«Der Umgang mit Big Tech ist entscheidend für eine progressive Politik»

Lösen Algorithmen, Big Data und künstliche Intelligenz unsere Probleme? Der weltbekannte Publizist Evgeny Morozov warnt vor noch viel schlimmeren, präfaschistischen Regierungen – und sieht in Tech-Politik Erneuerungs­potenzial für die «Zombie-Sozialdemokratie».

Ein Interview von Daniel Binswanger, 04.01.2020

Herr Morozov, Sie pflegen seit 2009 einen skeptischen Blick auf das Internet und sind bekannt geworden als Kritiker der Ideologie des solutionism, das heisst einer technologie­gläubigen Fortschritts­begeisterung, die davon überzeugt ist, dass Big Data, künstliche Intelligenz oder eine Killer-App die Antwort auf jedes Menschheits­problem geben werden. Leidet unser Technologie­verständnis auch heute noch an solutionism?
Meine Position hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwas gewandelt, inzwischen haben sich andere Befürchtungen in den Vorder­grund geschoben. Der solutionism hat sich zwar nicht in Luft aufgelöst und ist sehr lebendig, aber man muss ihn heute vornehmlich als sozioökonomisches Phänomen und nicht mehr als geistiges Konzept oder als philosophische Welt­anschauung verstehen. Im aktuellen Tech-Umfeld ist das Probleme­lösen mit starken Profit­anreizen verbunden. Je schlechter die Lage wird, sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht, desto grösser wird die Zahl der Probleme, die auf eine Lösung warten. Die Folge ist, dass privat­wirtschaftliche solutionists begierig darauf sind, möglichst viele Probleme aus der Welt zu schaffen. Mit Fortschritts­gläubigkeit und ideologischer Naivität hat das allerdings nicht mehr viel zu tun.

Zur Person

Leonardo Cendamo/Leemage/imago images

Evgeny Morozov hat einen starken slawischen Akzent, spricht aber ein ausgesuchtes Englisch: Der 35-Jährige kann schon heute auf eine der erstaunlichsten Karrieren der globalen Publizistik zurück­blicken. Aus Weissrussland stammend, hat der frühreife Nerd und Polit­aktivist dank einem Stipendium der Soros Foundation in Bulgarien studiert, für eine NGO in Berlin gearbeitet, um sich dann in der amerikanischen Universitäts­landschaft und Tech-Publizistik in kürzester Zeit einen grossen Namen zu machen. Neben einem Doktorat in Harvard hat er zwei Bücher über das Internet und Big Tech vorgelegt, die sich als wahrhaft prophetisch erwiesen und schon Jahre vor den grossen Facebook-Skandalen vor dem Glauben warnten, moderne Technologien würden die Demokratie voranbringen und zwingend ein politischer Segen sein.

Seine Kolumnen, Essays und Interviews erscheinen rund um den Globus in zahllosen Leitmedien: im «Guardian», «The Economist», in der «New York Times», dem «Wall Street Journal», der «Süddeutschen Zeitung», der FAZ, in «Repubblica», «Le Monde», «Wired», «The New Republic», «Slate», «The New Yorker», um nur die wichtigsten zu nennen.

2011 erschien «The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom». 2013 publizierte er «To Save Everything, Click here». Für nächstes Jahr ist «Freedom as a Service: The New Digital Feudalism and the Future of the City» angekündigt. Morozov lebt heute in Kalabrien und gibt neuerdings «The Syllabus» heraus, einen exzellenten wöchentlichen Newsletter zu wichtigen publizistischen Neuerscheinungen.

Das heisst, Sie betrachten den allgegenwärtigen Diskurs über technische Wunder­lösungen als Kompensation dafür, dass wir es eigentlich mit einer System­krise zu tun haben?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Wenn wir ein jüngeres Beispiel nehmen sollen: Viele Plattformen der sogenannten sharing economy haben sich entwickelt, um eine Kompensation für sinkende Einkommen zu bieten, um es den Leuten weiterhin zu ermöglichen, über die Runden zu kommen. Es war ein wichtiger Grund, weshalb Airbnb oder Uber Erfolgs­geschichten geworden sind. Diese Dienste sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken, unterstützen im Grunde aber bloss den Erhalt der bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Strukturen.

Weil auch die Plattformen der sharing economy heute kommerziell orientiert sind?
Das Phänomen geht weit über die sharing economy hinaus. Die neuen, erfolgreichen Platt­formen müssen es den Leuten ganz einfach erlauben, entweder Geld zu sparen oder Geld zu verdienen. Wenn man sich ein Beispiel wie Uber ansieht, ist allerdings nicht ohne weiteres klar, woher die Einspar­möglichkeiten eigentlich kommen. Sie mögen der echten Effizienz entspringen, die durch das algorithmen­gestützte Management entsteht – und natürlich ist das die Geschichte, welche die CEOs solcher Firmen gerne unter die Leute bringen. Es könnte aber auch sein, dass die «Effizienz» lediglich dem Kapital von Gross­investoren zu verdanken ist, zum Beispiel der Regierung Saudi­arabiens, die gigantische Beträge in solche Unter­nehmen investiert, was es möglich macht, mit extrem tiefen Preisen zu operieren. Die Gründe für sinkende Kosten sind in der Regel komplizierter, als wir es wahrhaben wollen. Noch mehr als die Gründe interessieren mich aber die Konsequenzen: Diese bestehen in einer Verbilligung des Erhalts der gesellschaftlichen Verhältnisse und in stark erweiterten Möglichkeiten, auf flexible und ungesicherte Weise Geld zu verdienen.

Das ist eine Art Leitmotiv Ihrer Texte: Hinter der technologischen Entwicklung stehen immer mächtige sozio­ökonomische Kräfte. Wer nur die Technologien zu verstehen versucht, so sagen Sie, versteht letztlich gar nichts.
2013 schrieb ich einen langen Essay namens «Against Technology» – und habe mich von der Technologie­kritik gewisser­massen offiziell verabschiedet. Ich betrachte mich nicht als Tech-Kritiker, ich weiss gar nicht richtig, was das überhaupt sein soll. In der Regel nehmen «Technologie­kritiker» eine konservative, beinahe reaktionäre Position ein, die darin besteht, zu moralisieren, anstatt die politischen und sozialen Probleme anzugehen. Es wird gefordert, dass jedes Individuum die Verantwortung übernehmen müsse, sich mit Medien minimal auszukennen, Fake News zu durchschauen, sich dagegen zu wehren, von Facebook und Google in Geiselhaft genommen zu werden. Diese Rolle zu spielen, reizt mich überhaupt nicht. Und auch nicht das zweite verbreitete Genre der Technologie­kritik zu bedienen, nämlich die historische Einordnung.

Was ist falsch an historischer Einordnung?
Grundsätzlich nichts. Sie bringt aber häufig wenig Erkenntnis­gewinn. Die Haupt­plattform für grosse historische Einordnungs­essays über Technologie ist der «New Yorker». Im typischen «New Yorker»-Text steht dann: Der Buchdruck war eine disruptive Technologie, aber er führte zur Aufklärung. Zu was führt das Internet? Es gibt tonnenweise solche historischen Herleitungen, und man kann damit kohärente Diskurse zimmern. Aber letztlich bleiben diese Analysen irrelevant.

Das hiesse dann, dass man über Big Tech nur sinnvoll schreiben kann, wenn man die relevanten Kräfte des heutigen Kapitalismus versteht?
Ich würde mich nicht als Marxisten, aber doch als Materialisten bezeichnen. Ich bin überzeugt, dass technologische Entwicklungen immer die Folge von fundamentalen Kräften sind, die man in Begriffen der Macht, des Kapitals, der staatlichen Verfügungs­gewalt oder auch einer Kombination aller drei beschreiben kann. Aber die Technologie selber ist nie die Treibkraft. Sie folgt nicht einer autonomen Logik. Das ist der Punkt, an dem ich mich von vielen Tech-Autoren unterscheide, zum Beispiel von Kevin Kelly, dem ehemaligen Chefredaktor von «Wired». Die grosse Mehrheit der Tech-Theoretiker ist davon überzeugt, dass sich neue Technologien durch eine Reihe immanenter Eigenschaften auszeichnen, die eine Reihe feststehender Konsequenzen haben, die es zu analysieren gilt. Ich habe eine andere Ausgangs­hypothese: Hinter spezifischen Technologie­effekten stehen historisch gewachsene Macht­strukturen, die nicht notwendig die Form haben müssen, die sie haben. Sie können auch wieder verändert werden.

Sie sagen, entscheidend sind die Macht­beziehungen innerhalb des sozio­ökonomischen Systems. Heisst das, dass der Klassen­kampf die entscheidende Rolle spielt?
Den Klassen­begriff halte ich nicht mehr für nützlich. Im 19. Jahr­hundert mögen solche Kategorisierungen Sinn gemacht haben, aber ich glaube nicht, dass wir in der heutigen Zeit alle relevanten sozialen Gruppen identifizieren und in diesen Schubladen unterbringen können. Natürlich gibt es zum Beispiel die Gruppe der Milliardäre, die einfach zu identifizieren sind und die ziemlich viel Klassen­solidarität an den Tag legen. Auch das «Lumpen­proletariat», also das unterste Prekariat, lässt sich relativ gut fassen. Aber zwischen diesen beiden Extremen ist alles sehr fluide. Es macht zwar weiterhin Sinn, die Gesellschaft mit einer Theorie des Klassen­kampfs zu erklären, aber weil die Strukturen so komplex und fliessend geworden sind, kann man die Theorie nicht mehr anwenden, ohne sofort nutzlose Verwirrung zu stiften.

Reden wir konkreter über Big Tech. Was halten Sie von den Facebook-Hearings vor dem amerikanischen Repräsentanten­haus und von der öffentlichen Rede, die Mark Zuckerberg kürzlich an der Georgetown University gehalten hat?
Facebook beurteilt das öffentliche Klima völlig falsch. Dass sie entschieden haben, Libra (das neue Facebook-Zahlungsmittel; Anm. der Red.) dieses Jahr zu lancieren, obwohl sämtliche Regierungen Bedenken angemeldet haben, zeigt, wie blind der Konzern gegenüber öffentlichen Reaktionen geworden ist. Nur Firmen, die in einer Krise sind und diese Krise nicht verstehen, verhalten sich in dieser Weise. Zuckerberg müsste den Ball dieses Jahr flach halten – so weit wie möglich gar nicht erst in der Öffentlichkeit auftreten. Er müsste alle drängenden Fragen herunter­spielen, den Start von Libra um ein Jahr verschieben, versuchen, das Gesicht zu wahren. Doch Facebook macht das Gegenteil, was zeigt, wie überheblich und arrogant der Konzern geworden ist. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Es ist inzwischen zu einfach, auf Facebook einzuprügeln, jeder zweite Journalist auf diesem Globus macht das heute. Mir macht das keinen Spass mehr. Intellektuell jedenfalls ist es nicht gerade fordernd.

Aber Sie haben kürzlich eine interessante These zu Facebook entwickelt: Facebook steht unter Beschuss wegen der Falsch­informationen, die über die Plattform verbreitet werden. Die Firma verteidigt sich, indem sie sich hinter Prinzipien der Meinungs­freiheit verbirgt. Gleichzeitig will sie aber eine Form von Content-Überprüfung praktizieren – und führt, wie Sie sagen durch die Hintertür, eine Experten­kultur zweiter Ordnung ein.
Ja, das geschieht ja bereits. Es sind externe Aufsichts­organe geschaffen worden. Es werden nun sicherlich viele neue Bewertungs­kriterien und Filter­algorithmen eingeführt, die tugendhaftes Verhalten wahrscheinlich eher erschweren als fördern. Es liegen hier wider­sprüchliche geistige Haltungen vor, die für unsere digitale Kultur insgesamt bestimmend sind. Ich selber habe gerade diese Erfahrung gemacht, weil ich jetzt «Syllabus» gestartet habe, einen Themen-Newsletter, der auf aktuelle interessante Webinhalte verlinkt. Er löst seltsame Reaktionen aus. Ein Teil der Tech-Community schien die Erwartung zu haben, dass dieser Newsletter funktioniert wie ein Blockchain-System oder wie Wikipedia. Denn alles, was nicht nach hundert­prozentig transparenten Kriterien funktioniert und wie ein Algorithmus beschrieben werden kann, gilt als verdächtig, mangelhaft, irgendwie korrupt. Mich befremdet das: Einerseits will man die Zensur des Expertentums überwinden, andererseits bringt man sie zurück durch die Hintertür des Algorithmus. Zudem funktioniert es ganz einfach nicht. Natürlich kann man sich maschinell unterstützen lassen, Such­kriterien definieren, Bewertungs­hierarchien schaffen, sich mithilfe von Programmen eine Übersicht verschaffen. Aber man kann nicht alles automatisch beurteilen lassen.

Warum nicht?
Die menschliche Urteils­fähigkeit kann man nicht wegprogrammieren. Um beim Beispiel von «Syllabus» zu bleiben: Die Gestaltung eines solchen publizistischen Formats erfordert auch ästhetisches Beurteilungs­vermögen. Die Vorstellung, dass alles automatisiert werden muss, ist bizarr.

Aber sie hat den Vorteil, den Widerspruch zwischen Expertentum und demokratischer Offenheit zu lösen. Wenn eine Maschine die Debatte moderiert, haben alle dieselben Zugangs­bedingungen. Das ist doch ein attraktiver Gedanke, der auch in der öffentlichen Verwaltung an Terrain gewinnt. In Frankreich werden zum Beispiel teilweise die Plätze in begehrten Eliteschulen mithilfe von Computer­programmen vergeben.
Sicher, Bürokratien haben das Problem, dass sie ihr Handeln als objektiv und effizient darstellen müssen, aber ich glaube nicht, dass dieser Zwang von der Digitalisierung herrührt. Der Druck entsteht dadurch, dass Bürokratien heute immer schlanker und kosten­günstiger werden sollen. Es ist nicht so, dass Organisations­berater plötzlich sagen würden, um eure Probleme zu lösen, braucht ihr Algorithmen. Typischerweise haben die Berater eher das Mandat zu sagen: Ihr müsst euer Budget um 20 Prozent herunterfahren. Am Anfang steht eine politische Agenda des Sparens, die top down verordnet wird. Und wenn man weniger Geld hat, muss man natürlich die Prozesse optimieren, was eben häufig bedeutet: digitalisieren.

Aber dass man diese Optimierung mit Informatik umsetzt, hat auch eine Legitimierungs­funktion. Computer entscheiden nicht nur effizient, sondern auch «objektiv».
Ja, die Digitalisierung hat natürlich auch eine Legitimierungs­funktion, es geht nicht nur um Effizienz­steigerung. Es ist interessant, die historischen Wandlungen der Vorstellungen von «Objektivität» zu betrachten, so wie das in der Wissenschafts­geschichte gemacht wird. Im Lauf der Neuzeit gingen die Autorität und das Charisma der klassischen Gelehrten – also der damaligen «Experten», wenn Sie so wollen – auf die Natur­wissenschafter über, welche die Welt mit mechanischer Kausalität erklärten. In ihrer Wissenschafts­geschichte der Objektivität haben Peter Galison und Lorraine Daston gezeigt, wie im 18. Jahr­hundert plötzlich die mechanische Objektivität zum Mass aller Dinge wird. Es wäre sicher interessant, die Parallelen zum heutigen Status von Algorithmen heraus­zuarbeiten, die in der Regel ja nichts anderes sind als von Privat­firmen aufgesetzte Systeme mit kommerziellem Zweck.

In gewisser Weise haben Sie das ja getan in Ihrem polemischen Artikel über Jeffrey Epstein und seine engen Beziehungen zum MIT Media Lab, in dem Sie kritisieren, dass die ganze Tech-Kultur, die sogenannte «dritte Kultur», welche die Spaltung zwischen der Kultur der Geistes- und der Kultur der Natur­wissenschaften zu überwinden vorgibt, sich in einem falschen Wissenschaftlichkeits- und Menschheits­beglückungs­anspruch sonnt.
Der Fall von John Brockman und seinem sehr einflussreichen Manifest «The Third Culture» liegt noch einmal etwas anders. Brockman war Literatur­agent, er hatte eine Reihe von Natur­wissenschaftlern unter Vertrag und wollte eine Nische auf dem Buchmarkt für sie schaffen. Diese Leute schrieben nicht für die «New York Review of Books» und wollten sich absetzen von den Vertretern der Geistes­wissenschaften. Also startete Brockman eine Art General­angriff auf die New Yorker Intellektuellen und die New Yorker Literaten. Er tat dies mit einer sehr pragmatischen, eigentlich kommerziellen Absicht: Er wollte Bücher verkaufen. Das war keine ernst zu nehmende Theorie, Brockman kannte die «zweite Kultur» gar nicht, die er mit so viel Verve angriff. Ich selber kenne John relativ gut, er war ja auch mein Agent. Ich verfolge immer noch ziemlich genau, was er macht, auch wenn wir nicht mehr miteinander reden.

Aber der Punkt ist doch, dass die «dritte Kultur» heute der Welt­erklärungs­mission der Tech-Industrie die Legitimität verschaffen soll. Alle Menschheits­fragen sind nur noch ein Big-Data-Problem.
Heute ist das so, aber man muss sehen, wie sich die Sache entwickelt hat. Zu Beginn war Brockman ein Columbia-Abgänger mit vielen Freunden in der New Yorker Underground-Kultur. Er wurde ihr Agent und Impresario. Er hat ein Netzwerk geschaffen, in das irgendwann auch Gross­mäzene und Milliardäre eingebunden waren – und mit der Zeit waren unter diesen Milliardären eben ziemlich viele Tech-Milliardäre, die Brockmans Edge-Foundation sponsorten. Aber das Geld war nie wichtig. Wichtig war das Netzwerk, das einem coole Kontakte eröffnet. Wichtig war es, den Autoren zu demonstrieren, dass sie Zugang zur Reichtums­elite bekommen, wenn sie unter Vertrag sind bei Brockman, und die Milliardäre im Gegenzug mit prestige­trächtigen Gesprächs­partnern zusammenzubringen. Um diesen Deal etwas weniger businesslike aussehen zu lassen, musste ein passender intellektueller Diskurs geschaffen werden. Das war dann die Tech-Variante der «dritten Kultur».

Lassen wir den Diskurs einmal beiseite und reden wir über die inhaltlichen Fragen, zum Beispiel die Eigentums­rechte an den eigenen Daten. Ein immer grösseres Problem ist ja, dass wenige Player wie etwa Google oder Facebook unglaublich viele Daten über uns haben. Eine mögliche Antwort wäre es, die grossen Tech-Firmen zu zerschlagen. Sie haben sich aber gegen diese Strategie gewandt.
Es kommt eben darauf an, welches Ziel man verfolgt. Wenn es darum gehen soll, innerhalb der digitalen Wirtschaft den Wettbewerb zu garantieren, mag eine Zerschlagung der Tech-Giganten sinnvoll sein. Mein Ziel ist das nicht. Ich glaube nicht, dass wir sehr viel gewinnen, wenn der digitale Markt kompetitiver wird.

Aber wäre es nicht eine Verbesserung gegenüber der heutigen Situation, die von extrem starken Monopolisten bestimmt wird?
Die grossen Monopole aufzubrechen beziehungs­weise ihnen das Genick zu brechen (natürlich nur im metaphorischen Sinn), wäre sicherlich Teil der Agenda, die ich verwirklichen möchte. Es wäre ein nützliches Mittel zum Zweck. Aber es ist nicht der Zweck an sich. Mich irritiert, dass die meisten Akteure, die sich für mehr Konkurrenz unter Tech-Firmen aussprechen, die Stärkung des Wettbewerbs als die Lösung aller Probleme zu betrachten scheinen.

Also etwa auch Margrethe Vestager, die europäische Kommissarin für Wettbewerb, die sehr entschlossen gegen Google oder Apple vorgegangen ist?
Zum Beispiel. Wettbewerbs­schutz ist Vestagers Job, und den macht sie. Aber die Europäische Kommission ist insgesamt eine extrem neoliberale Institution, und die Tatsache, dass sie in einzelnen Politik­feldern sinnvolle Dinge tut, sollte uns nicht daran hindern, andere Politik­konzepte zu entwickeln.

Was für Politikkonzepte?
Am Punkt, an dem wir stehen, scheint es mir vordringlich, dafür zu sorgen, dass erstens nicht noch destruktivere politische Kräfte an die Macht kommen; dass zweitens die ökonomische Krise sich nicht noch mehr verschärft; und dass drittens ein Raum geschaffen wird, in dem die progressiven Kräfte sich wieder sammeln und neu erfinden können, was es im 21. Jahr­hundert bedeutet, eine sozial­demokratische oder sozialistische Politik zu betreiben. Das sind eigentlich bescheidene Ziele, auch wenn sie heute sehr ehrgeizig erscheinen. Um sie zu erreichen, wird der Umgang mit Big Tech einer der strukturellen Faktoren sein, mit denen wir uns auseinander­setzen müssen. Wir sollten das heute machen, auch wenn wir keinen klaren Begriff haben von einer möglichen sozial­demokratischen Zukunft. Und wir sollten auch nicht aus den Augen verlieren, dass wir es, falls wir jetzt nicht handeln, mit noch viel schlimmeren, präfaschistischen Regierungen zu tun bekommen können. Ich habe den Eindruck, dass die Leute, die ständig darüber reden, dass die Technologie­konzerne mehr Steuern bezahlen müssten und schärferer Konkurrenz unterliegen sollten, die Grund­probleme gar nicht auf dem Radar haben. Sie glauben, das Problem liege nur darin, dass die neuen Technologien eine Reihe von spezifischen Schwierigkeiten mit sich bringen, die man lösen kann, und dann ist gut. Deshalb begnügen sie sich auch mit Technologiekritik.

Für Sie ist nicht die Technologie an sich das Problem?
Nein, ich bin überzeugt, dass uns die grossen Tech-Konzerne den Weg einer neuen industriellen Entwicklung gewiesen haben, so wie das General Motors in den 1920er-Jahren gemacht hat. Eine vollkommen digitalisierte Wirtschaft ist per se keine schlechte Sache. Die Frage ist nur, ob wir imstande sein werden, uns eine nicht rein privat­wirtschaftliche Version dieser neuen Welt vorzustellen, und mit welcher politischen Agenda sie sich durchsetzen lässt. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Wenn Sie sagen, Facebook hat zu viel Marktmacht, und statt eines Facebook soll es künftig 25 Facebooks geben, mag das vernünftig sein. Aber die Frage ist, wo Sie das Problem verorten. Wenn Sie wie ich glauben, das Problem liege darin, dass immer grössere Bereiche unserer alltäglichen politischen und ökonomischen Existenz von einer Art Start-up-Ethos bestimmt werden – dann ist es keine Lösung, aus einem Start-up 25 Start-ups zu machen. Dann stellt sich die Frage: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um mit der digitalen Infrastruktur neue Formen der kollektiven Organisation zu schaffen, also in etwa das, was ich den markt-sozialen Betrieb nenne?

Was heisst das konkret? Um noch einmal auf die Eigentums­rechte an Daten zurückzukommen: Sollten demnach unsere Daten als kollektives, öffentliches Gut betrachtet und also der Verfügungs­gewalt der Tech-Firmen entzogen werden?
Ja, Daten sollten gemeinschaftlich verwaltet werden, sie sind ein öffentliches Gut, über das gemeinschaftliches Verfügungs­recht bestehen sollte. Beispielsweise sollten die Bewohner einer Nachbarschaft oder die Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe alle auf bestimmte Daten Zugriff haben. Aber was ich hier predige, ist natürlich eine sozial­demokratische oder sozialistische Vorstellung der kollektiven Nutzung von Daten. Sie entspricht nicht dem heutigen Common Sense. Letztlich geht es bei der Frage, wer über Daten verfügen soll, immer um die zugrunde liegende politische Vision.

Sie selber haben aber auch ein rein «technisches» Argument geliefert, weshalb Daten Gemeingut sein sollten: Ihr Wert nimmt zu, je grösser der Pool ist. Das heisst, eine optimale Daten­auswertung kann eigentlich nur von einem Monopolisten vorgenommen werden, der über extrem viele Daten verfügt (die Google-Variante), oder von einer öffentlichen Institution.
Das ist richtig, aber auch dieses Argument basiert auf der Voraussetzung, dass wir den Wert von Daten maximieren und im öffentlichen Interesse handeln wollen. Für einen Tech-Unternehmer ist das kein zwingender Bestandteil seiner Motive.

Aber der durchschnittliche Unternehmer würde doch in Anspruch nehmen, dass die Markt­konkurrenz längerfristig die auch für die Allgemeinheit besten Lösungen hervorbringt. Sie dagegen sagen: Im Bereich von Big Data wird der Markt zwangsläufig entweder zu erdrückenden Monopolen oder zu schlechten Lösungen führen.
Alle diese Debatten kann man führen. Doch das Problem liegt an anderer Stelle. Ich komme gerade aus Berlin, wo ich an einer grossen Konferenz über digitalen Kapitalismus geredet habe, die von der SPD organisiert worden ist – oder vielmehr von dem, was von ihr noch übrig geblieben ist. Es gibt sicher viele deutsche Verwaltungs­juristen oder Politiker, die das Argument, das Sie eben entwickelten, auch vertreten würden. Aber die politische Kraft, die so eine Politik durchsetzen sollte, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein Zombie. Ich glaube, wir müssen unsere Prioritäten weise setzen. Das Dümmste, was man machen kann, ist, Konzepte zu entwickeln, die ohnehin nicht umgesetzt werden können.

Gegen die öffentliche, kollektive Verfügungs­gewalt, was die persönlichen Daten der Bürger betrifft, gibt es ohnehin grosse Widerstände. Das riecht sofort nach staatlicher Überwachung. Auch Sie sprechen sich gegen staatliche Hoheit über grosse Daten­mengen aus und sagen, es ist keine gute Idee, Google die Daten wegzunehmen und sie stattdessen der NSA zu geben.
Die NSA hat schon heute alles, was Google hat. Das wäre eine überflüssige Verschiebung.

Aber es würde trotzdem einen Unterschied machen, wenn die amerikanische Regierung die offizielle Verfügungs­gewalt hätte. Sie schlagen stattdessen vor, dass kleinere Gebiets­körperschaften die Hoheit über die Daten der Bürger haben sollten, Städte oder Kommunen. Denken Sie wirklich, das wäre weniger problematisch?
Schauen Sie sich den Status quo an: Was könnte schlimmer sein, als dass Facebook unsere Daten kontrolliert? Es mag sein, dass es starke Widerstände gibt gegen den Vorschlag, öffentliche Institutionen die Kontrolle über unsere Daten ausüben zu lassen, obwohl ich mir da gar nicht so sicher bin. Es ist einfach nicht so, als ob wir die Option hätten, Daten irgendwohin wegsperren zu lassen mit der Garantie, dass niemand sie je benutzen wird. Die reale Alternative ist, dass unsere Daten in hundert­tausend Kanäle abfliessen und dass jeder, der nur ein bisschen dafür ausgerüstet ist, sie sich schnappen kann.

Und am besten wären sie aufgehoben bei Städten und Gemeinden?
Ja, ich denke, das würde Sinn machen, weil man irgendwo anfangen muss, neue politische Alternativen zu konstruieren. Auf kommunaler Ebene kann man Prototypen sozialer Organisation schaffen, die den Leuten aufzeigen, was alles möglich ist. Die Sozial­demokratie kann sich nicht damit begnügen noch einmal fünfzig Jahre lang dieselben Argumente zu wiederholen, weshalb wir den Sozial­staat nicht abbauen dürfen, sondern sie muss neue Institutionen, neue Praktiken, neue Infra­strukturen der kollektiven Verwaltung schaffen. In einem weiteren Schritt kann man das dann gegebenen­falls auf national­staatlicher Ebene replizieren. So ist vor über hundert Jahren die europäische Sozial­demokratie zu einer Macht geworden. Sie hat auf kommunaler Ebene soziale Leistungen erbracht: Bei der Gas- und Elektrizitäts­versorgung, im Gesundheits­wesen, im Wohnungs­bau. Das schuf die Grund­lagen, auf denen der Sozial­staat errichtet werden konnte.

Können Sie Städte mit vielversprechenden Digital­strategien nennen?
Barcelona ist ein Beispiel, das ich recht gut kenne, weil meine Frau bis vergangenen Juli für die Daten- und Technologie­strategie zuständig war. Aber auch eine Stadt wie Berlin hat ein IT-Budget von 600 Millionen Euro. Das ist ziemlich viel Geld. Damit kann man viele interessante Dinge tun.

Wie könnten solche Strategien aussehen?
«Decode» zum Beispiel, ein Pilot­projekt, das Barcelona gemeinsam mit Amsterdam auf die Beine gestellt hat, verfolgt zwei Ziele: Einerseits sollen die Bürger die volle Kontrolle über ihre persönlichen Daten zurück­erhalten, und andererseits sollen sie die Möglichkeit bekommen, ihre Daten auf freiwilliger Basis mit der Stadt­verwaltung zu teilen, damit diese ihre Dienst­leistungen verbessern kann. Ein anderes Beispiel: Amsterdam hat ein Projekt gegen Airbnb lanciert, weil immer mehr Bewohner von Airbnb-Wohnungen verdrängt wurden. Die Gemeinde hat die nötigen Daten kompiliert, um sich ein Bild zu machen, welche Wohn­einheiten für Kurz­vermietungen benutzt werden, und hat die Kontrollen verschärft. Das funktioniert recht gut.

Und mit solchen Projekten wird erprobt, wie eine sozial­demokratische Daten­infrastruktur aussehen kann?
Mehr ist im Moment nicht möglich. Wir können Prototypen auf der Ebene der Städte schaffen, um sie später hochzuskalieren, auf nationales oder europäisches Niveau. Das wird nicht einfach werden, wenn man die Rangeleien zwischen den EU-Mitglieds­staaten bedenkt. Ich glaube zwar nicht, dass es unüberwindbare Hindernisse gäbe, aber ich sehe momentan niemanden, der sich dafür einsetzen würde. Das wird sich nicht ändern, solange die Zombie-Kräfte der Sozial­demokratie nicht begriffen haben, dass es ihre einzige Chance ist. Die Sozial­demokratie muss sich rekonstituieren mit einer Vision der digitalen Gesellschaft. Wenn sie das nicht schafft, sieht die Zukunft düster aus.