Und auch hier, man ahnt es: Kein Neonazi weit und breit
Roger Köppel publiziert in seiner «Weltwoche» ein völlig unkritisches Gespräch mit dem rechtsradikalen AfD-Politiker Björn Höcke. Gemeinsam versuchen die beiden Männer, die deutsche Geschichte zu vergessen und umzudeuten.
Von Daniel Ryser, 02.12.2019
Man kann zum Beispiel, ganz aktuell, die Büchner-Preis-Rede von Lukas Bärfuss lesen, um zu verstehen, was sich da vergangene Woche abgespielt hat zwischen «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel und dem AfD-Politiker Björn Höcke, der zum Beispiel befreundet ist mit Thorsten Heise, einem der gefürchtetsten Neonazis, mehrfach wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft.
«Ich bin ein Schriftsteller aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts», sagte Bärfuss in seiner Rede. «Welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab. (…) Meine Poetik, meine Dramaturgie war mir nie Selbstzweck. Jeden Wohlklang verstand ich als eine Form der Memotechnik, als Methode, um sich lebendig zu erinnern, zu empfinden, daran, was Menschen einander antun können.»
Dann sprach Bärfuss von einem Besuch in Auschwitz.
«Ein Bus fuhr uns hin, ich erinnere mich an einen Fluss, an badende Menschen, an einen Busbahnhof, an das Schild, an die Baracken, an eine Bachstelze, und ich, kaum zwanzig, mit der Frage, wie das alles nur hatte geschehen können, was denn eigentlich mit diesem Kontinent, mit Europa, das Problem war. Dort bin ich geblieben, dort bin ich noch immer. An diesem Ort, mit dieser Frage. Sie hat mich gebildet. Ihr fühle ich mich verpflichtet. Dass ich hier stehe, heute, auf dieser Bühne, habe ich dem zwanzigsten Jahrhundert zu verdanken.»
«Dort bin ich geblieben, dort bin ich noch immer»: Die Erinnerung als ständig begleitendes Mahnmal, die Geschichte nicht zu wiederholen.
Roger Köppel und Björn Höcke helfen sich im «Weltwoche»-Gespräch gegenseitig, die deutsche Geschichte zu vergessen, sie zu leugnen und umzudeuten.
Januar 2017 in Dresden zum Beispiel.
Nie wieder «Nie wieder Auschwitz»
Björn Höcke sagt mit sich überschlagender Stimme, vor einem tobenden Saal, in Bezug auf das Holocaust-Denkmal in Berlin: «Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. (…) Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.»
Im Ausschlussverfahren seiner eigenen Partei gegen ihn wird man ihm dort wegen jener Rede «eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus» unterstellen.
Köppel fragt nach. Aber nicht zum Holocaust, nicht zum «Mahnmal der Schande». Er fragt stattdessen, wie Höcke das denn gemeint habe mit der «erinnerungspolitischen Wende». Höcke antwortet: «Man soll die schlechten Seiten der deutschen Geschichte nicht ausblenden, aber man soll die guten Seiten ins Zentrum des Erinnerns stellen.»
Am selben Tag, als das Gespräch zwischen Köppel und Höcke publiziert wird, erscheint auch eine Umfrage des deutschen Meinungsforschungsinstituts Forsa. Das Ergebnis: AfD-Wählerinnen und Wähler seien viel radikaler als gedacht – 75 Prozent lehnten das demokratische System ab.
Und sie wollen sich nicht mehr erinnern: 80 Prozent sind der Meinung, dass man einen Schlussstrich unter den Nationalsozialismus ziehen müsse. 42 Prozent wünschen sich wieder einen «Führer». 15 Prozent glauben an die «Auschwitz-Lüge». Und 64 Prozent sind der Meinung, dass «die Juden Geld von Deutschland kassiert» hätten und es «damit jetzt genug» sei.
Kein Wort dazu in der «Weltwoche».
Stattdessen befeuert Höcke unwidersprochen antisemitische Verschwörungstheorien. Er sagt zu Köppel: «Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es mit einer geschlossenen transatlantischen Politelite zu tun haben, die mit allen möglichen Institutionen verzahnt ist. Diese Leute sitzen an den Hebeln der Macht. Ihnen geht es darum, die Vielfalt der nationalen Kulturen im Sinne einer One-World-Ideologie glattzuschleifen (…) Wir legen uns mit mächtigen Kreisen an.» Und Köppel antwortet: «Sind Sie für Volksentscheide nach Schweizer Vorbild?»
Geschichte als «Hure der Politik»
Es gebe in den «deutschen Mainstream-Medien keine richtigen Interviews» mit Höcke, schreibt Köppel einführend. Das ist eine Behauptung. Am Parteitag in Braunschweig etwa verweigerten AfD-Mitglieder Journalisten Interviews, die kritische Fragen zur aktuellen AfD-Spendenaffäre stellen wollten. Auch Höcke mag es nicht, wenn jemand kritisch fragt. So verweigerte er im Oktober dem Journalisten Tilo Jung von «Jung & Naiv» ein Interview. Jung hatte mit Höcke über dessen Zeit als Lehrer sprechen wollen. Oder besser gesagt: über eine Angelegenheit aus jener Zeit.
Köppel stellt nur fest: «Sie waren Gymnasiallehrer für Geschichte, im Westen», damit Höcke sagen kann, ja, das stimme, und dass er als Lehrer die «gesellschaftlichen Fehlentwicklungen» hautnah habe miterleben dürfen. Tilo Jung aber hätte, so berichtet er in einem Beitrag auf Youtube, Höcke fragen wollen, wie es mit einem Engagement aus jener Zeit stehe, einem Engagement, das auch eines der Hauptargumente war für das Ausschlussverfahren, das Mitglieder seiner eigenen Partei gegen Höcke angestrebt hatten und das jetzt ebenfalls unter anderem dazu geführt hat, dass der Verfassungsschutz Höckes Parteiflügel als «extremistischen Verdachtsfall» einstuft.
Tilo Jung hätte fragen wollen: Als Sie Lehrer waren, Herr Höcke, schrieben Sie unter anderem in Thorsten Heises Neonazi-Zeitschrift «Volk in Bewegung» mehrere Texte unter dem Pseudonym Landolf Ladig. In einem der Texte von 2011 wird eine «Neubewertung» der Geschichte gefordert und dass «eben nicht die Aggressivität der Deutschen ursächlich für zwei Weltkriege war, sondern letztlich ihr Fleiss, ihre Formliebe und ihr Ideenreichtum. Das europäische Kraftzentrum entwickelte sich so prächtig, dass die etablierten Machtzentren sich gezwungen sahen, zwei ökonomische Präventivkriege gegen das Deutsche Reich zu führen.»
Was sagen Sie dazu, Herr Höcke?
Keine Antwort.
Stattdessen sagt er in der «Weltwoche», die in keinem Wort auf die Landolf-Ladig-Sache eingeht: «Die Geschichte ist die Hure der Politik. Geschichte wird von den jeweils Herrschenden immer missbraucht, um die eigene Herrschaft zu legitimieren.»
«Wie erleben Sie die Anfeindungen?»
Von aussen, konstatiert der Schweizer Roger Köppel zur Person Höcke, lasse sich «die Hysterie schwer nachvollziehen». Und weiter: «In Deutschland muss man Höcke inzwischen dämonisieren, um nicht selbst dämonisiert zu werden.»
Die Dämonisierung des Björn Höcke: des Mannes, der den damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel als «Volksverräter» bezeichnet hat und politische Gegner als «Lumpenpack». Der 2015 in Erfurt in Anspielung auf Adolf Hitler davon sprach, Deutschland dürfe nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit haben, sondern «auch eine tausendjährige Zukunft». Und der beim sogenannten «Kyffhäusertreffen» von 2018 sagte, die «Zeit des Wolfes» sei gekommen, so wie einst Goebbels davon gesprochen hatte, man werde kommen wie der Wolf, der in die Schafherde einbreche.
Höckes Anhänger verprügelten währenddessen unter den Augen von Polizisten Journalisten.
Roger Köppel hat dann noch ein paar Fragen: Herr Höcke, suchen Sie die Grenze, den Tabubruch, ganz gezielt? Sind Ihre Fahnenumzüge Provokation? Hat Deutschland eine gestörte Identität? Was sagt Ihre Frau dazu?
Nirgendwo im Text ein Nazi. Nirgendwo Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten. Nirgendwo die Filmaufnahmen, die Höcke zeigen, wie er auf einer Nazi-Demo «Schande» skandiert. Nirgendwo die Neonazi-Grösse Thorsten Heise, mit der Höcke befreundet ist und der ihm beim Zügeln half. Nirgendwo Landolf Ladig und seine «ökonomischen Präventivkriege gegen das Deutsche Reich».
Dann kommen Köppel und Höcke auf die Ausschreitungen von Chemnitz zu sprechen, und auch hier, man ahnt es: kein Neonazi weit und breit.
Im September 2018 hatte sich in Chemnitz eine als «Trauermarsch» angekündigte Veranstaltung, die unter anderem von Björn Höcke angeführt worden war, als Demonstration von Rechtsradikalen entpuppt. Köppel war als Journalist auch dabei. Ein Foto zeigt ihn, wie er neben dem Neonazi Yves Rahmel steht, der als Betreiber einer Neonazi-Plattenfirma einst ein Lied namens «Döner-Killer» veröffentlicht hatte, wo sich eine Nazi-Band über türkische Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) lustig machte – Jahre bevor der NSU überhaupt enttarnt wurde.
Später hiess es in einem vertraulichen Bericht des sächsischen Landeskriminalamtes, die Chemnitzer Demonstration sei geprägt gewesen durch «eine hohe Gewaltbereitschaft gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten, Personen mit tatsächlichem oder scheinbarem Migrationshintergrund, politischen Gegnern sowie Journalisten».
Mittendrin: Journalist Köppel, der inzwischen geschichtsvergessene Historiker, blind und taub.
Köppel fragt: «Vor einem Jahr sollen in Chemnitz Nazis den Hitlergruss gezeigt haben?»
Höcke antwortet: «Der einzige Mann, der deswegen bisher verurteilt wurde, war ein Linksextremer, eine gescheiterte Existenz.»
Auf die Frage, warum er kürzlich ein Interview abgebrochen habe, sagt Höcke: «Vergessen Sie nicht, dass ich in den letzten sechs Jahren so geprügelt worden bin wie wahrscheinlich kein Politiker seit 1945.»
Das sagt derselbe Mann, der in Bezug auf die deutsche Flüchtlingspolitik davon sprach, dunkle Hintermänner transatlantischer Eliten würden mit einer gesteuerten Migrationspolitik die deutsche Bevölkerung austauschen wollen und Bundeskanzlerin Merkel werde sich dafür irgendwann vor Gericht verantworten müssen. Der Mann, der damit ein gesellschaftliches Klima mitgeprägt hat, in dem, zum Beispiel, der CDU-Politiker Walter Lübcke wegen seines Engagements für Flüchtlinge zuerst massiv mit dem Tod bedroht und dann im Sommer von einem Neonazi ermordet wurde.
Köppels Nachfrage stattdessen: «Wie erleben Sie die Anfeindungen?»
Gemeinsam sinniert man über den einstigen CDU-Bundeskanzler Ludwig Erhard, als sei Höcke ein geistiger Erbe des deutschen Konservativismus, als habe der Nationalsozialismus nicht genau auch darauf abgezielt, ebendiesen Konservativismus zu zerstören.
Zum Schluss fragt Roger Köppel Björn Höcke, den man laut einem Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen als «Faschisten» bezeichnen darf, weil diese Bezeichnung in Höckes Fall auf einer «überprüfbaren Tatsachengrundlage» beruhe: «Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie seien aus der Zeit gefallen, eine Art Don Quichotte, der sich gegen Unabänderlichkeiten auflehnt?»
Antwort Höcke: «(lacht) Wenn schon, dann bin ich ein Don Quichotte des gesunden Menschenverstandes.»
Diese Kumpanei, wohl wenig zufällig zwei Tage vor dem AfD-Parteitag in Braunschweig publiziert, sie dauert ganze fünf Seiten: «Angesichts der Brisanz der Debatte und der massiven Aufgeregtheit dokumentieren wir das Interview in voller Länge», so Köppel. Doch die Umarmung mit dem deutschen Rechtsradikalismus, diese Rechnung ist in der Schweiz schon einmal nicht aufgegangen. Und das ist vielleicht die einzige beruhigende (und gleichzeitig irgendwie auch beunruhigende) Erkenntnis in dieser Angelegenheit: Es gab keinen Shitstorm. Keine Aufregung. Das Gespräch ging sang- und klanglos hinter der «Weltwoche»-Paywall unter.