Serie «Mein Vater, der Gangster» – Teil 3

Die Beerdigung von Yens erschossenem Vater Dung. Privatarchiv

Die Leiche im Porsche

Selbst Babys wurden malträtiert, um an das Geld der Opfer zu kommen: Ein Ex-Polizist schildert die Brutalität der Gang von Yens Vater. Was weiss Tante Evelyn, die Frau seines Bruders? Plötzlich taucht während der Spuren­suche ein schlimmer Verdacht auf. Teil 3 der Serie «Mein Vater, der Gangster».

Von Renato Beck, 27.12.2019

11. Liestal, Sommer 2019

«Du willst die Briefe sehen? Ich zeige dir die Briefe.»

Yens Mutter zieht einen Plastik­sack aus der Wohnwand und schüttet mit einer energischen Bewegung den Inhalt heraus. Dutzende Briefe fallen aus der Tüte und segeln auf den Teppich­boden der kleinen Erdgeschoss­wohnung in einer Siedlung in Liestal Altmarkt.

Es sind Briefe, die Dung mehrheitlich zu jener Zeit verschickt hat, als er im Gefängnis sass, rund vier Jahre nach der Trennung von Linh. Auf einem Umschlag ist eine feine, präzise Bleistift­zeichnung zu sehen. Eine Frau und ein Mann, asiatische Gesichts­züge. Die Frau weint. Absender: California Institution for Men, Chino CA. Ich gebe Yen den Brief, sie legt ihn beiseite: «Ich kann kein Vietnamesisch lesen.» Was wohl drinsteht?

Serie «Mein Vater, der Gangster»

In den 1980er-Jahren betreibt eine vietnamesische Gang in Kalifornien brutale Geschäfte. Zu den Draht­ziehern gehören die Brüder Dung und Hung, die 1979 als Flüchtlinge in den USA gelandet sind. 1990 wird Dung erschossen, bald darauf auch Hung. 30 Jahre später will Dungs Tochter Yen, die mit ihrer Familie in Basel lebt, heraus­finden, wer ihr Vater war. Und wer ihn getötet hat. (Einige der Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeits­schutzes geändert.)

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Die Leiche im Porsche

Teil 4

Bis keiner mehr da war

Ich sammle die Briefe auf, stecke sie zurück in den Plastiksack. Sehe mir die Wohnwand an mit den Bildern von ihr und ihm. Yens Mutter und Yens Vater, er mal in Gangster­pose, mal als Playboy. Es ist ihr Schrein, ihr Gedenkort an die intensive kurze Zeit zusammen. Sie hat ihn nie hinter sich gelassen, obwohl sie so weit weg von ihm war.

Die Briefe von Yens Vater aus dem Gefängnis. Privatarchiv
Der Schrein von Yens Mutter. Privatarchiv

Sie arbeitete Schicht in der Fabrik, als sie die Nachricht seines Todes erhielt: Dung, ihr Ex-Mann, ist tot. Sie schickten ihr eine Video­kassette von der Bestattung. Vielleicht zweihundert Leute, die ihm die letzte Ehre erweisen, sein Sarg wird im weissen Porsche Carrera Cabriolet vorgefahren. Seine Freundin Olivia ist im Film zu sehen, eine schöne junge, aufgewühlt wirkende Frau mit weisser Schleife im Haar. Sie trägt Jules in den Armen, den gemeinsamen Sohn und Yens Halbbruder. Der Knirps erkennt seinen Vater im offenen Sarg, freut sich und will sein Gesicht anfassen. Es sind schwierige Bilder.

Yens Mutter Linh taumelt. Sie geht weg, für eine lange Zeit, und vertraut ihre kleine Tochter den Geschwistern an, Yens Onkel, Tante und der Grossmutter. Linh kommt manchmal zu Besuch an den Wochenenden, aber schnell wird ihr alles zu viel. Sie erholt sich nie mehr vom Schock und ist bis heute auf Medikamente angewiesen. So hat Dung nicht nur sein eigenes, sondern auch ihr Leben zerstört. Hat sie mit in die Tiefe gerissen, als er fiel. Das denkt sie manchmal und sagt mir dann: «Er war nicht gut, weisst du? Es macht mir nichts, dass er tot ist. Hörst du?»

Wir blättern durch ein altes Fotoalbum, das griffbereit im Regal liegt. Linh ist sichtbar erregt, obwohl die ganze Geschichte bald dreissig Jahre her ist. Sie steht vom Tisch auf, kommt zurück ans Album, tigert durch die enge Stube, kommentiert hastig die Bilder, fasst sich in die Haare. Es tut ihr nicht gut, darüber nachzudenken, sagt mir Yen leise. Ich stelle keine Fragen mehr. Yen hat Angst, dass unsere Recherche etwas in ihr ausbrechen lässt, was sie in jahrelanger Arbeit stillgelegt hat.

Von unserer Reise in die USA darf sie nichts erfahren.

12. Chino Hills, Juli 2019

Anfahren, beschleunigen, anhalten: Wir schieben uns auf dem Orange Freeway, der einer verstopften Blutbahn gleich den gewaltigen Verkehr durch die endlose Agglomeration von Los Angeles pumpt, in Richtung Norden. Wir streifen die Städte der Asiaten und der Latinos, fahren schliesslich durch den Carbon Canyon und dann hoch nach Chino Hills. Dort, am Rande eines Golfplatzes, lebt in einer stattlichen Villa ein Mann namens Al Valdez.

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Los Angeles

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Orange

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Westminster

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Santa Ana

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Los Angeles

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Orange

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Westminster

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Santa Ana

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1 San Marino: Treffen mit Amy und Olivia, der Mutter von Dung Duongs zweitem Kind 2 Chino Hills, der Wohnort des Ex-Polizisten und Gang-Experten Al Valdez 3 Little Saigon 4 Holiday Inn, das Hotel von Yen Duong und Renato Beck 5 Melrose-Abbey-Friedhof, wo Dung begraben ist und ein bislang ungeklärter Mordanschlag geschah 6 Anchor Street, der Wohnort von Oma Duong


Valdez ist Ex-Cop, Ex-Staatsanwalt und derzeit Professor an der University of California in L.A. mit dem Fachgebiet Gang­kriminalität. Valdez weiss, was Gangs attraktiv macht: Er ist als Kind von mexikanischen Einwanderern in ärmlichen Verhältnissen in Nord­kalifornien aufgewachsen. Doch statt den Verlockungen des Ganglebens nachzugeben, hat Valdez als Kind Tomaten gepflückt und als Jugendlicher in einem Supermarkt geputzt – er hat, seit er 13 Jahre alt ist, sein eigenes Geld verdient.

Dieser Al Valdez versuchte viele Jahre später, als Staats­anwalt den Mord an Yens Onkel, Gangleader Hung Duong, aufzuklären.

Valdez kennt die Strassen von Little Saigon, er hat jahrelang auf ihnen patrouilliert. Er hat junge Mädchen ihren Vätern zurück­gebracht und ihnen im Gegenzug die Bambus­stöcke abgenommen, mit denen sie ihre entlaufenen Töchter züchtigen wollten. Er hat seine Kollegen gebeten, die Schuhe auszuziehen, bevor sie die Häuser der Vietnamesen betraten. Hat neue Ordnung und überlieferte Lebens­weise in Balance zu bringen versucht. Weil er wusste, dass die Polizei das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen muss, wenn sie Verbrechen bekämpfen will. «Das weisse Amerika verstand nicht, was dort vor sich ging», sagt er. «In Vietnam war die Polizei korrupt und jede Behörde ebenfalls, deshalb vertrauten sie uns nicht.»

Al Valdez hat eine Reihe von Videos, Bildern und Polizei­berichten für uns herausgesucht (im Folgenden sind zwei dieser Videos zu sehen). Wir sitzen in seinem Wohnzimmer, an den Wänden hängen Bilder seiner Kinder in Militär­uniformen und Abschluss­roben. Er dreht seinen Computer zu Yen und spielt einen alten Newsbericht ab. «Ach du meine Güte, das habe ich noch nie gesehen. Das war mein Vater.» Im Bild ist die Leiche von Dung Duong zu sehen. «Gütiger Gott ...» Mordopfer sind zu sehen. Al zeigt auf mich: «Sie würden dich sofort töten, wenn sie es für notwendig hielten. Sie hatten keinen Respekt vor dem menschlichen Leben.»

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Was Hung Pho speziell gemacht habe, sagt Valdez, sei einerseits ihre Rücksichts­losigkeit gewesen. Damit habe sie sich unter der Konkurrenz rasch Respekt verschafft. Anderseits habe sich die Gang von Yens Familie in Richtung organisierte Kriminalität und weg von der Strasse entwickelt. Sie operierten in Karten­clubs und Casinos, wo sie Schutzgeld erpressten und die Gewinner beraubten, und sie schlossen sich in grossen kriminellen Netzwerken zusammen.

Doch das Kerngeschäft von Hung Pho, sagt Valdez, sei genauso banal und brutal gewesen wie das der anderen, der Natoma Boyz, der Orange Boyz, der V Boyz und wie sie und die Dutzenden weiteren ethnisch asiatischen Gangs in Süd­kalifornien hiessen: Es bestand aus Raub­überfällen, Auftrags­morden, Drogen­handel und vor allem Überfällen auf Wohnhäuser.

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«Die Dinge, die junge vietnamesische Kids während dieser Einbrüche getan haben, erschraken mich zu Tode», erzählt Valdez. «Sie nahmen ein Baby und tauchten es so lange mit dem Kopf in die Toilette, bis die Eltern ihnen verrieten, wo sie das Geld versteckt hatten. Sie schossen den Leuten ins Bein und traten auf die Wunde. Ich kümmerte mich um Fälle, wo sie einer 80-jährigen Frau das Gesicht mit einem heissen Bügel­eisen verbrannten, wo sie eine Tochter vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigten.»

Die Opfer dieser Verbrechen mieden die Polizei. «Die Gangs jagten ihnen eine höllische Angst ein», sagt Valdez. Dazu gesellte sich oft Scham darüber, Opfer geworden zu sein. Eltern schickten vergewaltigte Töchter nach Missouri und anderswohin, bloss weit weg von der eigenen Lebenswelt. «Die Opfer wurden von ihren Familien wie Scheisse behandelt», sagt Valdez.

Al Valdez spricht schnell, und er spricht viel. Er konfrontiert Yen mit seiner langen Erfahrung als Strafverfolger, und was er erzählt, hinterlässt Spuren bei ihr. Plötzlich wird faktisch, was vorher im Ungefähren lag. Yen sagt später, dass die Grausamkeit, mit der die Gang ihres Vater zu Werke ging, sie erschüttert habe. Genauso wie die Skrupel­losigkeit, mit der ihr Vater und seine beiden Brüder beseitigt wurden.

Die Schilderungen von Al Valdez sind eine Rückschau auf turbulente Zeiten. Die Gangs von einst hätten sich gewandelt, sie seien professioneller geworden, sagt Valdez. Es ist ruhiger geworden in Los Angeles, denn Gewalt stört das Geschäft. Und das brummt nach wie vor.

Auch die Rekrutierung neuer Mitglieder gestaltet sich heute schwieriger. Als die vietnamesischen Flüchtlinge nach Süd­kalifornien gelangten, trieben die Umstände den Gangs unbegrenzt Nachwuchs in die Arme. «In der Highschool wurden sie gemobbt, man machte sich über ihre Augen und ihre Lebens­weise lustig», sagt Valdez. Hinzu kam, dass die jungen Vietnamesen zu Hause traditionell erzogen wurden. Aber in der Schule sprachen sie Englisch, sie passten sich dem amerikanischen Lebensstil an. Das Resultat waren unlösbare Konflikte. Viele Kids rannten von zu Hause weg oder wurden von ihren Eltern vor die Tür gesetzt.

In die Ecke gedrängt, schlossen sich die jungen Vietnamesen in Gangs zusammen, die ihnen Schutz und Stärke boten. Bald suchten sie die Konfrontation mit den herrschenden Latinogangs – und sie gewannen sie, weil sie nicht vor Waffen­gebrauch zurück­schreckten. «Die ganze Gegend geriet in kürzester Zeit in einen Strudel aus Gang-Gewalt», sagt Valdez.

Hung Pho arbeitete daran eifrig mit, bis die Gang selber von diesem Strudel erfasst wurde. Auch das hat Valdez untersucht, als er, damals Staats­anwalt, mit der Aufklärung des Mordes an Yens Onkel Hung in Oakland oben betraut wurde.

Der Fall landete, wie so viele, ungelöst bei den Akten. Doch Valdez hatte eine These: dass Mitglieder der Triade Wo Hop To hinter dem Mord steckten. Beweise fand er keine, Zeugen schwiegen oder verschwanden. In der vietnamesischen Diaspora löste man seine Probleme selber – oder gar nicht.

13. Daly City, Juli 2019

Dieses Bild habe ich noch vor Augen. Wie deine Oma am Küchentisch im Haus in Anaheim sitzt und das Geld zählt, das auf dem Tisch aufgetürmt ist.

Erinnerung von Tante Evelyn.

Fruchtlose Tage in Daly City, einer Stadt südlich von San Francisco. Wir sind zu Gast bei Yens Tante Evelyn. Morgens und abends drückt der Nebel aus der Bucht über die kleine Hügel­kette, auf der die Wohnhäuser von Daly City aufgereiht sind. In ihnen leben asiatische Immigranten, die es zu ein bisschen Wohlstand gebracht haben. Fast das ganze Haus ist mit einem parfümierten, flauschigen Teppich in blassrosa Farbe belegt, der die Schritte dämpft – und die Erinnerungen auch.

Trauergäste an der Beerdigung von Dung Duong. Privatarchiv

Tante Evelyn wollte erzählen. Das hat sie uns am Telefon vor unserer Reise versprochen. Vom Leben von Yens Vater und von der Gang. Vom Schmerz und von der Ohnmacht. Sie war die Frau des Bruders und Anführers Hung, hat einen gemeinsamen Sohn, der seinen Vater nie kennenlernen konnte. Er hat gerade das Studium beendet und verdient viel Geld als Software-Entwickler. Ein freundlicher, höflicher, fleissiger junger Mann mit hohen Karriere­zielen. Er hat sich vor kurzem das Tattoo seines Vaters stechen lassen: das Segel­schiff aus Haiphong. Er trägt es auf dem Rücken, nicht auf der Brust wie die Gang, weil es ein Teil seiner Geschichte ist und nicht seiner Zukunft.

Immer wieder versuchen wir, mit Evelyn über die alte Zeit zu sprechen. Jedes Mal füllen Tränen ihre Augen, und sie bricht nach wenigen Sätzen ab. Manchmal erzählt sie ein bisschen. Dass Yens Vater die falschen Freunde hatte, dass er ein Maulheld war und viele Mädchen hatte. Dass sie selber nichts wusste, weil Hung sie aus allem raushielt. Einmal, als ich sie dränge, sagt sie, sie könne nur ein paar Minuten am Stück drüber sprechen, weil sonst alles hochkomme und sie Angst habe, darin zu ertrinken.

Als ihr Mann Hung 1991 ein halbes Jahr nach dem Tod von Yens Vater ermordet wurde, war Evelyn im vierten Monat schwanger. Mitglieder einer anderen Gang hatten ihn aus dem Lift eines Nachtclubs in San Francisco gezerrt. Sie verschleppten ihn, folterten ihn vier Tage lang und warfen seine Leiche in ein Waldstück am Rande von Oakland. Eine Therapie hat Evelyn nie gemacht: «Ich musste für meine Kinder da sein.»

So verstreichen die Tage in Daly City. Evelyn arbeitet bis spät in einem nahen Casino zum Mindest­lohn an einem Karten­tisch. Wir besuchen derweil den Tatort in Oakland auf der anderen Seite der Bucht. Streifen durch Oaklands Chinatown, wo man als Fremder sorgfältig gemustert wird. Hierher war Yens Vater Dung gegangen, nachdem er seine Zeit abgesessen hatte. Hier war er ein paar Wochen nach seiner Ankunft erschossen worden. Wir suchen in der Bibliothek nach alten Zeitungs­artikeln, spulen uns durch Mikro­filme alter Ausgaben der «Oakland Tribune». Finden Meldungen. Yen saugt alles auf.

Wir fahren hoch zum Highland Hospital, wohin ihr Vater nach der Schiesserei im Restaurant gebracht wurde. Um 2 Uhr morgens war auf ihn geschossen worden, um 2.49 Uhr stellten sie im emergency room des Spitals seinen Tod fest. So stand es in der «Oakland Tribune». Wir fahren langsam um den Spital­komplex herum. «Halt an.» Yen schaut sich die Auffahrt zum Notfall an. Sie hat Bilder im Kopf, sieht, wie die Ambulanz vorfährt, die Tür aufgerissen wird, wie ihr Vater aus dem Auto gehievt wird. Die Sirenen, die Rufe, dann die Stille, als klar ist, dass nichts mehr zu retten ist.

Zurück in Tante Evelyns Haus bei San Francisco, erreicht uns die E-Mail eines Polizisten aus Anaheim, mit dem wir in Kontakt stehen. Er schreibt uns: Evelyn, die Frau, die uns so freundlich einquartiert hat, stehe unter Verdacht, einen Doppel­mord angeordnet zu haben. Exakt ein Jahr nach dem Mord an ihrem Mann Hung ereignete sich auf dem Friedhof von Anaheim, dem Melrose Abbey Memorial Park & Mortuary, eine Hinrichtung, welche die gewalt­erprobte vietnamesische Community verstörte. Die «Los Angeles Times» beschreibt die Vorgänge detailliert:

  • Zwei Vietnamesen wurden am 19. März 1992 um 16.50 Uhr erschossen, als sie vor den Grabplatten von Yens Onkel Hung und ihrem Vater Dung knieten.

  • Die beiden auffällig tätowierten Männer (26 und 41) wurden von einem Trio getötet, das unmittelbar nach der Tat in einem schwarzen BMW floh.

  • Die Mutter der dort begrabenen Brüder (Yens Oma) sagte aus, die beiden Opfer seien Freunde ihrer beiden Söhne aus San Francisco gewesen.

  • Die Täter hätten den Friedhof ein paar Stunden vor den Morden ausgekundschaftet. Dann, kurz vor den Schüssen, habe eine Frau den Friedhofs­wärter in ein Gespräch verwickelt. Genau in diesem Moment habe ein Mann auf die beiden knienden Männer geschossen. Eines der Opfer habe sich nochmals aufgerichtet, sei dann mitten aufs Grab von Yens Vater gefallen. Der Schütze habe dabei sein ganzes Magazin entleert.

Der Doppelmord wird nie aufgeklärt. Aber unser Kontakt­mann bei der Polizei von Anaheim war nahe dran. 2011 öffnete er den Fall wieder, nachdem ein ehemaliger Hung-Pho-Gangster ausgepackt hatte. Der Mann, der in einem Bundes­gefängnis in New York eine lebenslange Haftstrafe verbüsst, entging im Austausch gegen Informationen der Todesstrafe. Er lieferte der Polizei sechs Namen. Fünf davon, stellte sich schnell heraus, gehörten Männern, die längst tot waren. Die sechste Person konnten sie nie identifizieren. Aber der Cop sagt: «Wir glauben, dass es Hungs Frau war.»

Tante Evelyn?

Der Polizist besuchte den verhafteten Gangster in New York, und dieser erzählte ihm, dass der Friedhofs­mord eine Abrechnung gewesen sei. Ein Racheakt für den Mord an Yens Onkel Hung. Die beiden exekutierten Vietnamesen seien selber Mitglieder von Hung Pho gewesen. Sie hätten Yens Onkel in San Francisco von Komplizen verschwinden lassen, um sein Casino­geschäft zu übernehmen, sollen also Verräter gewesen sein. Zum Jahrestag der Ermordung seien die beiden Männer nach Anaheim an die Gräber gelockt worden, und dort schlug die Familie zu. Loyale Gangmitglieder verpassten ihnen ein paar Kugeln und sorgten dafür, dass ihr Blut dort in die Erde sickerte, wo ihre einstigen Anführer begraben lagen.

Yen will ihre Tante dazu befragen. Fragt: Was geschah auf dem Friedhof, Tante Evelyn?

«Ich weiss es nicht. Das ist alles so lange her … Wollen wir jetzt Sushi essen gehen, oder wollt ihr hier etwas essen?»

Wir reisen ab, die Fragen bleiben in unseren Köpfen. Yen wollte ihre Tante unbedingt sehen. Sie hatte sie als eine lebensfrohe, offene Person in Erinnerung. Von ihr versprach sie sich nicht weniger als die Klärung all der Rätsel in ihrer düsteren Familien­geschichte. Nichts von alldem stellte sich ein. Wir waren verwirrt und enttäuscht. Niemand lässt uns an den Erinnerungen teilhaben, niemand sagt die Wahrheit, niemand will Yen erzählen, wer ihr Vater wirklich war und weshalb er sterben musste.

Wir können nachvollziehen, warum sich niemand öffnet. Keine Stunde vergehe, sagt Yens Oma einmal, ohne dass sie nicht an ihre Söhne denke. Auf den Friedhof, keine hundert Meter von ihrem Haus entfernt, geht sie nicht mehr, weil sie den Anblick der Gräber nicht erträgt. Stattdessen pflegt sie ihren Schrein, der mitten im Haus steht und dieses in eine Totengruft verwandelt. Die Mangos sind immer frisch, die Blumen sind immer frisch, der Schmerz ist immer frisch. Nichts von dieser Geschichte ist verarbeitet, alles nur ein Fingernagel­kratzer von der Oberfläche entfernt.

Seit dreissig Jahren ringen die Mitglieder der Familie Duong mit sich selber, um die fürchterlichen Ereignisse vergessen zu machen und die Ordnung in ihren Seelen und Köpfen wieder­herzustellen. Sie, die Überlebenden und deren Kinder und Kindes­kinder, unterhalten ja eine relativ normale Existenz. Sie wohnen nahe beieinander, treffen sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Lunch oder Barbecue. Sie führen ein Familien­leben, das sie nur leben können, weil keiner darüber spricht, was passiert ist und wer daran Schuld trägt. Und jetzt will Yen Duong, Tochter des verstorbenen Lebemanns Dung Duong und ihrer Mutter Linh Duong, der Frau, die von dieser Familie und diesem Leben davon­gerannt ist, dass sie sich die Brust aufreissen und die schmerzhaften Erinnerungen herauszerren?

Es war naiv, daran zu glauben. Für Yen ist diese Reise existenzieller Drang. Für die Familie ist sie Sühne, Wieder­gutmachung für ein trauriges Seiten­kapitel in diesem Epos: dass sie ohne Vater aufwachsen musste.

Doch nicht mehr lange, und wir würden erkennen, würden verstehen.

Zuallererst die Gesetz­mässigkeiten in diesem Milieu: Unrecht begegnest du mit Unrecht. Schuld mit Schuld. Mord mit Mord. Auf diese Weise, das sollte bald klar werden, hat sich die Familie Duong in den Abgrund gerissen.

«Mein Vater, der Gangster» – wie es weitergeht

Kann Olivia, die Freundin von Yens Vater, die Rätsel seines Todes lösen und die Tochter zu seinem Mörder führen? Die Spuren­suche bringt Einblicke in das Leben ihres Vaters, wie er war, wer er sein wollte – und wieso das alles tragisch endete.

Serie «Mein Vater, der Gangster»

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Die Leiche im Porsche

Teil 4

Bis keiner mehr da war