«Die Klimakrise wird sich nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern vor allem auch zwischen Frau und Mann entladen»

Die deutsche Studentin Luisa Neubauer ist neben Greta Thunberg das zweite bekannte Gesicht der europäischen Klimastreik­bewegung. Ein Gespräch über Verbote, den Wert von Pathos – und Sexismus als Kern der Klimakrise.

Von Elia Blülle (Text) und Hannes Jung (Bilder), 15.01.2020

«Ich versuche die Klima­krise da sichtbar zu machen, wo die Menschen zu Hause sind»: Luisa Neubauer.

Luisa Neubauer fährt mit dem Elektro­trottinett vor. Ein Verkehrs­mittel, das die Berliner in den letzten Monaten zu hassen gelernt haben, aber trotzdem rege benutzen. An jeder Strassen­ecke warten diese Mietgeräte dutzend­fach auf neue Kunden, versperren die Gehsteige – und sind sie einmal in Betrieb, rasen Touristinnen damit durch die Fussgänger­zonen, als kämpften sie um die Poleposition in einem Formel-1-Rennen. Neubauer ist kein Fan der E-Scooter, findet sie aber unglaublich praktisch. Sie hastet von Termin zu Termin. Wenn die Stadt um 11 Uhr langsam in die Gänge kommt, hat sie bereits zwei wichtige Treffen hinter sich gebracht – darunter das Gespräch mit einem Minister­präsidenten.

Mittlerweile ist das Alltag für die 23-jährige Geografie­studentin. Im vergangenen Jahr hat sie so viele wichtige Regierungs­chefs getroffen wie ein Schweizer Aussen­minister in seiner ganzen Karriere. Und gerade in den letzten Tagen hat sie wieder für Schlagzeilen gesorgt: Nachdem Neubauer den Technologiekonzern Siemens für seine Rolle beim Bau einer neuen Kohlemine in Australien kritisiert hatte, versprach CEO Joe Kaeser öffentlichkeitswirksam, das Geschäft noch einmal zu prüfen. Geändert hat sich nichts, Siemens gab am Sonntag bekannt, am Vertrag mit dem indischen Adani-Konzern festzuhalten, der für das Kohlebergwerk verantwortlich ist. Bereits zwei Tage zuvor bot Kaeser der jungen Aktivistin dafür einen Sitz im Aufsichtsrat der Tochtergesellschaft Siemens Energy an – ein Deal, auf den sich Luisa Neubauer wenig überraschend nicht einliess.

Zur Person

Angefangen hat alles im Dezember vor einem Jahr: Die Hamburgerin Luisa Neubauer und die schwedische Klima­aktivistin Greta Thunberg lernen sich auf der Klima­konferenz im polnischen Katowice kennen, an der Thunberg eine Rede hält, die sie später im Internet berühmt macht. Kurz danach organisiert Luisa Neubauer den ersten Schulstreik in Deutschland. Tausende machen mit; das Medien­interesse ist riesig, und schnell wird klar, wer die Bewegung in der Öffentlich­keit vertreten soll. Luisa Neubauer trifft im Fernsehen auf gestandene Politiker, provoziert und zieht eine Hass­kampagne nach der anderen auf sich. Heute ist sie neben Greta Thunberg die berühmteste Vertreterin der Jugend­bewegung und hat im Herbst gemeinsam mit dem Politökonomen Alexander Repenning das Buch «Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft» veröffentlicht.

Frau Neubauer, der Siemens-Chef Joe Kaeser hat Ihnen am vergangenen Freitag einen Sitz im Aufsichtsrat von Siemens Energy angeboten. Sie haben abgelehnt. Wieso?
Würde ich diese Stelle annehmen, wäre ich aktienrechtlich nicht mehr in der Lage, Siemens unabhängig zu kommentieren. Das ist nicht mit meinen Aufgaben als Klima­aktivistin vereinbar – ich sehe mich dem Paris-Abkommen und dem 1,5-Grad-Ziel verpflichtet und möchte das auch bleiben. Gerade der Fall Adani zeigt, dass es mehr unabhängige Instanzen braucht, die Siemens und Joe Kaeser in die Pflicht nehmen.

Am Sonntag hat Joe Kaeser bekannt gegeben, dass Siemens trotz heftiger Kritik aus Ihrer Bewegung am 18-Millionen-Euro-Auftrag der indischen Adani Group festhalten will. Siemens soll Zug-Signaltechnik liefern für ein geplantes Kohlebergwerk in Australien.
Es ist eine historische Fehlentscheidung – und Joe Kaeser hat auch eingeräumt, dass es eine Fehlentscheidung war, den Vertrag zu unter­schreiben. Siemens beteiligt sich damit an einem Vorhaben, welches das 1,5- und sogar das 2-Grad-Ziel massiv gefährdet. Siemens rechtfertigt die Entscheidung mit dem Vertrags­recht. Es ist bewiesen, dass keine Chance besteht, das Paris-Abkommen noch einzuhalten, wenn alle Verträge eingehalten werden, die heute schon bezüglich Projekten fossiler Energien unterschrieben sind. Unternehmen, die verstanden haben, dass sich die Umstände im 21. Jahrhundert fundamental verändert haben, sind gefragt, entsprechende Verträge aufzulösen. Hier wäre Siemens gefragt.

Joe Kaeser reagierte auf ihre Kritik mit einem Tweet. Er sagte, dass Siemens künftig auch indirekte Beteiligungen bei kritischen Projekten besser verstehen und frühzeitig erkennen müsse.
Es ist schön, wenn Herr Kaeser künftig solche Unverantwortlich­keiten vermeiden will. Das wäre aber auch hier gefragt gewesen. Es gibt kein Minenprojekt in der westlichen Welt, das so grosse Zerstörung anrichten kann wie die Adani-Mine. Es liegt an Joe Kaeser, der sich immer wieder zum Paris-Abkommen bekannt hat, genau heute alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zur Umsetzung dieses Abkommens beizutragen. Durch eine Adani-Beteiligung profitieren er und Siemens nun absurderweise von der Torpedierung der Klima­ziele, der lokalen Trinkwasser­vorräte, heiliger Stätten und des Great Barrier Reef. Es ist nicht zu entschuldigen.

Sie waren in den vergangenen Monaten beinahe täglich in den Medien und mussten unzählige Fragen beantworten. Gab es eine, die Sie besonders beschäftigt hat?
Ich kann mich an einige Fragen erinnern, die mich ehrlicherweise etwas gelangweilt und sich mit der Zeit überlebt haben. Zum Beispiel diejenigen zu meinen privaten Flugreisen. Nachhaltig haben mich aber Fragen bewegt, die sich mit der Zukunft auseinander­setzten. Heute Morgen hat mich zum Beispiel jemand gefragt, wie mein Tag in fünf Jahren aussehen wird. Das fand ich spannend.

Wie sieht Ihr Tag in fünf Jahren aus?
Ich wäre sehr dankbar, wenn er ähnlich aussähe wie der heutige; wenn ich weiterhin politische Verhältnisse verhandeln darf und ich Teil einer zukunfts­weisenden Bewegung bin. Ich hoffe auch, dass ich dann immer noch schreiben und vor Leuten sprechen werde – und ich wieder öfter dazu komme, mit Freunden einen Kaffee oder einen Glüh­wein zu trinken, als das heute der Fall ist.

Luisa Neubauer ist in Hamburg geboren und aufgewachsen, seit dem Wintersemester 2015/16 studiert sie Geografie an der Uni Göttingen.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie Fragen mögen, die Sie weder beantworten noch verstehen können.
Anzuerkennen, dass man eine Frage nicht beantworten kann, verlangt einiges von einem ab. Das wurde bisher politisch nicht kultiviert – und wir sollten das ändern. Ich stolpere regel­mässig über Fragen, die ich nicht vollends durch­dringe, und ich gebe das auch gerne zu. Trotzdem versuche ich sie aber zu beantworten.

Haben Sie ein Beispiel?
Heute Morgen hat mich ein Minister­präsident gefragt, wie man Mehrheiten für einen ausgebauten Klima­schutz mobilisiert. Und zwar in einer Gesell­schaft, die sich noch nicht vorstellen kann, in einer Welt zu leben, die ohne fossile Brenn­stoffe auskommt.

Was haben Sie geantwortet?
Ich habe gesagt, dass die Grund­lagen für einen von einer Mehrheit getragenen Klima­schutz bereits existieren: Wir leben in einer aufgeklärten Gesell­schaft, die wissen­schaftliche Erkenntnisse respektiert und inter­nationale Klima­abkommen befürwortet. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir eine Mehr­heit aktivieren, die im Zweifel auch radikale Mass­nahmen mitträgt.

Und wie soll das gelingen?
Damit sich eine Mehr­heit hinter radikalen Klima­schutz stellt, braucht es eine neue Erzählung, die anziehender, verzaubernder und aktivierender wirkt als die neoliberalen Imperative vergangener Jahrzehnte. Wir müssen uns auch über­legen, wie wir den Wider­spruch zwischen Wohl­stand und Klima­schutz auflösen können. Wenn Klima­schutz keine Prosperität nach sich zieht, dann wird es uns niemals gelingen, dahinter eine Mehr­heit zu vereinigen.

Das ist doch eine passable Antwort.
Ich bin ins Abstrakte geflüchtet, auf eine Metaebene. Darauf kann man sich ganz gut austoben, kommt aber vor Ort keinen Zentimeter voran. Die praktische Antwort ist viel schwieriger zu finden.

Der Fridays-for-Future-Bewegung ist es bisher nicht gelungen, eine Mehrheit zu mobilisieren. Viele Menschen teilen die Dringlich­keit Ihrer Anliegen nicht. Wie überzeugen Sie Ihre Gegner?
Ich verweise auf Wissenschaft­lerinnen und Wissen­schaftler, die mit einer anderen Autorität über Wahr­heiten sprechen, als ich es tun kann. Und ich versuche die Klima­krise da sichtbar zu machen, wo die Menschen zu Hause sind; da, wo sie selber erfahren und begreifen können, wie schnell sich die Welt gerade verändert. Zum Beispiel erzähle ich von den heissen und tödlichen Sommer­tagen, die wir in den letzten Jahren alle erlebt haben; die keine natürlichen Jahrhundert­ereignisse sind, sondern aufgrund der Erwärmung immer öfter auftreten werden.

Die Klimakrise mag als Thema in einer links­liberalen und urbanen Blase präsent sein, doch in bürgerlichen oder ländlichen Gefilden findet diese Debatte kaum statt.
Das stimmt. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist dem Umstand geschuldet, dass wir auch in einer Kommunikations­krise leben. Vor allem auf dem Land fehlt guter Journalismus, der die Menschen adäquat informiert. Wenn eine Regional­zeitung nach der anderen einpackt, entsteht ein riesiges Vakuum. Auch darum habe ich im vergangenen Jahr oft auch in winzig kleinen Orten, Städten, Dörfern protestiert – und erlebt, dass Försterinnen, Bäuerinnen und Bauern diejenigen sind, die am vehementesten auf eine Klimawende pochen. Kein Wunder: Ihre Existenz­grundlage wird gerade vernichtet.

Die Umwelt­bewegung ist keine neue Erfindung. Es gibt sie seit Jahr­zehnten. Wieso gelang ausgerechnet der Klima­jugend plötzlich, die Klima­erwärmung auf die politische Agenda zu setzen?
Wir haben die abstrakte Klima­krise zu einer emotionalen und persönlichen Frage gemacht. Das ist der grosse Unter­schied. Wenn unser Haus brennt, sind wir wütend – und dieselbe Wut sollten wir auch dann verspüren, wenn die Erde brennt. Bei mir hat das angefangen, indem ich Menschen zugehört habe, die von den Auswirkungen der Klima­erwärmung betroffen sind, oder Kindern, die auf der Strasse erzählen, dass sie nachts nicht einschlafen können, weil sie sich vor einer ausweg­losen Zukunft gruseln. Das ist kommunikativ und auch politisch enorm wichtig: Für solche Geschichten müssen wir unser Herz frei­machen. Wenn wir aufhören zu fühlen, löschen wir aus, was uns eigentlich antreiben sollte.

Das tönt alles wahnsinnig pathetisch.
Stimmt, aber das ändert die Lage nicht: Unsere politische Kultur sanktioniert genau solche Gefühle. Gepriesen wird, wer ein hartes Fell trägt, gross­artige Sachlich­keit an den Tag legt oder emotionale Kälte zeigt. Das wirkt rational, kalkuliert und verlässlich – scheitert aber, wenn wir etwas rasch und radikal verändern müssen.

Oft erzählen mir Eltern, dass sie rational verstehen, was die Klima­krise bedeutet, sie aber davon längst nicht so ergriffen sind wie ihre Kinder, die Wut verspüren. Wie fühlt sich diese Angst vor der Klima­erwärmung an?
Nur, um das einmal klarzustellen: Ich empfinde nicht während 24 Stunden am Tag Angst. Aber es gibt diese Momente, wenn ich mich mit neuen Zahlen beschäftige oder wenn ich höre, wie Menschen von ihrem Leid erzählen. Dann bricht sie wie eine Welle über mich hinein – und ich merke, wie aussichts­los und unkontrol­lierbar unsere Lage ist. Die Katastrophe und die Heraus­forderung wächst, je mehr man sie versteht und je näher man sie betrachtet. All das über­rollt einen. Man merkt, wie sich die Angst ums Herz legt und wie der Brust­korb schwer wird – und dann habe ich realisiert, dass es auch keine Möglich­keit gibt, sich dieser Angst zu entziehen, ausser man leugnet die Fakten. Wenn man das aber nicht will, muss man sich den Tatsachen stellen – und plötzlich steht man in einem Kampf, dem man nie zugestimmt hat.

Sie schreiben, dass die Fridays-for-Future-Bewegung nicht rebelliert, sondern das Gefühl hat, ihre Eltern­generation erziehen zu müssen, die im Zuge ihrer eigenen Rebellion verantwortungs­los geworden sei.
Im Unterschied zu der Eltern­generation ist die Klimakrise für uns eine Lebensfrage – und für andere junge Menschen an anderen Orten dieser Erde sogar eine Überlebens­frage. Wir sind die ambivalenteste Generation, die es jemals gab: Einerseits wird uns gesagt, dass wir über alle Möglich­keiten verfügten, es nie freiere und privilegiertere Menschen gegeben hätte als heute – und gleich­zeitig wird alles zerstört, das uns künftig Selbst­verwirklichung ermöglichen könnte. Wir stehen sehr oft im Konflikt mit Menschen, die überzeugt sind, dass sie in den letzten Jahr­zehnten nur Gutes getan hätten. Partiell stimmt das. Aber sie haben vor allem auch eine existenzielle Krise nicht anerkannt – und sie sogar befördert mit der Art und Weise, wie Politik gestaltet wurde.

Sie fordern ein radikales Umdenken. Welche Vorstellungen und Ideen vom guten Leben, die wir in den letzten Jahr­zehnten entwickelt haben, werden wir abgeben müssen?
Die Vorstellung, dass gutes Leben mit uneingeschränkter Freiheit einhergeht.

Brauchen wir einen neuen Freiheitsbegriff?
Ja.

Wie sieht der aus?
Er definiert sich weniger durch seine Quantität, sondern eher durch seine Qualität. Wir werden Freiheit nicht mehr daran bemessen können, wie gross die Artikel­auswahl im Supermarkt ist, sondern wir werden Freiheit sowohl qualitativ als auch global definieren müssen. Unsere jetzige Schein­freiheit erhält sich nur, weil wir die Frei­heiten von vielen anderen Menschen auf der Welt unter­drücken und wir die potenziellen Frei­heiten künftiger Generationen gefährden. Das heisst, wir müssen Frei­heit auch nach­haltiger ausgestalten …

… und sie einschränken? Sie schreien nach Verboten!
Klar. Verbote gab es schon immer; das ist nichts Neues. Wir haben dagegen eine Aversion entwickelt, die gefüttert wurde durch einen politischen Diskurs, der Verbote ganz grund­sätzlich dämonisiert hat. Eine Gesell­schaft braucht Regeln: Man verbietet Menschen, bei Rot über die Strasse zu gehen oder um sich zu schiessen, auch wenn es ihnen danach ist. Wieso also nicht Regeln aufstellen, um die Zerstörung der Umwelt zu verhindern?

Weil viele Menschen um ihre persönlichen Frei­heiten fürchten.
Wir tun so, als befänden wir uns auf einer wilden Party, auf der wir tun und lassen können, was wir wollen: Dabei ist es kein Zufall, dass wir in einer Klima­krise stecken; es ist kein Zufall, wie wir unseren Strom­mix generieren; es ist kein Zufall, dass sich in Deutsch­land die Kohlen­energie halten kann, obwohl sie nicht rentabel ist. Das ist politisch gewollt und wird in entsprechenden Bahnen gelenkt. Ich bin oftmals irritiert, wenn Menschen im Zusammen­hang mit der Klimakrise von individuellen Frei­heiten sprechen, in einer Gesell­schaft, in der so viel gelenkt und vorgelebt wird.

«Wenn unser Haus brennt, sind wir wütend – und dieselbe Wut sollten wir auch dann verspüren, wenn die Erde brennt.»

Sie sind neben Greta Thunberg eines der prominentesten Gesichter der Fridays-for-Future-Bewegung, die im letzten Jahr so viel erreicht hat wie keine andere Jugend­bewegung zuvor. Damit haben die Proteste aber auch ihre Unschuld verloren. Spüren Sie Verantwortung?
Ja, klar. Aber die grösste emotionale Belastung liegt für mich darin, dass wir sehr viel Energie darauf verschwenden müssen, haltlose Vorwürfe zu bekämpfen. Während die Welt irreversibel kaputt geht, heisst es, wir würden Panik schüren. Das ist absurd – und zum Lachen, wäre es nicht so tragisch. Wir haben ja noch nicht einmal eine gemeinsame Sprache gefunden, um zu beschreiben, wie drastisch die Lage ist.

Sie werden in einem Masse angefeindet, wie man das noch selten erlebt hat. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wir sprechen Wahr­heiten aus, die so unangenehm sind, dass man sie gerne negieren möchte. Aber weil man wissen­schaftliche Erkenntnisse nur schwer in Abrede stellen kann, attackiert man uns: die Botschafterinnen. Viele werden dabei von einer irrationalen Angst angetrieben; sie fürchten, wir wollten ihnen etwas wegnehmen, ihnen das Steak vom Teller stehlen – und unsere pure Existenz provoziert. Wir wagen es, als junge Frauen unsere Meinung zu artikulieren. Wir kollidieren mit bestehenden Erwartungen und Normen. Dass wir damit vielen Menschen auf die Füsse treten, die es sich sehr gemütlich eingerichtet haben, überrascht mich nicht sonderlich.

Sie schreiben, die Klimakrise sei auch eine sexistische Krise.
Ungefähr nur ein Viertel aller Parlamentarier sind weiblich, und die aller­meisten Staaten werden von Männern regiert. In grossen Unternehmen, in den Medien, in der Finanz­wirtschaft sind Frauen fast immer in der absoluten Minder­heit. Das heisst, mögliche Lösungs­wege aus der Krise gestalten Männer – ohne Einbezug von Frauen, obwohl sie die Hälfte der Welt bevölkern. Das ist eine enorme Verschwendung von Potenzial. Kommt hinzu: Die Klima­krise trifft diejenigen Menschen mit der kleinsten Resilienz und der grössten Vulnerabilität am härtesten.

Frauen?
Genau. Sie werden statistisch eher krank als Männer, haben einen kleineren finanziellen Puffer, geniessen weniger Frei­heiten und weniger Bildung. Die Klima­krise wird sich nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern vor allem auch zwischen Frau und Mann entladen. Wir erleben bereits heute, dass Frauen bedroht sind, weil sie in ärmeren Gebieten nur über begrenzten Zugang zu kritischen Infra­strukturen wie Spitälern verfügen. Sie sind strukturell am stärksten betroffen, wenn die Klimakrise Lebens­grundlagen zerstört. Und wenn Ressourcen knapp werden, wird sich diese Situation noch einmal verschärfen.

2019 haben Sie Emmanuel Macron und Barack Obama getroffen. Hatten Sie eigentlich nie Angst, Teil einer «Schaut-her-wir-machen-etwas-fürs-Klima-und-hören-jetzt-ganz-gut-zu»-PR-Kampagne zu werden?
Ununterbrochen. Nicht nur bei Obama und Macron; ich habe auch die Staats- und Regierungschefs von Spanien, Portugal, Schweden, Belgien getroffen. Es wird aber immer schwieriger werden, sich willkürlich mit uns zu schmücken, ohne solche Treffen mit echter Politik zu untermauern – und ich bin dann auch immer wieder über­rascht, wie ehrlich Politikerinnen und Politiker mit uns sprechen.

Haben Sie ein Beispiel?
Kein konkretes, das ich hier nennen wollen würde – ohne es mit allen Beteiligten abzusprechen. Ich habe Menschen getroffen, die sehr lange sehr wichtige Ämter bekleidet haben, die uns mit vielen Vor­urteilen begegnet sind. Im Verlaufe der Gespräche habe ich dann oftmals fest­gestellt, dass sie ins Grübeln kommen und fest­stellen, dass vieles nicht stimmt, was über uns gesagt und geschrieben wird: Dass wir keine naiven, ego­zentrischen und über­heblichen Radikalinskis sind, die Panik schüren. Wenn diese Klischees mal aus dem Weg geräumt sind, trifft man sich immer öfter auf einer menschlichen Ebene. Wie sich das aber in konkreter und nach­haltiger Politik ausleben soll? Das ist nochmal ein ganz anderes Thema.

Deutschland gilt als vorbildlich. UN-General­sekretär António Guterres lobte die deutsche Umwelt­politik. Eigentlich müssten Sie zufriedener sein.
Die positive Reputation ist eine Spät­folge von Entscheidungen, die in der Vergangen­heit getroffen wurden. Heute ist sie unbegründet. Es gibt wenig Anlass dazu, Deutsch­land in den Himmel zu loben. Wir stellen fest, dass sich Deutsch­land gerade vom Pariser Abkommen verabschiedet – und damit ein enormer Hoffnungs­träger wegfällt. Das ist keine Inter­pretation meiner­seits – sondern das erkennt man, wenn man sich anschaut, auf welchem Emissions­pfad wir uns befinden. Die Bundes­regierung hat keinen Plan, der uns auch nur in die Nähe einer 2-Grad-, geschweige denn einer 1,5-Grad-Politik bringen würde. Das ist fatal.

Luisa Neubauer in Berlin-Mitte, nahe des Rosenthalers Platz.

Sie haben ein Deutsch­land ohne Angela Merkel nie gekannt. In der Flüchtlings­politik hat sie mit sehr radikalen Entscheidungen Geschichte geschrieben; in der Klima­frage bleibt sie ruhig, obwohl sie sich als promovierte Physikerin und als ehemalige Umwelt­ministerin der Problematik bewusst sein müsste.
Ich bin überzeugt, dass sie versteht, was abgeht. Sie ist wahn­sinnig klug. Man könnte annehmen, dass sie den Mut verloren hat. Ich bin sehr bedacht in meiner Kritik, denn Angela Merkel hat sehr viel Gutes getan. Aber dass sie die einzig­artige Möglich­keit nicht packt, zum Ende ihrer Kanzler­schaft noch einmal Impulse zu setzen, enttäuscht mich. Sie müsste keine Revolution lancieren, könnte jetzt aber Lösungen initiieren, die eine globale Wirkung und Strahl­kraft hätten.

Gibt es eine Hoffnung, die Sie im letzten Jahr verloren haben?
Ich glaube nicht mehr, dass sich die Bundes­regierung im Speziellen und die Staaten dieser Welt aus Eigenmotivation heraus an ihre gemein­samen Abmachungen halten.

Welche Hoffnung möchten Sie nie verlieren?
Dass Menschen im Kern nur Gutes wollen.

Wenn Sie 2030 auf Ihre 20er-Jahre zurückschauen werden, was wollen Sie nicht bereut haben?
Dass ich meine Prioritäten an die Krisen­realität angepasst habe in Zeiten, in denen wir noch handeln konnten.