Bald gilt «Switzerland first» bei Google und Co.
Eine Weltpremiere: Die Schweiz setzt in Schulzimmern gegen Google Schweizer Datenschutzbestimmungen durch. Auch andere US-Big-Tech-Konzerne wollen nachziehen.
Von Adrienne Fichter, 19.12.2019
Im Sommer haben wir die laufenden Vertragsverhandlungen zwischen der Schweizer ICT-Fachagentur für Bildung Educa.ch und Google beim Einsatz der Schulsoftware «G Suite for Education» publik gemacht.
Google rüstet den digitalen Klassenraum aus – und sammelt so die Daten von Minderjährigen. Kann die Schweiz die Totalüberwachung noch stoppen?
Der Beitrag hat einiges ausgelöst. Verlegerinnen haben sich gemeldet, deren Kinder ebenfalls eine «Google-Schule» besuchen und die bei heiklen Aufsätzen zur Selbstzensur angehalten werden. So sollen Schülerinnen etwa nicht wahrheitsgetreu über die Krankheiten oder die sexuelle Orientierung von echten Personen schreiben.
In unserem Dialogforum wurde engagiert über Schweizer Alternativen diskutiert. Bildungsvertreter und Medien aus Deutschland interessierten sich ebenfalls für das Vertragswerk, das die Tech-Konzerne in ihrem Datenhunger wenigstens an Schulen in die Schranken weisen würde.
In der Zwischenzeit haben die Verhandlungen zwischen Google und den Schweizer Vertragsparteien wieder Fahrt aufgenommen.
Die positiven Neuigkeiten für Lehrer, Eltern und Schulleitungen:
Der Rahmenvertragsentwurf für «G Suite for Education» steht.
Auch andere Tech-Konzerne aus den USA signalisierten grünes Licht für ein verbindliches Regelwerk mit der Schweiz. So will zum Beispiel auch Apple mit der Schweiz einen Rahmenvertrag abschliessen.
Kommen diese Rahmenverträge zustande, kommt das einer Weltpremiere gleich. Die Schweiz wäre damit weltweit das einzige Land, das die Big-Tech-Firmen (Google, Apple und Microsoft) in Sachen Schülerdaten zumindest ansatzweise reguliert.
Dennoch bleiben wegen des amerikanischen Cloud Act noch einige Fragen offen.
Ein Update in vier Punkten.
1. Was bisher geschah: Schüler müssen sich selbst zensieren
Immer mehr Schweizer Schulen arbeiten mit «G Suite for Education», dem Bildungsangebot von Google, das Google-Dienste wie Drive, Cloud und Gmail aus einer Hand anbietet. Die Schulen setzen darauf, weil das Komplettpaket praktisch gratis ist und gefeit vor Hackerangriffen. Zudem ist jeder und jede mit dem benutzerfreundlichen Design von Google vertraut.
Doch die Recherche der Republik zeigte, dass Google sich vorbehält, die Daten zu personalisieren. Denkbar ist folgendes Szenario: Die Legasthenie-Schwäche einer Schülerin (die in Google Docs beispielsweise fehlerhafte Titel setzt) mündet vielleicht früher oder später in Empfehlungen für Nachhilfe-Tutorials auf Youtube.
Ohne ein Schweizer Rechtsdokument haben Eltern nur eine Möglichkeit: die von Google vorgefertigten Nutzervereinbarungen zu unterzeichnen. Diese entsprechen in keiner Weise dem Schweizer Datenschutzniveau, was viele Eltern in eine ausweglose Situation manövriert.
Wie zum Beispiel im Fall einer Berner Schule. Ein Elternpaar wurde bereits vor Einschulung seiner damals noch fünfjährigen Tochter aufgefordert, eine Einwilligung zu unterzeichnen, wie der Republik vorliegende Dokumente zeigen. Das Paar und auch einige andere Eltern weigerten sich, diese zu unterzeichnen. Damit die Töchter und Söhne nicht vom Unterrichtsbetrieb ausgeschlossen wurden, mussten sie als Ersatzlösung auf Pseudonyme oder Klassenkonten ausweichen.
Das Problem: Viele Schulen bieten kaum Alternativen an. Und schon gar nicht Lösungen, die nicht von den Big Players aus dem Silicon Valley stammen. Die Stadt Bern ist mit ihrem Open-Source-Angebot Collabora die Ausnahme und nicht die Regel.
Weil ohne Rahmenvertrag «Google-Recht» gilt, verordnen kantonale Erziehungsdirektionen eine Art Selbstzensur. Im Kanton Bern gibt etwa ein Schema vor, bei welchen sensiblen Themen mit welchen Technologien gearbeitet werden soll. Eine 11-jährige Primarschülerin beispielsweise darf demnach persönliche Erlebnisse oder Informationen wie die Scheidung der Eltern oder den religiösen Glauben des Bruders nicht auf Google Drive niederschreiben. Weil diese Informationen als sehr schützenswerte Personendaten gelten.
Kurz: Statt in sichere, überwachungsfreie Technologien zu investieren, setzen Schulen auf kostengünstige Komplettlösungen wie« G Suite for Education» und wälzen die Verantwortung bezüglich der Privatsphäre auf Lehrpersonen und Schülerinnen ab. Diese Situation empfinden vor allem Eltern als sehr unbefriedigend. Und für Lehrer bedeuten sie bürokratischen Mehraufwand.
2. Google akzeptiert die Forderungen der Schweizer Verhandler
Wie die Republik im Sommer enthüllte, arbeitete die Schweizer Fachagentur Educa.ch mit Google auf einen Rahmenvertrag nach Schweizer Standards hin. Doch die monatelangen Verhandlungen harzten im Frühsommer.
Der Grund: Der US-Suchmaschinenkonzern zeigte bei zwei zentralen Forderungen der Schweizer null Entgegenkommen: beim Datenschutz und bei Haftungsfragen.
Seit unserer Veröffentlichung haben die Verhandlungen wieder Fahrt aufgenommen, wie neue Recherchen zeigen. Google bewegte sich und ist offenbar einverstanden, alle drei «heissen Eisen» – Gerichtsbarkeit, Datenschutzrecht und Haftung – in den Vertrag aufzunehmen.
Educa.ch wollte auf Anfrage der Republik keine Auskunft geben. Anders Bruno Baeriswyl von der Datenschutzkonferenz Privatim, die für Educa.ch die Vertragsinhalte rechtlich geprüft hatte. Er bestätigt: «Wir haben den Google-Rahmenvertrag (G-Suite for Education) geprüft. Er erfüllt die notwendigen datenschutzrechtlichen Anforderungen, inklusive Anwendung schweizerisches Datenschutzrecht und Gerichtsstand in der Schweiz.»
Der Entwurf ist so gut wie fertig. Kommt der Vertrag gemäss Fahrplan im Frühjahr 2020 zustande, wäre das – wie erwähnt – eine Weltpremiere.
3. Apple verhandelt nun auch mit Educa.ch
Sowohl in der Republik-Debatte als auch in den sozialen Netzwerken wurde Apple als teurere, aber bessere Alternative zu Google empfohlen. Weil Apple kein Business mit Schülerdaten verfolge. Ein Blick in die Nutzungsbedingungen des am 1. Dezember in Kraft getretenen «School Manager» – der Bildungssoftware von Apple – zeigt, dass der Konzern in der Tat nur sparsam Schülerdaten sammelt.
Dennoch würden sich mit dem «School Manager» die datenschutzrechtlichen Bedingungen im Vergleich zu Apples früheren Lizenzverträgen verschlechtern.
Darüber waren insbesondere die Datenschützer von Privatim nicht erfreut. Die Mac- und iPad-Nutzer unter den Schülern sollen in Zukunft genauso gut abgesichert sein wie «Microsoft-Schulen».
Und so kam es zu einem kleinen Verhandlungsdrama mit einigen Wendungen.
Apple signalisierte gegenüber der nationalen Bildungsagentur Educa.ch und Privatim Verhandlungsbereitschaft. Insbesondere der ehemalige CEO Adrian Schmucki zeigte sich sehr offen gegenüber einem nationalen Rahmenvertrag.
Im Frühjahr 2019 reiste eine Delegation aus Deutschland – Verantwortliche des «Apple School Manager» – extra an und setzte sich mit Baeriswyls Team zusammen.
Die Signale waren zunächst positiv, denn die Apple-Delegation stimmte der Ultima Ratio der Schweizer Verhandlungspartner zu: dass die Schweiz als Standort für Gerichtsverhandlungen dient. Ohne diese Vorbedingung würde man gar nicht erst zu verhandeln beginnen.
Doch nach einigen Monaten wurde die Delegation von Kalifornien zurückgepfiffen. Das Hauptquartier von Apple goutierte die Initiative der Delegation offenbar nicht. Die Schweiz erhalte – obwohl sie einen wichtigen Absatzmarkt darstellt – keine Sonderkonditionen, wie ein Insider bestätigt.
Mitte August hat Apple wieder eine Kehrtwende vollzogen. Der neue Apple-Schweiz-Chef Rolf Weiss startete einen neuen Anlauf und hat es offenbar geschafft, das strenge amerikanische Regime umzustimmen. Die Delegation aus Deutschland hat sich im Sommer erneut mit Privatim-Verhandler und Datenschutzexperte Bruno Baeriswyl getroffen. Ein schriftlicher Entwurf existiert zwar noch nicht. Aber: «Apple wird auch Schweizer Recht und Gerichtsstand garantieren», bestätigt Baeriswyl gegenüber der Republik.
In der Zwischenzeit setzten sich noch weitere Vertreter von Tech-Konzernen an den Verhandlungstisch. Educa.ch redete auch mit Repräsentanten des bekannten Softwarekonzerns Adobe. Denn auch in diesem Fall wird ein Rahmenvertrag dringend nötig: Adobe kündigte im September Neuerungen an, die vor allem rechtliche Verschlechterungen für Nutzer bedeuten würden.
Bereits unterzeichnet ist der Rahmenvertrag mit dem Messengerdienst Wire. Dies ist vor allem deshalb relevant, weil das schweizerisch-deutsche Unternehmen aufgrund von amerikanischen Investoren seinen Hauptsitz in die USA verlegen wird. Und Educa.ch sich damit gerade noch rechtzeitig Schweizer Standards ausbedingen konnte.
4. Rahmenverträge nützen den Eltern, doch es bleiben einige Fragen offen
Doch was bedeuten nun die ausgehandelten Abkommen? Die Rahmenverträge bieten Schulen und Eltern Rechtssicherheit. Alle bestehenden Nutzungsvereinbarungen, die die Juristen von Google und Co. nach US-Recht verfasst haben, würden damit nichtig. Es gilt dann «Switzerland first». Eltern könnten mit diesem Instrument Google einklagen. Es gibt weltweit kein vergleichbares Abkommen. Die Schweiz wird so zum Pionier, der die Big-Tech-Firmen in ihrem Datenhunger etwas zähmt.
Dennoch braucht man sich keine Illusionen zu machen: Erstens würde ein Kampf gegen Tech-Riesen vor Gericht für beteiligte Eltern einen zeitraubenden Kraftakt bedeuten.
Google wird ausserdem wohl kaum wegen Schweizer Schülern gänzlich auf Profiling – die serviceübergreifende Verknüpfung aller Schülerdaten zu einem Profil – verzichten. Damit der Rahmenvertrag aber eingehalten wird, müsste Google die persönlichen Daten von Schülerinnen in einzelnen Silos horten. Ausserdem liegt eine grosse Beweislast bei den Eltern: Sie müssten vor Gericht nachweisen, dass der Tech-Gigant Personalisierung betreibt. Es bliebe abzuwarten, ob sich ein solcher organisierter Widerstand gegen einen Tech-Monopolisten formieren würde.
Und zweitens wird der Datentransfer in die USA auch mit dem Rahmenvertrag nicht gestoppt: Mit dem «Cloud Act» sichern sich die US-Behörden den Zugriff auf die sensiblen Schülerdaten der in den USA ansässigen Tech-Giganten. Und dieser zielt auch auf die Cloud-Riesen Microsoft, Google und Apple, die im Schweizer Bildungsmarkt mitmischen wollen.
Die Bildungsvertreter der EU-Staaten haben zwar kein Abkommen mit den Tech-Giganten. Dafür verfügen sie mit der DSGVO über ein strengeres Regelwerk als die Schweiz. Gegen den Datentransfer in die USA wehrten sich etwa niederländische Behörden und auch der hessische Datenschützer. Beide konstatierten nach einer eingehenden rechtlichen Analyse, dass Microsoft Office 365 und Windows 10 in keiner Weise DSGVO-konform seien.
Unter anderem weil Microsoft Nutzerdaten (sogenannte Telemetrie-Daten wie den Gerätestatus, aber auch zum Konsum von Video- und Audiodateien) sammelt, ohne darauf explizit hinzuweisen. Microsoft hat nun vor ein paar Wochen ein Update angekündigt, das mehr Transparenz über die Verwaltung dieser Metadaten einräumt. Damit ist die Frage aber immer noch ungeklärt, ob die Nutzung von Windows 10 wegen des Cloud Act grundsätzlich überhaupt mit EU-Recht vereinbar ist.
Das letzte Kapitel ist also noch nicht geschrieben, das Tauziehen zwischen Europa und dem Software-Konzern wird im nächsten Jahr weitergehen.