Liebes Christkind, bitte bring mir mein Morgenland zurück
Wütende Europäer wollen das Abendland retten. Unser Autor hingegen sorgt sich um den Orient, dessen Düfte, Geschmäcker und Bilder zur Weihnachtszeit seiner Kindheit gehörten.
Von Michael Rüegg, 24.12.2019
Da ist das Bienenwachs der selbst gezogenen Kerzen, an denen ich stundenlang meine kleine Nase reiben konnte. Das Knistern der Tannenreiser, wenn ich sie, wenn niemand mich beobachtete, über die Flamme der Kerze hielt. Die Nadeln brannten kurz, dann verglühten sie, entliessen ihre ätherischen Öle in die Luft und zerfielen zu grauem Pulver.
Da ist das Krachen der Mandelschalen, wenn Mutter mit beiden Händen und angestrengtem Gesichtsausdruck den Nussknacker zusammenpresste. Und wenn man den Kern vorsichtig mit den Schaufeln auseinanderbrach, konnte man mit der Zunge über die zarteste aller Oberflächen fahren, die jede Mandel wie ihr Geheimnis hütet.
Und dann ist da die samtene Süsse der Datteln auf der Zunge, die irgendwo an Palmen gewachsen sein mussten, in einer Oase, mit Blick auf einen endlosen Horizont aus Sandwüste.
Die Erinnerungen sind die sinnlichsten meiner gesamten Kindheit. Geschmäcker, Düfte und Klänge, Bilder, durch die eigenen Augen wahrgenommen oder erst im Kopf gemalt. Selbst der schrecklichste grossstädtische Blingbling-Festtagskommerz kann sie nicht vom Thron stossen.
Sie schaffen eine Geborgenheit.
Ein Gefühl von Herkunft.
Doch dieser Ort, an dem Weihnachten ist – der liegt nicht in der Wohnung meiner Kindheit. Nicht zu Füssen des Plastikengels, der immer auf die Spitze des Christbaums musste, weil dort sein Platz war.
Weihnachten liegt irgendwo zwischen dieser und einer anderen Welt.
Weihnachten ist im Osten, nicht im Westen
Der Advent war stets die Zeit, zu der exotische Dinge auf dem Tisch landeten. Mandarinen aus Gegenden, wo bis spät in den Herbst die Sonne den Boden erwärmte. Getrocknete Feigen, übers Meer transportiert. Als die ersten Kiwis in den Supermärkten auslagen, tauchten sie in Omas Heiligabend-Fruchtsalat auf. Gierig stritten wir uns um die grünen Stücklein. Und Tante Elsa, die in der Wohnung nebenan die «Tagesschau» noch immer in Schwarzweiss schaute, schnappte sich besonders viel Kiwi, weil die ja Vitamine enthielt und sie diese als Älteste am Tisch dringender als alle anderen brauchte. (Sie starb dann trotz Vitaminen recht bald.)
Und dann waren da eben die Datteln, die so anders als alles andere schmeckten, die zusammen mit den Gewürzen in Lebkuchen und Guetsli meinen weihnachtlichen Sehnsuchtsort repräsentierten: das Morgenland. (Aus europäischer Perspektive betrachtet, beginnt es irgendwo hinter Zypern.)
Dieses Morgenland, weit weg von hier, dem ich mich aber im Advent immer so nah fühlte. In dem dieses Kindlein geboren sei, von dem man sang, im Stall zu Bethlehem, unter den Blicken von Ochs und Esel, unter einem Stern mit Schweif am Firmament, himmlischen Heerscharen und derlei. Und die Leute in diesen Bildern, die Szenen aus Galiläa zeigten, trugen keine Hosen, sondern lange Gewänder und vielleicht sogar keine Unterwäsche. Dafür Bärte, als sie hier noch nicht Mode waren, ausser bei Förstern.
Die Festtagszeit schlug eine Brücke zwischen dem Hier und dem Dort. Weihnachten, dieser Cocktail aus alten heidnischen Bräuchen und dem Entstehungsmythos des Christentums, vermochte zwei gegensätzliche Welten zu einer zu verschmelzen.
In meiner Naivität dachte ich: Das ist aber nett von den Leuten im Orient, dass sie ihre Datteln nicht alle selber essen, sondern mit uns teilen. Weihnachten war in meinem Kopf so etwas wie ein völkerverbindendes Gemeinschaftsprojekt. Wie falsch ich lag, merkte ich erst mit den Jahren.
Das «Abendland» ist ein Kulturimport
Noch immer wird der christliche Glaube von vielen als das kulturelle Fundament Europas angesehen. Dabei dürfte auch der bibeltreuesten Mitdenkerin klar sein, dass die europäischen Kulturen ein Mix aus römischen, keltischen, germanischen, slawischen und noch älteren Traditionen sind, aufgepimpt mit lokalen Eigenheiten, viele Hunderte, Tausende Jahre alt. Doch ausgerechnet das, was wir als gemeinsamen Nenner betrachten und lapidar «christlich-abendländisch» nennen, ist eine Erfindung des Nahen Ostens: der Monotheismus.
Das Christentum – eine orientalische jüdische Sekte, die sich dank ihrer Flexibilität besonders gut zum Instrument der Herrschaft und Unterdrückung entwickeln liess.
Zugegeben, von solcherlei Gedanken war ich als Kind noch weit weg.
Natürlich war das Morgenland in meinem Kinderkopf nur eine romantische Projektion, wie sie in Europa während Hunderten Jahren gemalt worden war. Darin hatten der stolze (Kopftuch tragende) Krieger auf dem Araberhengst und die parfümgeschwängerte Haremsluft ihren Platz, als ob Karl May persönlich in meinem Hirn hocken und die Szenen diktieren würde. Da schlurften Kamele über den Sand, hingen mit Edelsteinen verzierte Krummdolche an den Gürteln der Leute, die auf dem Basar an riesigen Körben mit bunten Gewürzen vorbeispazierten. Womöglich tanzte auch noch irgendwo eine Kobra zur Flöte.
Ja, das Morgenland war in meinem Kinderkopf ein etwas kitschiger Ort. Aber ein friedlicher. Einer, an dem Mani Matters Sidi Abdel Assar aus El-Hama halt nur die Zweitschönste abbekommt, weil er zu wenig Kamele auf dem Konto hat.
«We Three Kings of Orient Are» gehört zu den Weihnachtsliedern, bei denen mein Hirn wohl wie ein Christbaum funkeln würde, wenn man sie mir während eines MRI abspielen würde. Und als Annie Lennox ihr Album «A Christmas Cornucopia» auf den Markt brachte, konnte ich stundenlang ihr «God Rest Ye Merry Gentleman» hören, das sie mit levantinischen Klängen unterlegt hatte.
Traumwelt, im Schrecken ertrunken
Jedes Klischee droht irgendwann zu implodieren. Mein Geografielehrer im Gymnasium, zum Beispiel, erlebte seine persönliche definitive Entzauberung des Morgenlandes auf einer Reise nach Oman. Auf dem Basar hatte er eine so wert- wie geheimnisvolle Parfümessenz erfeilscht. Später, am Flughafen von Muscat, traf er auf den Vertreter der Firma Givaudan, der ihm berichtete, dass er die lokalen Parfümproduzenten mit Aromen aus der Fabrik in Dübendorf beliefere.
Meine eigene Entmystifizierung des Orients ist banaler, aber brutaler. Mein Morgenland wurde von der Realität der täglichen Nachrichten gemeuchelt. Es ist längst aus meinem Kopf wegkonditioniert.
Die Traumwelt ist tot. Die Kamele, Gewürzberge und Edelsteine sind ethnischen und religiösen Konflikten gewichen: Kriegen, Mörsereinschlägen, Enthauptungen, Entführungen, Vergewaltigungen, explodierenden Krankenhäusern, Sprengstoffgürteln, Raketenangriffen und Hasspredigten.
Blutflecken auf Strassen, skandierenden Männern mit langen Bärten, Kalaschnikows, Boden-Luft-Raketen, Checkpoints mit Sandsäcken, Steinigungen, Scharfschützen, Drohnen, verschleierten Frauen auf Plakaten, prügelnden Soldaten. Übrig geblieben ist im besten Fall ein fetter Scheich mit goldener Uhr am Handgelenk, der sich auf einer Waffenmesse mechanisierte Infanterie vorführen lässt.
Das Morgenland meiner Kindheit ist zu einer Brutstätte eines bedrohlichen Terrorismus umgedeutet worden. Zum Hort einer feindlichen Religion und zur Quelle von Flüchtlingsfluten, die sich in der Wahrnehmung vieler Miteuropäer über «unseren» Kontinent ergiessen, um hier mittels Minarettbau und Gesichtsverschleierung «unsere» Kultur zu vernichten, wenn möglich noch vor dem Frühstück.
Angesichts dieser mantraartig wiederholten Bedrohungsbilder musste das Abendland geradezu auferstehen, in Form von Pegida-Anhängern, die sich auf den Strassen Dresdens ihre Kehlen wund schreien im Versuch, der Welt mitzuteilen, wer denn nun eigentlich das Volk ist. Gräben wurden ausgehoben, und Mauern wuchsen in die Höhe. Zuerst nur in den Köpfen. Später nicht nur in den Köpfen. Und während die Datteln noch immer übers Meer fahren durften, sollten die Menschen an ihrem Ufer bleiben.
Es scheint, als ob das Morgenland, das einst für mich mehr Weihnachten bedeutet hatte als jeder Hollywood-Santa-Claus – dass dieses Morgenland ausradiert worden ist. Einst standen die Türken vor Wien, Jahrhunderte davor hatten die Kreuzritter Jerusalem erobert. Heute gilt: Jeder hat zu bleiben, wo er ist. Ausnahmen sind Badeferien am Roten Meer oder Bildungsreisen auf der Arabischen Halbinsel.
Neben Konflikten hat nichts mehr Platz
Der Nahe und der Mittlere Osten (die sich je nach Definition stark überlappen), Wiege grosser Zivilisationen, sind vor langer Zeit zum Zankapfel der Weltmächte geworden. Dort, wo die ersten Gesetze niedergeschrieben worden sind, scheint nur noch das Gesetz des Stärkeren zu herrschen. Und in Europa macht man gedanklich gerne einen Bogen um diesen geopolitischen gordischen Knoten. Ist ja alles versucht worden. Hat ja nichts gebracht. Soll die nächste Generation, sofern sie überlebt.
Auch Bilder von Krieg und Verderben sind mehrheitlich eine Projektion, genau wie der romantische Orient. Sie erhalten in der Berichterstattung so viel Raum, weil sie schreckliche Dinge zeigen. Dass vielerorts im Nahen Osten Normalität herrscht, durchschnittliche Menschen vielleicht geringere Reichtümer anhäufen als in Zentraleuropa und da und dort gelegentlich der Strom ausfällt, sie aber beim Tee genauso übers Wetter jammern und über die Nachbarn lästern wie wir, davon sehen wir am Fernseher nichts. Die meisten Nachrichten über Nahost könnte man getrost mit Archivaufnahmen bebildern. Eh immer dasselbe. Geliefert werden News, und das sind nun einmal die Schreckensnachrichten.
Und nicht Berichte über die Dattelernte. Es sei denn, sie fällt besonders schlecht aus und die Preise steigen.
Wie ich es vermisse, das Morgenland in meinem Kopf. Man mag das als sentimentales Geschwätz abtun. Als kindliche Idealisierung und dumme Klischierung. Ist es nicht doch mehr als das?
Ein funkelnder Funke Hoffnung?
Europa, scheint es, will den letzten Hauch seiner orientalischen Seele abschütteln. Und sich von dem distanzieren, was diesen Kontinent seit eh und je mit dem Nahen Osten verbindet: die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Die endgültige Abnabelung von unseren kulturellen Vorfahren.
Doch halt.
So pessimistisch soll dieser Text nicht enden. Schliesslich ist Weihnachten ja auch das Fest der Hoffnung.
Vielleicht geht tatsächlich ein kleiner Stern am Horizont auf. In Form eines Kebab-Standes an der Ecke, einer Packung Hummus im Supermarkt, einer Tamarinden-Limonade in der Bar, des Kreuzkümmels am Gemüse, der Flasche Arganöls in der Küche, eines Rosenwasser-Sprays im Badezimmerschrank, der schwarzen Olivenseife in der Dusche, des Orangenblütenöls, das ich mir auf die Schläfen streiche, damit ich besser einschlafen kann.
Vielleicht haben die Geschmäcker, Gerüche und Bilder des Orients doch einen Ort gefunden, an dem sie weiterleben können: den banalen Alltag, fern jeder Festlichkeit.
Liebes Christkind, falls es dich trotz aller Vermutung doch gibt: Bitte mach, dass die besondere Verbindung zwischen Orient und Okzident nicht verloren geht. Was wäre denn der Abend, wenn der Tag zuvor nicht den Morgen gesehen hätte? Was zusammengehört, soll man nicht trennen.
Frohe Weihnachten, liebe Leserin. Oder wie immer Sie die paar Tage am Ende eines Jahres nennen möchten.