«Bis heute gilt, dass viele glauben wollen: ‹Opa war kein Nazi›»
Deutschland gilt als Musterland der Vergangenheitsbewältigung. Lukas Bärfuss hat in seiner Büchner-Preisrede jedoch das grosse Vergessen angeprangert. Ein Gespräch mit Raphael Gross, dem Direktor des Deutschen Historischen Museums zur Frage: Waren die Nazis gar nie weg?
Von Daniel Binswanger, 10.12.2019
Die Frage, wie die Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit zu bewerten ist, steht mit erneuter Brisanz im Raum. Zum einen häufen sich Anzeichen eines Voranschreitens des Rechtsradikalismus in der deutschen Gesellschaft: der Lübcke-Mord, die kürzlich aufgedeckten Fälle von NS-Sympathisanten in der Bundeswehr, der antisemitische Terroranschlag in Halle. Zum anderen ist es immer wieder dazu gekommen, dass führende AfD-Politiker in aggressiver Weise eine Umkehr der deutschen Erinnerungskultur gefordert haben. Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland bezeichnete die Nazi-Zeit bekanntlich als einen «Vogelschiss».
Der Schriftsteller Lukas Bärfuss hat Anfang November in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis entgegengenommen – und eine heftige Debatte ausgelöst. Seine Rede gipfelt in der polemischen Feststellung: «Die Nazis und ihr Gedankengut sind überhaupt nie weggewesen.» In Deutschland wurde Bärfuss’ kompromissloses Plädoyer für die Pflicht zur Erinnerung positiv aufgenommen, in der Schweizer Presse, insbesondere in der «Neuen Zürcher Zeitung», wurde seine Sichtweise hingegen scharf zurückgewiesen. Der renommierte Literaturkritiker Manfred Papst replizierte in der «NZZ am Sonntag»: «Doch er (Bärfuss) blendet aus, dass in Deutschland gerade das Vergessen nicht das Problem ist. Kein Land hat seine Geschichte akribischer und zerknirschter aufgearbeitet.»
Was stimmt nun? Hat man im Nachkriegsdeutschland die Täter geschont und die Schuld verdrängt? Oder gibt es mit dem Vergessen in Deutschland gar kein Problem? Wie bewertet die Wissenschaft die deutsche Vergangenheitsbewältigung?
Die Republik hat diese Fragen Raphael Gross, dem Direktor des Deutschen Historischen Museums, gestellt. Gross stammt ursprünglich aus Zürich, war Professor und Leiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig und zählt zu den führenden Kennern der deutsch-jüdischen Geschichte.
Herr Gross, was gilt: Sind die Nazis nie weggewesen, wie Lukas Bärfuss es formuliert hat? Wird die Vergangenheit verdrängt? Oder hat Deutschland im Gegenteil seine Geschichte akribisch und zerknirscht aufgearbeitet?
So einfach, wie Sie die Frage stellen, ist es natürlich nicht. Es kann in die Irre führen, wenn man versucht, sie geradehin zu beantworten. Wer ist in Ihrer Frage mit «Deutschland» gemeint? Menschen wie der Historiker und Holocaust-Überlebende Josef Wulf oder wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer haben Hervorragendes geleistet, um die deutsche Geschichte nicht dem Vergessen zu überlassen und juristisch gegen die NS-Täter vorzugehen. Sehr viele andere haben anderes getan, etwa der frühere und inzwischen verstorbene Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Hans Georg Filbinger (Anmerkung der Red.: 1978 wurden Beweise öffentlich, dass Filbinger entgegen seinen Behauptungen als Ankläger und Richter der NS-Justiz an mehreren Todesurteilen beteiligt war. Filbinger musste schliesslich zurücktreten.)
«Es gab tatsächlich nicht einen einzigen Richter aus der Zeit des Nationalsozialismus, der später juristisch belangt wurde.»Raphael Gross, Direktor des Deutschen Historischen Museums
Aber Sie als Historiker können bestätigen: Die akribische Aufarbeitung der deutschen Geschichte hat stattgefunden?
Ich weiss nicht, ob ein Hinweis auf die, wie Sie sagen, «akribische» historische Forschung genügen würde, um die Frage zu beantworten, die Lukas Bärfuss in seiner Rede eigentlich umtrieb: Waren die ehemaligen Nationalsozialisten nach dem Krieg plötzlich verschwunden? Welche Funktionen hatten sie innerhalb der deutschen Gesellschaften in Ost und West nach 1945? Und vor allem: Was geschah mit ihrem bösartigen Gedankengut, also ihren politischen und gesellschaftlichen Säuberungs- und Mordfantasien nach 1945?
Wie weit ging nach dem Krieg die «Entnazifizierung»?
Manche werden sich hier zunächst an Zahlen halten – auch Bärfuss nennt in seiner Rede ja Zahlen, die eindrücklich demonstrieren, wie bescheiden die Entnazifizierung in quantitativer Hinsicht gewesen ist. Es gibt dafür auch andere Beispiele: Als ich noch Direktor des Fritz-Bauer-Instituts war, haben wir vor dem ehemaligen Dienstsitz von Fritz Bauer – dem Oberlandesgericht an der Zeil in Frankfurt am Main – einen Gedenkstein und eine Gedenktafel errichtet, ein Kunstwerk von Tamara Grcic. Auf der Tafel geht es allein um die Zahlen, die den Umgang mit den in Auschwitz schuldig gewordenen Personen betreffen: «8000 Deutsche waren in der einen oder anderen Weise an den Verbrechen von Auschwitz vor Ort beteiligt. Von bundesrepublikanischen Gerichten sind 40 von ihnen strafrechtlich belangt worden.» Das sagt viel aus.
Ist diese sehr zurückhaltende Verfolgung der Täter bis heute spürbar?
Es betrifft zunächst natürlich eine andere Generation. Aber vielleicht liegt hier auch eine Antwort auf das oftmals geäusserte Erstaunen, weshalb bei so viel geleisteter historischer Forschung und Vermittlung in Museen, Gedenkstätten und in den Medien das Ausmass und die Bedeutung der nationalsozialistischen Verbrechen in der Öffentlichkeit immer wieder heruntergespielt und relativiert werden. Und auch eine Erklärung dafür, warum viele die Tatsache der doch sehr zögerlichen, oft widerwilligen Aufarbeitung nach all den langen Jahren bis heute nicht wahrhaben wollen.
Aber wie Sie sagen: An Forschung und Vermittlung fehlt es heute nicht.
Es ist auch richtig, dass in immer neuen Anläufen zumindest wichtige Aspekte dessen, was in Deutschland seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts als «Holocaust» bezeichnet wird – die systematische Demütigung, Ausgrenzung, Beraubung, Vertreibung, Deportation und schliesslich millionenfacher Mord – historiografisch beschrieben und öffentlich dargestellt worden ist. Daran haben sicher die Historiker ihren Anteil gehabt – wenn auch meist mit jahrzehntelanger Verzögerung gegenüber den ersten juristischen Verfahren, die noch unter den Alliierten in Ost und West stattgefunden hatten. Zudem ist die Aufklärung über die Verbrechen – denken Sie etwa an den NS-Kunstraub, der erst im 21. Jahrhundert zur Diskussion gelangte, oder die millionenfache industrielle Ausbeutung von KZ-Häftlingen in Lagern, Ghettos und deutschen Industriebetrieben in allen besetzten Teilen Europas – jeweils auf bitteren Widerstand gestossen. Insofern ist weder richtig, dass nichts geschehen wäre – noch, dass man es hier mit einer nur vorbildlichen, geschweige denn ganz freiwilligen Diskussion zu tun hatte.
Wie erleben Sie diese Diskussionskultur heute?
Abstrakt sind viele für «Aufarbeitung» – wenn es dann konkret wird, etwa wenn es darum geht, lieb gewonnene Namen plötzlich kritischer zu betrachten, weil nach Jahrzehnten eine Mitgliedschaft in der NSDAP oder der SS bekannt wird, ist diese Bereitschaft deutlich weniger häufig. Das gilt natürlich auch für das Ausstellungswesen, in dem ich mich bewege: Sobald man mit «Heil Hitler» unterzeichnete Briefe etwa in einer Ausstellung zu Raub und Restitution zeigen will, werden manche Kollegen plötzlich sehr zurückhaltend. Ähnliches lässt sich bei vielen Restitutionsfällen beobachten. Trotz der Washingtoner Erklärung, welche die Beweislast auf die staatlichen Museen überträgt – sie müssen also beweisen können, dass ein Kunstwerk nicht aufgrund der NS-Verfolgung in ihre Sammlung gelangt ist –, wird die Sache doch häufig umgedreht. Man verlangt nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Beweise dafür, dass ein bestimmtes Werk tatsächlich dieser oder jener jüdischen Familie gehörte. Schliesslich gibt es ja auch die private, individuelle Ebene: Hier gilt bis heute vielfach, dass viele – oft gegen die Faktenlage – glauben wollen, was Harald Welzer einmal so auf den Punkt brachte: «Opa war kein Nazi.»
Liegt ein Problem nicht auch darin, dass es bei der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg grosse Unterschiede gegeben hat je nach gesellschaftlichem Bereich? Eine zwar nicht vollständige, aber weitgehende Erneuerung des politischen Personals, aber eine erstaunliche Übernahmebereitschaft im Rechtssystem, an den Universitäten und bei der Bundeswehr.
Die politische Elite aus der Zeit des Nationalsozialismus wurde nicht eins zu eins übernommen: Einige der bekanntesten nationalsozialistischen Politiker sind in den Nürnberger Prozessen angeklagt worden. Schon ein wenig anders sieht es aus, wenn man danach fragt, wie viele ehemalige Mitglieder der NSDAP Bundestagsabgeordnete wurden. Und ganz anders ist der Eindruck, wenn man sich Institutionen wie etwa die Justiz anschaut. Es gab tatsächlich nicht einen einzigen Richter aus der Zeit des Nationalsozialismus, der später juristisch belangt wurde. Gerade hier sind sehr starke Kontinuitäten bis mindestens in die 70er-Jahre hinein festzustellen. Das Bundesministerium der Justiz hat bedrückende Zahlen dazu ermittelt, wie es in seinen Reihen zwischen 1949 und 1973 ausgesehen hat: Von den 170 Juristen in Leitungspositionen des Ministeriums waren 90 der NSDAP und 34 der SA angehörig gewesen. Im Osten sah es natürlich anders aus – hier wurde einfach die Verantwortung für die Verbrechen des NS-Staates insgesamt auf den westlichen Nachbarstaat abgeschoben.
Die Vergangenheitsbewältigung ist immer umkämpft gewesen. Sie erfolgte schubweise, wurde vorangetrieben durch heftige Auseinandersetzungen: die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, der Historikerstreit, die Zwangsarbeiterfrage. Kann man von einem linearen Fortschritt sprechen? Kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Aufarbeitung zwar viel zu lange gedauert hat, aber mittlerweile sehr umfassend ist?
Zunächst einmal eine terminologische Bemerkung: Es gibt verschiedene Ausdrücke, die im Deutschen für die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geprägt wurden. Besonders prominent wurden «Vergangenheitsbewältigung» und «Aufarbeitung». Beide wurden stark kritisiert, auch deshalb, weil sie immer wieder die Vorstellung einer Aufgabe hervorriefen, die man irgendwie erledigen kann. Jeder, der sich mit der Geschichte dieser Verbrechen befasst hat, sieht, wie wenig das passt. Besser ist vielleicht der Ausdruck «historische Gerechtigkeit» oder «transitional justice», hier tritt immerhin der ethische Gesichtspunkt deutlicher hervor.
Und wie beurteilen Sie den Fortschritt dieser historischen Gerechtigkeit?
Von einem linearen Fortschritt kann man sicher nicht sprechen. Es gibt Fortschritte und es gibt genauso Rückschritte. Ich würde mich stark dagegen aussprechen, das als eine einzige Erfolgsgeschichte zu beschreiben. Nehmen Sie etwa die Gerichtsurteile: Bereits Anfang der 50er-Jahre verurteilte ein Gericht in Berlin einen Angehörigen der Wachmannschaft von Sobibor – ein Lager, dessen einziger Zweck die Ermordung von Menschen war – wegen Mordes. Dann änderte sich die Lage. In der folgenden Rechtsprechung, einschliesslich des Auschwitz-Prozesses, wurde bis in die 2000er-Jahre nicht wegen Mordes, sondern wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Hier gab es also einen deutlichen Rückschritt. Und erst in den letzten Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als kaum ein Täter noch etwas zu befürchten hatte und keiner dieser Täter überhaupt noch irgendeinen Einfluss in der Gesellschaft hatte, gab es wieder einen Wandel in der Rechtsprechung. Ich glaube, man muss in Deutschland unterscheiden zwischen der Geschichte der tatsächlichen Aufarbeitung und dem häufig aggressiv geäusserten Gefühl, doch alles Menschenmögliche getan zu haben, das auch immer eine Rolle gespielt hat. Beides klafft leider oft weit auseinander.
Die Deutschen konnten nie in Abrede stellen, das Tätervolk zu sein. In anderen Ländern, die in die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts verstrickt sind, ist das komplizierter. Wie sieht die deutsche Vergangenheitsbewältigung im internationalen Vergleich aus? Ist so ein Vergleich überhaupt sinnvoll?
Ich denke, sinnvoll ist die Frage nur, wenn man sich genau überlegt, welchen Massstab man hier anlegen will. Aber sicher gibt es beträchtliche Unterschiede in Bezug auf die Bedeutung, die die Kenntnis der Fakten in der öffentlichen Auseinandersetzung einnimmt. Ein besonders interessantes Beispiel ist natürlich Österreich, wo die doch recht beschönigende Darstellung, dass das Land das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, und der daraus entstandene Mythos dazu beigetragen haben, sich mit der Tätergeschichte des Landes jahrzehntelang nicht auseinanderzusetzen.
In der Gegenwart gibt es in vielen Ländern einen starken neuen Rechtspopulismus, so auch in Deutschland. Jüngst ist es auch in Halle zu einem antisemitischen Attentat gekommen. Wie hängt das mit der Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus zusammen?
Man kann alle politischen Ereignisse und Bewegungen seit der Zeit des NS in Deutschland als Ergebnis einer gelungenen oder gescheiterten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus betrachten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit scheint dann mehr oder weniger gelungen, je nachdem, welche politische Entwicklung die Gesellschaft gerade nimmt. So hat beispielsweise der Philosoph Hermann Lübbe argumentiert, man habe in der Bundesrepublik über die Beteiligung der Einzelnen am Nationalsozialismus kollektiv geschwiegen, und gerade das habe die Demokratieentwicklung ermöglicht. Dem kann man entgegensetzen: Weil ihr geschwiegen habt, deshalb hat sich wieder völkisches oder gar rechtsradikales Gedankengut verbreitet. Wenn man sich Lübbes Logik zu eigen macht, könnte man auch sagen, dass es besser ist, Verbrechen gar nicht zu ahnden, wenn das den Zusammenhalt einer Gesellschaft verstärkt. Aber müsste man dann nicht auch gleich sagen: Verbrechen sind gut, solange sie nur gute Folgen haben?