt das radikale SVP-Urgestein Ulrich Schlüer an der Albisgüetli-Tagung. Man sei, wenn schon, «verbindlich» gewesen. «Aber mit Verbindlichkeit gewinnt man keine Wahlen. Und wir wollen ja wieder Wahlen gewinnen.»
Die Frage, wer als Präsident auf Albert Rösti folgt, ist keine blosse Personalie. Es ist ein Richtungsentscheid, der auch die inhaltlichen Probleme der Partei offenbart: Im Albisgüetli sammelten prominente Mitglieder wie der Goal-Werber Alexander Segert Unterschriften gegen einen Vaterschaftsurlaub, es wird knapp mit dem Referendum; dem SVP-Überthema, dem Kampf gegen das Rahmenabkommen mit der EU, folgen längst nur noch Diplomaten, Beamte und Journalisten; und zur Klimaerhitzung hatte die Partei bisher nur eine Antwort: keine.
Wenigstens beim Klimawandel scheint sich die Partei zu bewegen. Sie versucht sich an der Quadratur des Kreises: der Nationalisierung eines globalen Problems. Oder anders gesagt: Sie versucht den Klimawandel den Ausländern in die Schuhe zu schieben. Weniger Ausländer, weniger Verkehr, weniger Klimaerhitzung – so ging die Erzählung von Christoph Blocher im Albisgüetli.
Man kann es ja mal versuchen.
Der Coup des Brandstifters
Als am Mittwochabend in Lupfig Rolf Jäggi antritt, um seine Parteikollegen von sich zu überzeugen, gilt er noch als Favorit für das Kantonspräsidium. Der Aargauer Grossrat, Betriebswirt und Jurist spricht von Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit und so weiter: Ausländer, Asylpolitik, Rahmenabkommen und fremde Richter. Man kennt es, man hört es – man vergisst es gleich wieder.
Jäggi versucht kämpferisch aufzutreten: «Wir müssen wieder lernen zu chrampfen», sagt er. Rasch verliert er sich in Floskeln und Phrasen. Irgendwann, nachdem eine Frau gefragt hat, wie man Mitglieder für die Dorfparteien gewinnen könne, und Jäggi redet und redet, aber mit keinem Wort auf die Frage eingeht, macht sich Unruhe im Saal breit, ein Murren und Murmeln stört die langfädigen Ausführungen, zwischen den Festbänken werfen sich die SVPler fragende Blicke zu.
Spätestens jetzt ahnt man, wie der Abend ausgehen würde: ganz mies für Rolf Jäggi.
Um 21.32 Uhr steht Andreas Glarner ans Mikrofon. Er hat eine «Brandrede» angekündigt. Das heisst: Er stellt parteiinterne Kritiker bloss, macht sich über unliebsame Journalisten lustig und verspricht mit martialischem Pathos, «Blut, Schweiss und Tränen» für die Sache zu vergiessen. Das zieht. Glarner gelingt der Coup. Er wird neuer Präsident der SVP Aargau.
«Bei Glarners Rede ist der Funke übergesprungen», sagt Neo-Nationalrätin Martina Bircher. «Viele entschieden sich kurzfristig für ihn, obwohl sie vor dem Parteitag den ruhigeren Rolf Jäggi wählen wollten.» Auch der abgetretene Präsident Burgherr – alles andere als ein Glarner-Fan – sagt: «Ich kenne mindestens 15 Leute, die noch an diesem Abend ihre Meinung geändert und für Glarner gestimmt haben.»
Der ehemalige Gemeindeammann aus Oberwil-Lieli war lange Zeit ein Aussenseiter. In den eigenen Reihen galt er als Eigenbrötler, der mit seinen Denunziationen immer wieder Parteikollegen vergrämte. Lange hiess es in der SVP Aargau: Hände weg von Glarner!
Doch im Wahljahr 2015 änderte sich das plötzlich. Der Islamhasser Glarner fand im aufgeheizten Klima seine Klientel. Migrationskrise und Anschläge von IS-Terroristen in Europa boten Glarner zahllose Gründe, um sich mit Provokationen auf Titelseiten hieven zu lassen. Er hatte Erfolg.
Die kantonale Stimmbevölkerung wählte ihn überraschend in den Nationalrat, er zog mit radikalem Stil mediale Aufmerksamkeit auf sich: Glarner bot Kopfgeld für einen Sozialhilfeempfänger, veröffentlichte eine Liste mit Namen ausländischer Schulkinder und postete auf seiner Facebook-Seite die private Handynummer einer Lehrerin, die ihren muslimischen Schülerinnen über die Bayram-Festtage freigab.
Glarner ist ein rechtsextremer Brandstifter – und das gefällt nicht allen Parteikollegen. «Seine provokative, manchmal unbedachte und oft auf die Person zielende Art wirkt auch für viele Wähler und Sympathisanten der SVP unsympathisch», sagte ein ehemaliger Wahlkampfleiter vor dem Showdown in Lupfig der Lokalzeitung.
Die Richtungsfrage beschäftigt auch die nationale Parteispitze. Wie holt man die verlorenen und zu Hause gebliebenen Wählerinnen und Wähler zurück? Mit einem sympathischen Typ ohne Allüren, mit Verstand und Anstand?
Der Nationalrat und abgetretene Aargauer SVP-Präsident Thomas Burgherr sagt, dass politische Lösungen letztlich immer auf Kompromissen beruhen: «Stämpfelen ist keine Strategie.» Und der abgetretene nationale Präsident Albert Rösti sagte: «Nett sein ist nichts Schlechtes.»
Viele Parteikollegen sehen das anders, es brauche wieder mehr Dreck. Toni Bortoluzzi, alte Zürcher SVP-Garde, wetterte in einem Dokumentarfilm von SRF über die Berner Mentalität, die Einzug gehalten habe. Die Partei sei behäbig geworden. Es brauche eine grundlegende Kurskorrektur. Ähnliches forderte ein Parteimitglied in Lupfig: «Wir brauchen bei der nationalen Partei wieder einen Mann an der Spitze, der sagt, was Sache ist – einen wie Andy Glarner.»
Auch das Anforderungsprofil, das SVP-Nationalrat Köppel in seiner Zeitung entwirft, passt auf den Aargauer Nationalrat Glarner. «Mehr präsidiales Charisma scheint unverzichtbar», schreibt Köppel, «mehr Zug aufs Tor an der Spitze, mehr Humor und heitere Einschüchterungskompetenz, die den anderen Parteien wieder Furcht einflösst.»
Bereit sein für das Gülle-Bad
Kurz bevor die Albisgüetli-Tagung eröffnet wird, fallen sich zwei SVPler in die Arme und begrüssen sich überschwänglich: Albert Rösti und Andreas Glarner, der Aussteiger und der Aufsteiger, der Konziliante und der Radikale, der Gmögige und der Hetzer.
Trifft hier die Vergangenheit auf die Zukunft?
Glarner sagte unmittelbar nach seiner Wahl vergangenen Mittwoch, er könne sich den nationalen Parteivorsitz unter keinen Umständen vorstellen. Aber das muss nichts heissen. Am Sonntag sagte er auf die gleiche Frage bereits, das sei «einen Gedanken wert».
In welche Richtung Glarner die Partei führen würde, machte er in Lupfig unmissverständlich klar. Er inszenierte sich als Kämpfer, als Mann der Basis, die Parteielite in Bern hingegen sei bequem und träge geworden.
Man müsse wieder bereit sein, Gülle über sich schütten zu lassen, sagte er. Die «Pfui-Themen» Islam, Migration, Asyl und Sozialhilfemissbrauch aufgreifen, auch wenn man dafür in der Presse kritisiert werde. Glarner versprach nicht den Sieg, sondern den Kampf: Wer, wenn nicht wir – so geht die Rhetorik des Extremisten Glarner.
Glarner spricht dem sich nach Erfolg sehnenden SVP-Mitglied aus dem Herzen. Während Albert Rösti alle Schuld für das Wahldebakel von sich weist und den Kantonal- und Ortsparteien vorwirft, sie hätten zu wenig mobilisiert, übt sich Glarner in Demut: entschuldigt die Basis, verspricht, selber in die Hosen zu steigen.
Glarner ist ein exzellenter Populist: Er sagt, was die Leute hören wollen. In Lupfig forderte er, die SVP müsse wieder glaubwürdiger werden, zum Beispiel die Krankenkassen- und Versicherungslobbyisten in den eigenen Reihen aus den Kommissionen schmeissen.
Meint er damit auch den abtretenden Parteipräsidenten Rösti? Der ist gerade in die Gesundheitskommission gewechselt. Und schon liest man über ihn, er sei für ein 50’000-Franken-Mandat bei einer Krankenkasse angefragt worden. Rösti winkt an der Albisgüetli-Tagung ab: «Ich habe keinen Job in Aussicht.» Aber er sagt auch, dass niemand wisse, was die Zukunft bringe.
Andreas Glarner steht daneben und hört zu. Er hält immer noch die Hand von Rösti, will etwas erwidern. Aber dann eilt ein Mann herbei, drängt sich dazwischen und sagt leise, aber bestimmt: «Der Christoph möchte, dass ihr jetzt absitzt.»
In einer früheren Version haben wir geschrieben, die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative finde «im kommenden Jahr» statt. Wir entschuldigen uns für den Fehler.