Der zerplatzte Propagandatraum
Die iranischen Machthaber wollten Kapital schlagen aus dem tödlichen US-Drohnenangriff auf General Qassim Soleimani. Dann schossen die Revolutionsgarden ein Passagierflugzeug ab.
Von Solmaz Khorsand, 14.01.2020
Im Iran sind selbst Tränen ein Politikum. Werden sie für einen Militärkommandanten vergossen, der bei einem US-Drohnenangriff getötet wurde, halten die Kameras des Staatsfernsehens darauf. In Endlosschleife laufen sie dann über die Schirme des ganzen Landes. Alle sollen sehen, wie geeint die Nation um einen der Ihren trauert. Aus diesen Tränen lässt sich innenpolitisches Kapital schlagen, die Illusion von nationaler Eintracht erzeugen.
Weinen die Iraner hingegen um 176 Passagiere, deren Flugzeug von einer fehlgeleiteten Rakete aus dem eigenen Arsenal abgeschossen wurde, werden die Schlagstöcke ausgepackt.
Mit dem US-Attentat auf Qassim Soleimani, den Chef der Quds-Brigaden – einer Eliteeinheit der Revolutionsgarden, zuständig für die Koordination von Irans Auslandseinsätzen (unter anderem den Aufbau von Milizen) –, gönnte US-Präsident Donald Trump der iranischen Führung eine Atempause von ihrer innenpolitischen Legitimationskrise. Endlich ein Aussenfeind, gegen den sich wieder mobilisieren liess. Und was für einer! Ausgerechnet die Amerikaner, die seit 40 Jahren im nationalen Revolutionsnarrativ auf die Rolle des Erzfeinds gebucht sind. Ein Geschenk für die iranische Führung. Endlich klangen die «Tod Amerika»-Rufe nicht nach verstaubter Nostalgie angekarrter Regimelakaien, sondern nach zulässigen Durchhalteparolen eines ganzen Landes, das soeben in seiner Souveränität verletzt wurde.
Selbst auf Regimekritikerinnen, die in Soleimani nicht den schiitischen Che Guevara des Nahen Ostens sahen, sondern einen gefährlichen Milizenführer, der eine ganze Region destabilisiert hat, konnte die iranische Führung in ihrer passiven Solidarität zählen.
Mit dem Raketenangriff auf zwei Militärbasen im Irak, wo auch US-Soldaten stationiert waren – und keiner ums Leben kam –, antwortete der Iran auf Soleimanis Ermordung. Das Attentat war damit gesühnt. Der Aug-um-Aug-Mechanismus fürs Erste bedient. Das Gesicht gewahrt.
Zum ersten Mal ein Schuldeingeständnis
Doch nur wenige Stunden nach dem Raketenangriff wurde der Absturz eines ukrainischen Passagierflugzeugs in der Nähe des Flughafens Imam Khomeini in Teheran vermeldet. Alle 176 Insassen starben. Die iranischen Behörden sprachen anfangs noch von einem technischen Defekt als Absturzursache.
Drei Tage später, am Samstagvormittag, rückte die iranische Führung mit der Wahrheit heraus. Das Militär habe das Flugzeug unbeabsichtigt abgeschossen, es handle sich um «menschliches Versagen». «Als ich sicher war, dass das vorgefallen ist, wünschte ich mir wirklich den Tod», sagte der Luftwaffenkommandant der Revolutionsgarden Amir-Ali Hajizadeh. Man habe das Flugzeug fälschlicherweise für einen Marschflugkörper im Anflug auf eine Militärbasis gehalten. Hajizadeh übernahm die Verantwortung für den Vorfall und versprach, die vollen Konsequenzen dafür zu tragen.
Es ist ein seltsamer Anblick, einen zerknirschten Kommandanten der Revolutionsgarden zu sehen, wie er sich entschuldigt. Nicht oft werden die Iraner Zeuge davon, dass ihre Führung einen Fehler eingesteht, noch dazu ein Repräsentant der Revolutionsgarden. Sie sind Teil der opaken Parallelstruktur des Landes. Während Präsident und Parlament von den Iranerinnen gewählt werden können – und lediglich die Rolle ausführender Technokraten einnehmen –, gibt ein ganzer Apparat unter der Kontrolle des Revolutionsführers Ali Khamenei den eigentlichen Kurs vor. Dass einer aus diesem Lager ein Schuldeingeständnis macht, ist ungewöhnlich.
Unmittelbar danach sprachen Präsident Hassan Rohani und Aussenminister Jawad Zarif den Familien der Opfer des abgeschossenen Flugzeugs ihr Beileid aus. Selbst Revolutionsführer Ali Khamenei versprach Aufklärung.
«Unser Feind ist hier»
Teherans Studentinnen beeindruckte das Mea culpa der iranischen Führung nicht. Man hat sie angelogen. Drei Tage lang hat man sie über die wahre Ursache des Absturzes im Dunkeln gelassen. Wären nicht Ausländer im Flugzeug gesessen, hätte sich die Führung bis heute nicht bemüssigt gefühlt, den Bürgerinnen die Wahrheit zu sagen, so der Vorwurf. Erst auf internationalen Druck kam das Schuldeingeständnis. 147 der 176 Passagiere stammten aus dem Iran, viele unter ihnen waren Doppelstaatsbürger, wohnhaft in Kanada, Schweden und anderen europäischen Ländern. Viele von ihnen Studenten.
Wenige Stunden nach dem Eingeständnis versammelten sich am Samstagnachmittag zahlreiche junge Männer und Frauen vor den Universitäten Teherans. Sie zündeten Kerzen an und trauerten um ihre toten Kommilitonen. Wie konnte es sein, dass einem Militärkommandanten tagelang die letzte Ehre auf jedem Kanal der Islamischen Republik erwiesen wird, während der Tod von 176 Menschen dem Revolutionsführer Khamenei keine Träne wert war? Wo bleibt das Staatsbegräbnis? Wo das nationale Pathos, wenn es um Zivilisten geht, deren Tod man selbst zu verschulden hat?
«Tod dem Lügner», «So viele Jahre Mord und Totschlag, nieder mit dem Revolutionsführer!», «Unser Feind ist hier, sie lügen, wenn sie sagen, er ist Amerika», skandierten die Demonstranten auf Teherans Strassen. Doch nicht nur dort, auch in Isfahan, Shiraz, Kerman und anderen iranischen Städten.
Das Tränengas der Revolutionsgarden liess nicht lange auf sich warten. Binnen weniger Stunden war der Aussenfeind vergessen. Trumps Geschenk hatte für das iranische Regime nur eine kurze Halbwertszeit. Bis zum 21. Februar, dem Datum der iranischen Parlamentswahlen, hätte die Führung noch von dem US-Attentat auf General Soleimani profitieren können, prognostizierten Iran-Kenner. So lange hätte man jeden Widerspruch unter dem Mantel des antipatriotischen Defätismus begraben können. Doch Irans Studentinnen hielten sich nicht an das Skript. Zu gross ist die Wut auf die Führung, zu tief das Trauma vergangener Proteste, zu frisch die Erinnerung an vergangenen November.
Die Mittelklasse ist zurück
Damals gingen im ganzen Land Tausende Menschen auf die Strassen, nachdem Präsident Rohani verkündet hatte, die Benzinpreise zu erhöhen. Es kam zu Ausschreitungen. Randalierer setzten Tankstellen, Banken und Polizeiwachen in Brand. Die Regierung antwortete mit scharfer Munition. 1500 Menschen sollen damals getötet worden sein.
Teheran hat sich bisher nicht öffentlich zur Zahl der Todesopfer geäussert. Trauern durften die Familien nicht um ihre getöteten Angehörigen. So wurden etwa die Eltern und die minderjährigen Geschwister eines Opfers ins Gefängnis gesperrt, weil sie zu öffentlichen Trauerfeierlichkeiten für ihren getöteten Sohn geladen hatten.
Auch an diesem Wochenende brüllten die Demonstranten die Zahl «1500». Man hat die Opfer der November-Proteste nicht vergessen. Auch wenn man damals nicht an ihrer Seite war. Im November gingen vor allem die sozial Schwachen auf die Strasse. Die Intelligenzija hielt sich zurück. Mit den Vandalen, die Tankstellen anzünden, wollte die Mittelklasse nichts zu tun haben. Nun sind sie wieder zu sehen, die Studenten und Akademikerinnen, Intellektuellen und Prominenten, wie der mit Berufsverbot belegte Regisseur Jafar Panahi, der zu den Ersten zählte, der auf Instagram Videos von den Demonstrationen postete. Auch seine Kollegen zeigten ihre Solidarität. Das gesamte Organisationskomitee des Fajr-Festivals, der iranischen Oscars, die im Februar vergeben werden sollen, ist aus Protest zurückgetreten. Ebenso wie Reporterinnen des regierungstreuen Staatsfernsehens und eine Stadträtin aus Teheran.
Business as usual
Welches Ausmass werden die Proteste und ihre Niederschlagung annehmen? Anfangs setzten Irans Sicherheitskräfte Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen die Demonstrantinnen ein. Auch Warnschüsse sollen abgegeben worden sein. Sonntagabend tauchten Videos im Netz von blutenden Demonstranten auf, die angeschossen worden sein sollen. Die Polizei verneinte, Waffengewalt eingesetzt zu haben.
Zynisch betrachtet, ist auch dieser Protest für die iranische Führung: Business as usual. Das erste Mal haben die Kinder der Islamischen Revolution von 1979 im Juli 1999 gegen die Führung aufbegehrt. Auslöser war die Schliessung einer liberalen Zeitung. Innerhalb weniger Tage wurden die Studentenproteste niedergeschlagen. Die Demonstranten richteten ihren Frust direkt gegen Revolutionsführer Khamenei. Zum ersten Mal wurde seine Rolle der unantastbaren Autorität offen infrage gestellt und damit das gesamte System der Islamischen Republik. Damals war das noch ein Tabubruch.
Heute, 20 Jahre später, gehört dieser Tabubruch zum Programm fast jeder Demonstration. Beständig kratzt er an der Legitimität der Islamischen Republik. Und dagegen richtet kein Aussenfeind etwas aus. Selbst wenn es der vermeintliche Erzfeind ist.