«Vertrauen kann man sich verdienen»: Adam Quadroni als Zuschauer in Chur bei der Debatte des Grossen Rats.

Whistleblower, lebenslänglich

Schuft, Opfer, Held, Vater – wer genau ist Adam Quadroni? Die Republik hat den Mann, der das Bündner Baukartell auffliegen liess, eine Woche lang begleitet.

Von Anja Conzett (Text) und und Yves Bachmann (Bilder), 10.12.2019

Die Akten liegen geordnet auf dem Tisch. Der Anzug ist ausgelüftet, die Schuhe poliert, das Hemd wird gerade von der Schwester gebügelt. Es ist Sonntagabend und Adam Quadroni hat keinen Hunger.

Es ist der Abend vor der Debatte im Grossen Rat zum ersten Teil des Berichts der Parlamentarischen Untersuchungs­kommission zum Baukartell über die Polizei­einsätze gegen Adam Quadroni – den Whistle­blower, der das Baukartell auffliegen liess. Quadroni hat entschieden, dass er hingeht. Er will dabei sein, wenn 120 Politiker ihr Urteil über sein Schicksal fällen.

Kurz nach neun, das Telefon mit der Republik.

«Wie geht es dir, Adam?»

«Ja. Es geht.»

«Nervös?»

«Angespannt.»

Kurz Stille.

«Glaubst du, dass es gut kommt?»

«Ich glaube, du kannst Vertrauen in das Parlament haben.»

«In das ganze Parlament?»

«In die Mehrheit. Mehr braucht es in einer Demokratie nicht.»

Wieder Stille.

«Ich will es versuchen. Aber entschuldige – es ist nicht leicht.»

Montag: Eine schwierige Person

In Chur, etwas nach 14 Uhr. Adam Quadroni wartet bis kurz vor Beginn der Session, bevor er das Grossrats­gebäude betritt. Seine Augen sind gerötet, unter dem Arm trägt er die Mappe mit den beiden Berichten der PUK und des pensionierten Ober­staatsanwalts Andreas Brunner. Zuoberst ein kurzer Brief der Regierung, die ihr Bedauern ausdrückt, dass «nicht alle Institutionen in allen Belangen vollumfänglich korrekt gehandelt haben».

Adam Quadraoni und die Mappe mit den beiden Berichten der PUK und des Alt-Oberstaatsanwalts Andreas Brunner unterm Arm.
Starker Andrang zur Besuchertribüne im Grossratssaal.

Quadroni bleibt kurz auf der Treppe stehen, nachdem er den Saal betreten hat. Er beobachtet die Regierung, die am Kopf des Rats gegenübersitzt, und wartet darauf, dass einer der fünf Männer seinem Blick standhält.

Dann bahnt er sich den Weg durch die gestossen volle Tribüne. Eine Schul­klasse, pensionierte Politiker, Anwälte, Bürgerinnen – halb Grau­bünden, so scheint es, verfolgt die Debatte zum PUK-Bericht. Doch: Beschlüsse fallen heute keine, das stellt der Standes­präsident gleich zu Beginn fest.

Adam Quadroni kommt alleine. Walter Schlegel, der Polizei­kommandant, dessen Rolle in beiden Berichten kritisiert wird, ist mit einer ganzen Entourage da. Nur wenige Meter liegen zwischen ihnen: Schlegel links auf den Zuschauer­rängen, Quadroni rechts in der vordersten Reihe für die Presse; zwischen Republik und SDA.

Aufmerksamer Zuhörer: Adam Quadroni neben Republik-Reporterin Anja Conzett (ganz rechts unten).

Alles in allem wird es eine sachliche, ernsthafte Debatte. Die Parteien würdigen geschlossen die Arbeit der PUK, legen aber den Bericht unter­schiedlich aus.

Die FDP-Fraktion will der Regierung nicht vorschreiben, was sie zu tun hat – betont aber, dass die Verfehlungen der Behörden in der Privat­wirtschaft klare Konsequenzen haben würden.

Aus den Voten der SP geht hervor, dass die Fraktion nicht nur glücklich über die Haltung ihres Regierungs­rates Peter Peyer ist, der keine personellen Konsequenzen für nötig hält. Seine Partei vertritt den Stand­punkt, dass Quadroni klar unrecht getan wurde, dass dieses Unrecht – zu gegebener Zeit – wiedergutzu­machen sei. Und fordert angesichts der Rolle, die die Presse in der Aufklärung des Falls hatte, die Ausweitung des Öffentlichkeits­gesetzes auf alle Gemeinden Graubündens.

Entscheidend ist die zweite Reihe: die Bündner Regierung Marcus Caduff (CVP), Christian Rathgeb (FDP), Jon Domenic Parolini (BDP), Mario Cavigelli (CVP) und Peter Peyer (SP).
Mit Rückendeckung: Polizeikommandant Walter Schlegel (3. Reihe, mit Krawatte) während der Debatte, hinter und neben ihm seine Entourage.

Die BDP kritisiert den Polizei­kommandanten, der gemäss Bericht seine Führungs­verantwortung nicht wahrgenommen hat, aufs Schärfste.

Die CVP-Fraktion verspricht, darauf zu achten, dass die beschlossenen Verbesserungs­massnahmen nicht überbordend umgesetzt werden.

Die FDP und die SVP beklagen beide, dass der Bericht zu detailliert sei.

Quadroni fragt: «Ja, halten die denn die Grossräte für zu dumm, um 270 Seiten zu lesen und zu verstehen?» Dann hält er sich die Hand vor den Mund, um ein Grinsen zu verbergen: «Vielleicht sollten sie nicht von sich auf andere schliessen.»

CVP, BDP und SVP ist es ausserdem wichtig zu betonen, dass keine Instrumentalisierung der Polizei vorliegt.

Adam Quadroni flüstert: «Warum? Glauben die wirklich, dass es weniger schlimm ist, wenn das alles nichts mit dem Kartell zu tun hatte? Dann hätte das, was mir passiert ist, ja jedem passieren können.»

Einig ist sich das Parlament auch in einem anderen Punkt. Fast alle Parteien kommen zum Schluss, dass Adam Quadroni eine schwierige Person sei. Der sagt: «Alles, was ich versucht habe, ist, den Preis­absprachen ein Ende zu setzen.» Und schliesst: «Bin ich eine schwierige Person, weil ich den Finger auf die Wunde lege? Dann bin ich gerne eine schwierige Person.»

Bis auf diese winzigen Kommentare hört Adam Quadroni in der fast dreistündigen Debatte still zu. Nur einmal wird er wütend. Als ein FDP-Grossrat ihn als dubiose Person hinstellt – und das Verhalten der Polizei damit rechtfertigt. Ein Votum, das sogar die ansonsten zurück­haltende PUK zu einer Richtig­stellung nötigt.

«Was erlaubt der sich? Hat er den Bericht gelesen? Wie kommt er dazu?»

«Seine Kanzlei vertritt einen der Polizeikader, die gepfuscht haben, Adam.»

«Ja, aber ist er hier als Anwalt oder als Grossrat?»

«In der Schweiz kann man beides sein. Das ist unser Milizsystem.»

Adam Quadroni nickt. Und hört wieder zu.

Wiederholt kritisieren die PUK und Ober­staatsanwalt Brunner, dass Personen, die unverhältnis­mässige oder wider­rechtliche Mass­nahmen beschlossen hatten, nicht in den Ausstand traten, obwohl sie in die Geschichte verwickelt waren.

Quadroni nimmt den Faden wieder auf: «Findest du das richtig? Dass Politiker zwei Hüte haben können?»

«Das ist eine grosse Frage. Darauf habe ich keine Antwort. Was glaubst du?»

«Ich glaube, der Anwalt hätte – schüsa – besser den Mund gehalten.»

Am Ende der knapp drei Stunden Debatte beschliesst der Grosse Rat, auf den Bericht einzutreten.

Draussen gehen die Diskussionen weiter.

Ein Zuschauer, der hinter der Entourage des Kommandanten Schlegel sass, empört sich, dass die Polizei­kader während der Debatte gekichert hätten wie Schul­mädchen: «Dieser Arroganz muss ein Ende bereitet werden.»

Ein Paar überreicht Adam Quadroni ein paar Haselnuss­makronen und wünscht ihm viel Kraft.

Ein Mann läuft über die Strasse auf Quadroni zu, reicht ihm die Hand und teilt ihm mit: Das Volk steht hinter Ihnen.

Am Fuss der Rampe vor dem Parlaments­gebäude wartet Regierungsrat Jon Domenic Parolini. Derselbe Parolini, der 2009 als Gemeinde­präsident von Scuol nichts von den Listen zum Baukartell wissen wollte, die ihm Quadroni überreichte. Der Skandal flog erst drei Jahre später auf, nachdem die Wettbewerbs­kommission (Weko) dieselben Listen erhalten hatte und ermittelte. Parolini wäre beinah dafür als erster Regierungs­rat in der Geschichte abgewählt worden: Er siegte mit weniger als 60 Stimmen vor dem damals für die SVP kandidierenden Polizei­kommandanten Schlegel.

Dialog unter Unterengadinern: Was Regierungsrat Jon Domenic Parolini (links) und Adam Quadroni besprechen, bleibt unter ihnen.

Eine Dreiviertel­stunde bleiben der Politiker und der Whistle­blower in der eisigen Kälte stehen und reden. Wer Vallader, das Unterengadiner Romanisch, nicht versteht, hat keine Chance, dem Gespräch zu folgen.

Was gesagt wurde, bleibt so zwischen ihnen.

Danach ist Adam Quadroni jedenfalls erleichtert. Er konnte ein paar Dinge loswerden. Und dass Parolini sich dem Gespräch gestellt hat, rechnet Quadroni ihm hoch an.

«Hast du also wieder etwas Vertrauen in die Regierung?»

«Nein. Ich habe nur Vertrauen in die PUK und den ausser­ordentlichen Staats­anwalt Urs Sutter, der die Straf­untersuchung leitet», sagt Quadroni. Und fügt hinzu: «Aber Vertrauen kann man sich verdienen.»

Montag, Dienstag, Mittwoch: Bündner­fleisch und Medien­futter

Auf der Strasse zwischen Chur und Valbella tanzen staub­feine Eis­kristalle vor den Schein­werfern des VW Passat, den Adam Quadroni von seiner Schwester geliehen hat. In seinem Kopf sieht es nicht ruhiger aus.

Adam Quadroni ist kein politischer Mensch. Er ist in seinem Leben nur zweimal wählen gegangen. Das erste Mal in der Lehre. Das zweite Mal bei den Nationalrats­wahlen im vergangenen Oktober. Einmal war er an der Gemeinde­versammlung. Und heute zum ersten Mal im Grossen Rat. Es fällt ihm schwer zu durch­schauen: Wer hat was gesagt – und warum?

Vor allem das Votum der SVP-Fraktion lässt ihn nicht in Ruhe.

Die SVP rief zur «Vernunft» auf – dann kritisierte sie gewisse Medien für deren Bericht­erstattung sowie einen nicht genannten ehemaligen Mitarbeiter der Verwaltung, der öffentlich sagte, er schäme sich für den Kanton Grau­bünden. Am Ende wünschte der SVP-Grossrat noch Zuversicht und Kraft – den Behörden und dem Unterengadin.

Adam Quadroni schwankt zwischen Erstaunen und Empörung: «Darf man denn die Verwaltung nicht kritisieren, nur weil man einmal für sie gearbeitet hat? Und warum schimpft die SVP plötzlich auf die Medien? Ohne die Medien wäre nichts ans Licht gekommen. Wäre ihnen das lieber gewesen? Ich versteh sie nicht. Verstehst du es?»

«Die SVP hat es nicht leicht. Polizei­kommandant Schlegel ist ihr Mann. Sie hat ihn noch vor einem Jahr zum Regierungs­rat machen wollen. Und jetzt wird er von allen Seiten für seine mangel­hafte Führung kritisiert. Die SVP kann also nicht lauthals unterstützen, was im Bericht steht. Aber: Der Fraktions­chef der SVP ist auch Mitglied der PUK; er hat die Kritik an Schlegel und der Polizei mitunter­schrieben. So kann die SVP den Bericht auch nicht einfach angreifen. Verstehst du jetzt?»

Quadroni wird ungeduldig: «Ja, ja – aber sehen sie denn nicht ein, dass es falsch war, wie mit mir umgegangen wurde?»

«Ich weiss es nicht. Vielleicht. Aber ihnen stellen sich andere Fragen.»

«Die Gross­rätin von der SVP, die damals in Leserbriefen Lügen über mich erzählt hat – von wegen ich hätte meine Kinder schon vor der Verhaftung ein Jahr nicht mehr sehen dürfen –, die war auch da, oder?»

«Ja.»

«Glaubst du, es tut ihr mittlerweile leid?»

«Würde es dir das Leben leichter machen?»

Adam Quadroni blickt auf die verschneite Strasse. Dann sagt er ins Geräusch der Scheiben­wischer hinein:

«Gell, den meisten da unten, denen ist es egal, wie meine Kinder bis heute unter dem allem leiden?»

Er erwartet keine Antwort.

Der ehemalige Bundes­richter Giusep Nay ist dabei, die Zeitungs­berichte zu sichten, als Quadroni vorfährt. Als Nay vor anderthalb Jahren las, was Adam Quadroni widerfuhr, war er entsetzt – entsetzt über den Rechts­staat in seinem Heimat­kanton. Er bot Quadroni seine Hilfe an, besorgte ihm zwei Anwälte, regelte die Anfragen der Medien und verwaltet die 250’000 Franken, die bei einem Crowd­funding für den Whistle­blower zusammenkamen.

Die wichtigste Bezugsperson des Whistleblowers: Daheim beim ehemaligen Bundesrichter Giusep Nay wird am weiteren Vorgehen getüftelt.

Nay ist seitdem Quadronis engster Vertrauter. Quadroni sagt, er wolle sich gar nicht vorstellen, wo er ohne ihn wäre. «Wahr­scheinlich hat jemand da oben mir Giusep Nay geschickt. Anders kann ich mir das nicht erklären.»

In Nays getäferter Stube wartet eine Fotografin der «Südostschweiz». Sie ist eine Ausnahme. Ansonsten hat Adam Quadroni die Medien­vertreter im Grossen Rat um Verständnis gebeten – er stehe erst morgen für Interviews zur Verfügung.

Bei Bündnerfleisch und dem zweitbesten Wein aus Giusep Nays Keller besprechen der Alt-Bundes­richter und der Whistle­blower die Debatte im Grossen Rat, die Berichte der Medien und den Interview­marathon am nächsten Tag.

Es wird spät, bis Quadroni aufbricht. Die Einladung zur Über­nachtung lehnt er ab. Er schläft nicht gerne auswärts. Das Haus, die Erinnerungen, die darin wohnen, ist alles, was er noch hat. Also fährt er fast drei Stunden über den verschneiten Flüela – die Gebühr für den Vereina­tunnel kann er sich nicht mehr leisten. Quadroni lebt von 1000 Franken im Monat, die Nay ihm vom Crowd­funding auszahlt. Der Rest des Geldes ist für Rechts­kosten gedacht.

Es ist kurz vor ein Uhr, als er in Ramosch ankommt, am nächsten Morgen um halb neun fährt er wieder los nach Valbella. Erst das romanische Radio, dann SRF, am Nachmittag die «Südostschweiz», erst das Fernsehen, dann die Zeitung.

Adam Quadroni weiss, wie wichtig die Medien für ihn sind. Er sagt, er sei dankbar, dass man ihm zuhöre. Aber die Interviews strengen ihn an. Die meiste Zeit zieht er es vor, niemandem zu begegnen. Mit seinen Gedanken alleine zu sein. Dann geht er spazieren. Zeitungen liest er nur, wenn er muss. Meistens liest er Briefe von Unter­stützern. Oder Sach­bücher über Berge und Natur. Und im Moment eine Biografie über Voltaire.

Unterwegs im Auto der Schwester, die Gebühr für den Vereinatunnel kann sich Quadroni nicht leisten.

«Warum ausgerechnet Voltaire, Adam?»

«Er steht für so viel. Aber kaum jemand weiss, wie er gelebt hat.»

«Wie bei dir?»

«Nicht wirklich. Etwas vielleicht. Die Leute wissen, wer ich bin, aber sie kennen mich nicht.»

«Hat es dich verändert, dass du mit einem Schlag so bekannt geworden bist?»

«Glaubst du das?»

«Nein.»

«Ich auch nicht.»

Am Mittwoch­abend erscheint bei SRF der Dokfilm über Adam Quadroni. 300 000 Menschen schalten ein. Quadroni ist keiner davon – er hat keinen Fernseh­anschluss. Stattdessen hilft er seiner Schwester und ihrem Mann beim Transport einer Steinplatte – er renoviert gerade ihr Badezimmer.

Donnerstag: Auch ein Unterengadiner. Auch ein Bürger.

Den Film über ihn erlebt Adam Quadroni erst am nächsten Tag beim Kaffee in Scuol – als Reaktion. Mein Gott, wir hatten ja keine Ahnung, sagen die Leute zu ihm.

Und auch sonst erhält er Unter­stützung: Seit er wieder in den Medien ist, kommen neue Spenden. Ein hand­geschriebener Brief aus Basel mit 300 Franken. Eine Frau aus dem Ober­engadin, die ebenfalls schlechte Erfahrungen mit den Behörden gemacht hat, überweist Quadroni jeden Monat ihre Zusatz­rente von 500 Franken. Der Zuspruch tut gut, sagt Quadroni. Aber manchmal überfordert er ihn auch.

Am Mittwoch­nachmittag erhält er eine Mail, in der jemand schreibt, er habe jedes Jahr in Sent Ferien gemacht – wolle aber nicht mehr ins Unter­engadin kommen nach dem, was man Quadroni angetan habe. Es ist nicht die erste Mail dieser Art.

Heute reicht es ihm. Quadroni greift zum Telefon und ruft die Grossrätin seiner Region an – Mitglied der BDP, die am Montag im Grossen Rat in ihrem Votum vor allem das Unter­engadin verteidigte – um ihr die Meinung zu sagen.

«Glaubst du, das ändert etwas?»

«Nein.»

«Warum machst du es trotzdem?»

«Manchmal geht es mir so nahe, dass ich es nicht aushalte. Wenn die Politiker wirklich um den Ruf des Unter­engadins besorgt wären, würden sie kritisieren, was alles falsch gelaufen ist von den Behörden. Aber das tun sie nicht – sie greifen lieber mich an. Keiner greift die Baumeister an, keiner greift die Polizisten von Scuol an, und darum zeigen jetzt auch alle mit dem Finger auf das Unter­engadin – sehen die das denn nicht?»

«Was denkst du über das Unterengadin?»

«Ich bin auch Unter­engadiner, das darf man nicht vergessen. Es gibt viele gute Menschen hier. Sie sind nicht das Problem. Es sind die Strukturen. Aber am Ende geben sie noch mir die Schuld, wenn der Tourismus zusammen­bricht.»

«Warum tust du dir das an, Adam? Warum ziehst du nicht weg?»

«Es ist mein Zuhause. Ich bin hier verwurzelt. Das sind meine Berge, meine Wälder. Ich teile sie mit allen – aber ich über­lasse sie denen nicht.»

Und was wünschst du dir für Grau­bünden?

«Menschlich­keit. Charakter und Menschlich­keit. Das hat die Bevölkerung dieses schönen Kantons verdient.»

«Und was wünschst du für dich? »

«Dass ich meine Kinder aufwachsen sehen kann.»

Alle zwei Wochen bekommt Quadroni sechs Stunden Besuchs­zeit bei seinen Kindern. Die rigorose Regelung stammt noch aus der Zeit, in der er von Amtes wegen als gefährlich eingestuft wurde. Angeordnet vom Regional­richter Orlando Zegg, der unter­dessen in den Ausstand treten musste und gegen den wegen des Falls Quadroni ein Amtsdelikts­verfahren läuft.

Es läge nun am Kantons­gericht, die Besuchszeiten zu normalisieren. Quadroni zweifelt, dass das bald geschehen wird – er traut dem Kantons­gericht noch weniger als der Regierung.

Das hat Gründe. Am Mittwoch kritisiert Giusep Nay in der «Südostschweiz» unter dem Titel «Das lange Warten auf ein Familien­leben» das Kantons­gericht für die lange Verfahrens­dauer – und zieht eine Verschleppungs­beschwerde in Erwägung, sollte das Gericht nach dem PUK-Bericht nicht zügig handeln. Die Reaktion kommt am Donnerstag in Form einer Richtig­stellung des Kantonsgerichts. Darin steht:

Im oben erwähnten Presseartikel wird das Kantonsgericht von Graubünden von Adam Quadroni und von alt Bundesrichter Giusep Nay wegen angeb­licher Rechtsverzögerungen angegriffen. Das Kantonsgericht stellt diese Äusserungen in aller Kürze gemäss Art. 41 Abs. 3 der Kantonsgerichts­verordnung wie folgt richtig:

Im Zusammenhang mit ehelichen Auseinandersetzungen in Sachen Quadroni wurden seit dem Jahr 2017 beim Kantonsgericht von Graubünden insgesamt 31 Verfahren anhängig gemacht, 24 davon von Adam Quadroni selbst.

Jener Fall, in welchem Rechtsverzögerung des Kantonsgerichts behauptet wird, ging am 7. Januar 2019 ein und der Rechtsschriftenwechsel wurde zunächst durch mehrere Fristerstreckungsgesuche verzögert. Im April 2019 wurde im selben Verfahren ein Gesuch um Erlass vorsorglicher Mass­nahmen gestellt, in welchem der Rechtsschriftenwechsel Ende August 2019 grundsätzlich abgeschlossen wurde. In den beiden Verfahren erfolgten sodann Ende November 2019 weitere Eingaben, sodass die Spruchreife weiter hinausgezögert wurde.

Eine vom Kantonsgericht ausgehende Rechtsverzögerung ist somit nicht festzustellen.

Erstens habe er dem Kantonsgericht noch gar keine Rechtsverzögerung vorgeworfen, sagt Giusep Nay: «Zweitens verstösst das Gericht mit dieser «Richtigstellung» gegen das Amtsgeheimnis, indem es auf Verfahren verweist, die nichts mit dem von uns genannten zu tun haben – und die auch nicht öffentlich gemacht werden dürfen.»

Beim Kantonsgericht war gestern Nachmittag niemand zu erreichen, der auskunftsbefugt wäre. Die Stellungnahme folgt sobald als möglich.

Bekannt ist: Das Kantonsgericht sorgte dafür, dass die Verbindung des Regionen­richters Orlando Zegg zur Baubranche in den beiden Untersuchungsberichten PUK und Brunner geschwärzt oder verschwiegen wurde.

Auch bekannt ist, dass im Fall von Whistle­blowern das Amts­geheimnis für Behörden mehr taktische Frage als Gebot ist.

Neu ist Folgendes: Der ausser­ordentliche Staatsanwalt Urs Sutter, der momentan die Straf­untersuchungen im Fall Quadroni führt, hat beim Kantons­gericht angeregt, ein Disziplinar­verfahren gegen den Regionen­richter Zegg einzuleiten. Das Kantons­gericht hat darauf verzichtet. Das geht aus Orlando Zeggs Stellungnahme zum Ausstandsgesuch im Juli hervor.

Dreimal in der Woche darf Adam Quadroni mit seinen Töchtern telefonieren, immer von 17.30 bis 18 Uhr. Donnerstag ist einer dieser Tage. Quadroni versucht durchzu­kommen. Das Telefon klingelt nicht. Er sagt, er erreiche die Kinder so gut wie nie.

Das mache ihm Angst. «Dass es meinen Kindern schlecht geht. Dass es ihnen noch schlechter gehen könnte. Dass ich nichts dagegen tun kann.»

«Hasst du manchmal die Leute, die dafür verantwortlich sind?»

«Nein. Hass vernebelt den Verstand. Ich brauche einen klaren Kopf.»

Freitag: Unverhofft Experte

«Nicolaus hol Adam», steht irgendwann nach der Grossrats­debatte in blauer Farbe und 50 Zentimeter grossen Buchstaben auf Adam Quadronis altem Firmenlager in Ramosch. Im Unter­engadin kann es einem selbst als Journalist passieren, dass man an der Bar in ein Gespräch stolpert, in dem über Adam Quadroni geschimpft wird. Der ist nicht sauber, heisst es dann. Dreck am Stecken. Auch Politikerinnen sagen hinter vorgehaltener Hand, der sei sicher kein Unschulds­lamm, sonst wäre es nie so weit gekommen. Und wenn Grossräte glauben, dass keine Journalistin zuhört, sagen sie auch mal, das Kartell hätte Quadroni einfach grössere Brocken zuwerfen sollen. Dann wäre das Ganze nie aufgeflogen.

In Zürich ist Adam Quadroni am Freitag­abend am Human Rights Film Festival eingeladen, um über seine Erfahrungen als Whistle­blower zu sprechen. Adam Quadroni ist nervöser als vor dem Grossen Rat. Es ist sein erstes Podium, der Experte mit ihm auf der Bühne ist der Korruptions­spezialist Alex Biscaro von Transparency International. Wie Schellen­ursli in der grossen Stadt fühle er sich, sagt Quadroni.

Gespräch vor dem Podium am Human Rights Film Festival im Zürcher Kosmos: Adam Quadroni mit Alex Biscaro (Transparency International) und Moderator Oliver Classen (Public Eye).
«Ich bin kein Held, Chelsea Manning ist eine Heldin»: Adam Quadroni auf dem Podium. Michelle Ettlin/Human Rights Film Festival

Der Film vor dem Podium ist eine Dokumentation über die Whistle­blowerin Chelsea Manning. Sie spielte 2010 als Mitglied der amerikanischen Streit­kräfte der Plattform Wikileaks Videos und Dokumente zu, die zeigten, wie im Irak und in Afghanistan unbewaffnete Zivilisten durch amerikanische Soldaten getötet wurden. Dafür wurde sie zu 35 Jahren Haft verurteilt. Nach vier Jahren wurde sie 2017 von Präsident Obama begnadigt. Seit Mai 2019 ist sie wieder in Haft.

Quadroni kann dem Film nicht ganz folgen, dafür ist sein Englisch nicht gut genug. Aber er kennt Chelsea Manning – und es ist ihm nicht wohl, mit ihr verglichen zu werden.

Das Gespräch dauert eine gute halbe Stunde, vor 50 Leuten. Es geht ums Baukartell, den schlechten Schutz für Whistle­blower in der Schweiz, die unberechen­baren Folgen für sie.

Nach dem Podium ist Adam Quadroni zufrieden. Und nachdenklich.

«Was würdest du andern in deiner Situation von vor 10 Jahren raten?»

«Ich würde jedem davon abraten, zu tun, was ich getan habe. Nicht, ohne sich vorher zu informieren, welche Stellen einem helfen können. Ohne sich zu überlegen, was passieren könnte. Ich war naiv.»

«Wünschst du manchmal, du hättest es nicht getan?»

«Nein. Ich stehe zu meiner Entscheidung. Früher, als ich noch im Kartell war, habe ich in Saus und Braus gelebt, aber war abhängig von Beruhigungs­medikamenten. Heute habe ich nichts mehr, aber Medikamente brauche ich keine mehr. Das sagt alles.»

Wie Schellen­ursli in der grossen Stadt: Adam Quadroni.

«Glaubst du, du bist ein Held?»

«Nein. Chelsea Manning ist eine Heldin. Bei ihr ging es um Menschen­leben. Ich selbst sehe mich kritisch. Ich war selbst Teil des Kartells. Und ich habe in den Jahren, in denen ich alleine gekämpft habe, in der Verzweiflung auch Fehler gemacht. Aber nicht die Fehler, die mir heute vorgeworfen werden.»

«Welche Fehler meinst du?»

«Ich habe mir nicht eingestehen wollen, dass ich zu schwach war, um es mit dem Kartell alleine aufzunehmen. Ich habe zu lange geglaubt, ich könnte überleben, ohne mitzumachen. Ich war stur, ich bin stur. Das hat mir grösste Probleme bereitet. Andererseits – wenn ich nicht so stur wäre, wäre ich heute schon lang nicht mehr hier.»

«Glaubst du, du bist ein Opfer?»

«Nein. Ich bin kein Opfer. Meine Kinder sind Opfer, weil sie sich nicht wehren können. Alles wird für sie entschieden.»

«Wie ist das, dass alle ein Bild von dir haben?»

«Ich versuche mich nicht davon beirren zu lassen. Aber ich akzeptiere, dass ich in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen muss. Ich habe A gesagt, jetzt muss ich B sagen.»

«Und in welcher Rolle siehst du dich?»

«Als Vater, dem man die Kinder weg­genommen hat, einfach so. Wie es vielen Vätern in der Schweiz geht, auch ohne dass sie ein Baukartell haben auffliegen lassen.»

Samstag: Vater, kinderlos

Am Samstag ist Besuchstag. Nur die jüngste Tochter kommt noch. Adam Quadroni ist wie immer eine Stunde vorher in Chur, damit er keine Minute verpasst. Während er im Café wartet, spendiert ihm jemand Kaffee und Gipfeli.

Auf der Strasse kommen zwei Menschen auf ihn zu und sagen, dass sie Peter Peyer gewählt haben. Dass sie das aber nicht mehr tun würden.

Dann holt er seine Tochter ab. Sie gehen ins Kino, die «Addams Family» schauen, an den Weihnachtsmarkt und ein Spielzeug­pferd abholen, das sie sich beim letzten Mal gewünscht hat.

Als er mit seiner Tochter an der Hand durch die Stadt läuft, wird er von Menschen angesprochen, die ihm gratulieren, sich bedanken oder einfach den Daumen hochhalten.

Um die 25 sind es, schätzt Quadroni.

«Kennst du all die Leute?», fragt die Tochter.

«Nein, mia chara», sagt der Vater

«Warum bedanken sie sich bei dir, Bap?»

«Das ist kompliziert. Vielleicht, weil ich für eine Art Gerechtig­keit kämpfe», sagt der Vater.

«Auch für uns?», fragt die Achtjährige.

«Ja.»

Der Vater kauft der Tochter Bastel­sachen und ein Notizbuch. Auf die erste Seite schreibt sie in grossen Buchstaben: Eu sa nöa. Ich weiss es nicht.

Während er mit seiner Jüngsten unterwegs ist, schreibt seine Mittlere eine Nachricht: «Warum hast du beim Baukartell mitgemacht?», steht da. «Warum fragst du das?», schreibt der Vater zurück. Sie schreibt, dass sie auf dem Pausen­platz angesprochen worden sei, dass ihr Vater im Fernsehen war.

Er würde ihr gerne alles erklären, sagt Adam Quadroni: «Aber dann werfen sie mir wieder vor, ich instrumentalisiere die Kinder.»

Quadroni traut der Kinder- und Jugendschutz­behörde des Kantons nicht. So wie kaum noch einer Behörde. Er will eine Zweit­meinung eines Kinder­psychiaters ausserhalb des Kantons.

Die sechs Stunden sind vorbei. Quadroni gibt seiner Jüngsten die Tasche mit den Samichlaus­säckli für die beiden älteren Schwestern mit.

«Wir müssen uns vor dem Treff­punkt verabschieden, weil mir meine Frau das Kind regelrecht aus den Armen reisst.»

«Warum glaubst du, tut sie das?»

«Ihre Kinder sind ihr Eigentum. Ich habe kein Anrecht drauf. Sie glaubt das wirklich. Sie glaubt, dass das, was sie tut, richtig ist.»

«So wie du?»

«Ja. Ja … Aber ich glaube, ich sehe, wenn jemand anderes unnötig leidet. Und das lasse ich nicht zu. Erst recht nicht bei meinen Kindern.»

«Wird es dir manchmal zu viel?»

«Ja. Aber ich versuche, nicht selbst­mitleidig zu werden.»

Alles anders, alles gleich

Ein weiterer Sonntagabend. In Graubünden hat sich diese Woche einiges verändert. Durch die Mass­nahmen, die nach dem PUK-Bericht getroffen wurden, wird Grau­bünden strukturierter, sicherer, ein Fall wie der von Adam Quadroni unwahr­scheinlicher.

Nur: Der Einzige, der bislang einen Preis für die klaren Fehler mehrerer Behörden bezahlt hat, ist Adam Quadroni – und ein wenig noch die über 2500 Menschen, die für ihn gespendet haben.

«Glaubst du, dass ich eines Tages wieder ein normales Leben führen kann?»

Eigentlich wollte Adam Quadroni noch spazieren gehen, aber kurz vor der Haus­türe kehrte er um. «Ich habe mich wieder verkrochen.» Jetzt ist er alleine in seinem fast leeren Haus. Der Weihnachts­baum von 2017 erlebt bald seine dritten Festtage. Adam Quadroni hat ihn noch immer nicht abgeräumt. Fast alles ist gleich geblieben – nur der Prix Courage in der Ecke ist neu, die Giraffen und Schild­kröten, die seine Töchter vor dem Auszug mit Gelstift auf die Fenster­scheiben gezeichnet haben, sind etwas ausgeblichener als damals, als die Republik vor zwei Jahren das erste Mal bei ihm war.

Wir telefonieren wieder.

«Was hat sich seit unserer ersten Begegnung für dich verändert?

«Ich bin beruhigter als früher. Endlich nicht mehr nur der Spinner oder Übeltäter.»

«Hast du mehr Hoffnung als damals?»

«Nein. In gewisser Weise weniger.»

«Trotz dem Zuspruch, den Spenden, der PUK?»

«Ich will nicht undankbar klingen, aber das Einzige, das für mich zählt, sind nun einmal die Kinder. Und dort hat sich nichts verändert. Und ich weiss nicht, wann und ob das noch passiert.»

Stille am anderen Ende der Leitung.

«Anja?»

«Ja, Adam?»

«Glaubst du, dass ich eines Tages wieder ein normales Leben führen kann?»