Setzt auf Radau statt auf Merkel: Europa­politiker Emmanuel Macron. Mikhail Metzel/TASS/Getty Images

Die Rückkehr der Avantgarde

In der EU bahnt sich eine geopolitische Zeitenwende an: Weltpolitik und Klimakrise stärken Frankreich – und zwingen Deutschland zum Umdenken.

Eine Analyse von Joseph de Weck, 25.11.2019

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Vor 25 Jahren stellten zwei deutsche CDU-Politiker folgende These auf: «Der europäische Einigungs­prozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt.» Mit der Aufnahme neuer Mitglieds­länder werde die EU heterogener, weniger handlungs­fähig. Eine Gruppe fortschritts­williger Staaten um Deutschland und Frankreich müsse darum auf dem Weg zur Vertiefung der Union allein voranschreiten.

Die beiden Christ­demokraten schrieben damals, vorrangig seien eine gemeinsame Sozial- und Migrations­politik, eine unter den Ländern gut abgestimmte Haushalts­politik und vor allem eine gemeinsame Aussen- und Sicherheits­politik. Sonst werde sich die Europäische Union «unaufhaltsam zu einer lockeren, im Wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation (...) entwickeln. Mit einer solchen ‹gehobenen› Freihandels­zone wären die existentiellen Probleme der europäischen Gesellschaften und ihre äusseren Heraus­forderungen nicht zu bewältigen.»

Skizzierte 1994 die Idee eines «Kerneuropa»: Wolfgang Schäuble, damals CDU/CSU-Fraktions­chef, heute Bundestags­präsident. Schicke/Ullstein/Getty Images

Einer der beiden Autoren war niemand Geringerer als Wolfgang Schäuble, damals Fraktions­chef der CDU/CSU. Mit dem stets bescheidenen CDU-Abgeordneten Karl Lamers skizzierte der heutige Bundestags­präsident im Jahr 1994 die Idee eines «Kerneuropa». Die EU solle sich erweitern, die mittel- und osteuropäischen Staaten aufnehmen. Gleichzeitig sollten jene EU-Mitglieder, die es wünschten, die europäische Integration vertiefen und die Wirtschafts­union zu einer politischen Union weiterentwickeln.

Es kam zur angestrebten Erweiterung – aber nicht zur Vertiefung. Die EU wuchs von 12 auf 28 Mitglieder, der Euro wurde Tatsache. Doch die angestrebte politische Union blieb Stück­werk, namentlich deshalb, weil die Staats­nation Frankreich ambivalent blieb: Rhetorisch forderten alle französischen Präsidenten «mehr Europa», faktisch bremsten sie.

Wiederkehrende Europa-Träume

Unterdessen erlebte die Kerneuropa-Idee mehrere Revivals. In einer berühmten Rede an der Berliner Humboldt-Universität forderte der grüne deutsche Aussen­minister Joschka Fischer, Paris und Berlin müssten «die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein». Das war im Jahr 2000. In einer Art Synthese der Ansätze von Schäuble und Fischer erhofft sich der Philosoph Jürgen Habermas ein «avant­gardistisches Kern­europa», wie er 2016 der «Zeit» sagte. Und jüngst hat sich Emmanuel Macron in die Reihe der «Kern­europäer» gestellt.

Frankreichs Staatspräsident zitiert gern seinen Vorgänger François Mitterrand: «Europa ist nicht nur ein Markt!» Vor seiner Wahl 2017 versprach Macron, ebenfalls in einer Humboldt-Rede, ein «souveränes Europa» im Schulter­schluss mit Berlin.

Doch bislang sind Macrons Europa-Träume Träume geblieben. Angela Merkel war zwar von den Schmeicheleien des Franzosen angetan. Aber mit ihrer humanitären Politik im «Flüchtlings­jahr» 2015 verlor die deutsche Kanzlerin viele Sympathien in der eigenen Partei und der Schwester­partei CSU. Sie verfügte nicht mehr über das politische Kapital, um eine ehrgeizige Europa-Agenda in der Bundes­republik durchzusetzen. Das minderte sofort ihr Gewicht bei den Verbündeten Deutschlands in der EU. Zutiefst enttäuschte die Kanzlerin den französischen Präsidenten.

Macrons laute Töne

Die Folge: Statt auf Merkel setzt Macron nun auf Radau.

Mit Erfolg geht der junge Präsident ganz Europa auf die Nerven. Im August lud er Russlands Präsidenten Wladimir Putin zum Besuch – Macron erklärte, Europa müsse wieder mit Moskau ins Gespräch kommen. Im Oktober blockierte Paris den Start der Verhandlungen über den EU-Beitritt Albaniens und Nord­mazedoniens. Zuletzt erklärte Macron in einem Interview mit dem «Economist» das transatlantische Militär­bündnis Nato für «hirntot». Er wisse nicht, ob das Versprechen der Bündnis­partner, einander im Kriegs­fall beizustehen, noch gelte.

Eine geschwächte EU profitiere von einer Kooperation mit Moskau: Macron mit Wladimir Putin im August in Marseille. Alexei Druzhinin/TASS/Getty Images

Der Wahlmonarch im Élysée-Palast sägt sehr bewusst an den beiden bisherigen Pfeilern der Sicherheits­architektur Europas: Die Zusammen­arbeit mit den USA im Rahmen der Nato dient in erster Linie dem Eindämmen russischer Ambitionen in Osteuropa. Die EU-Erweiterungs­politik soll Konflikte zwischen den ehemals sozialistischen und nun nationalistischen Staaten Ost- und Südost­europas abwenden.

In den europäischen Haupt­städten sind die Aufregung und die Empörung gross. Die Nato sei sehr wohl alive and kicking, beteuern Regierungs­spitzen in Deutschland, Italien und Polen. Macrons eigenmächtige Politik und sein Redeschwall gefährdeten die Sicherheit der östlichen EU-Mitglieder und die Stabilität auf dem Balkan, lautet der Tadel.

Macron ist erwiesener­massen ein schlechter Verlierer. Hinter seinem Vorgehen steht jedoch weit mehr als nur die Babystrategie, so lang zu schreien, bis man erhält, was man will.

Denn Macron glaubt lediglich zu formulieren, was längst allen klar sein sollte: Die Nato ist in ihrer wichtigsten Funktion – der Abschreckung Russlands in Osteuropa durch das Risiko eines US-Gegenschlags – nicht mehr glaubwürdig. Der amerikanische Präsident Donald Trump scheut militärische Auseinander­setzungen wie der Teufel das Weihwasser.

Beispiel Iran. Schlag auf Schlag erfolgen das Kapern eines britischen Tankers, der Abschuss einer US-Drohne, der Angriff auf die grösste Ölraffinerie Saudi­arabiens und zuletzt der Bau eines zweiten Atom­kraft­werks – Teheran dreht an der Eskalations­spirale. Doch Trump bläst angekündigte Vergeltungs­schläge in vorletzter Minute ab. Im Fernsehen erklärt er, sich im Nahen Osten zu engagieren, sei der grösste Fehler, den die Vereinigten Staaten je gemacht hätten.

In Nordkorea und Venezuela zeigt sich das gleiche Bild. Trump droht auf Twitter, aber hält er einmal den Finger am Abzug, ist er wesentlich zurück­haltender als seine Vorgänger.

Die US-Aussen­politik wird «europäischer» …

Und auch für Europa fühlt sich Trump – wenn überhaupt – nur am Rande verantwortlich.

An der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September traf Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Auf dessen Frage, ob die USA die Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland stärker unterstützen würden, erklärte der Amerikaner, die Verantwortung für die Ukraine trage in erster Linie Europa. Dem sichtlich enttäuschten Selenski teilte der US-Präsident noch mit, er hoffe, er könne sein Problem mit Putin selber lösen.

Trumps Desinteresse an der Sicherheit Europas zeigte sich drastischer noch beim Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien. Die darauf­folgende Offensive der Türkei verhalf inhaftierten Terroristen des Islamischen Staats zur Flucht. Trump sagte dazu achselzuckend: «Nun ja, die werden nach Europa flüchten. Dorthin wollen sie gehen. Sie wollen nach Hause. (...) Wir hätten sie den Europäern gegeben, aber diese wollten sie nicht.»

Mit der aktuellen US-Regierung sei die Nato nicht mehr glaubwürdig: Macron mit Donald Trump Ende August im französischen Biarritz. Francois Mori/Pool/Ap Photo/Keystone

Selbst wenn Trump nächstes Jahr abgewählt werden sollte – die USA werden noch eine Zeit lang isolationistisch bleiben, wie sie es nach dem Ersten Weltkrieg waren. Bereits Barack Obama verstand die Rolle der USA in Europa eher als leader from behind. Wie Trump drängte er die Europäer zu mehr Selbst­verantwortung. Es ist auch mehr als ein Zufall, dass der neueste aussen­politische Thinktank in Washington nach John Quincy Adams benannt ist. Der ehemalige US-Präsident erklärte in einer berühmten Rede zum 4. Juli 1821: «Amerika begibt sich nicht ins Ausland, um dort Monster zu suchen und zu zerstören.» Der Devise folgend, empfiehlt die Denkfabrik den Vereinigten Staaten, ihr militärisches Engagement im Ausland zurückzufahren und das Dogma aufzugeben, immer das mit Abstand stärkste Militär der Welt zu haben. Die Anschub­finanzierung leisteten der liberale Milliardär George Soros und der erzkonservative Industrielle Charles Koch.

Längst ist nicht nur Trump für America first. Auch sein linker demokratischer Heraus­forderer Bernie Sanders fordert: Die Vereinigten Staaten sollten sich in erster Linie um sich selbst kümmern und in der Aussen­politik auf wirtschaftliche Druck­mittel – Handels­zölle, Finanz­sanktionen – statt auf das Militär setzen.

… und jene Gross­britanniens «schweizerischer»

Beim allmählichen Abschied von der Weltpolitik ist London schon einen Schritt weiter. Die Suezkrise hatte 1956 das Ende des britischen Empire besiegelt. Nach dem Debakel im Irak 2003 und in Libyen 2011 hat Gross­britannien nun auch die Rolle des Junior­partners der USA aufgegeben.

2013 setzte Bashar al-Assad im syrischen Bürger­krieg chemische Waffen gegen seine Bevölkerung ein. Washington, London und Paris planten zur Bestrafung Raketen­angriffe. Doch das Unterhaus untersagte Premier­minister David Cameron diesen Einsatz. Auch namhafte spätere Brexit-Befürworter stimmten Nein. Denn sie trauern nicht unbedingt dem Empire nach. Im Gegenteil, sie sehnen sich nach dem wohligen Nischen­dasein der Schweiz.

Es ist mehr als blosse Symbolik, dass die Konservativen bereit sind, Nordirland – die erste Kolonie der britischen Krone überhaupt – für den Brexit fallenzulassen. Im Gespräch sagen EU-Austritts­befürworter offen: «Klein ist doch fein». Und wenn auch die Schotten eigene Wege gehen wollen, dann sollen sie! Die Brexiteers wollen primär eine kurzfristige Interessen­politik verfolgen, zum Beispiel ein Freihandels­abkommen mit China abschliessen.

Paris macht mobil

Für Macron hat Europa angesichts dieser geopolitischen Ausgangs­lage keine Wahl: Die EU muss schleunigst aussen- und verteidigungs­politisch handlungs­fähig werden. Und da die Europäische Union im Allein­gang Russlands geballter Militär­kraft (noch) nicht standhalten kann, muss sie die Kooperation mit Putin suchen und Zeit gewinnen.

Denn nicht nur Russland macht der EU in der Ukraine, in Syrien und in Libyen das Leben schwer. Auch der Nato-Partner Türkei gibt mit der Invasion in Syrien den Anstoss für eine neue Flüchtlings­welle. Und das immer autoritärer werdende China versucht sich in Europas Handels- und Daten­infrastruktur einzunisten.

Paris will, dass die EU-Länder Wirtschafts­sanktionen nicht mehr einstimmig, sondern per Mehrheit beschliessen. Chinesische Beteiligungen an europäischen Unter­nehmen sollen einer Genehmigung durch Brüssel bedürfen. Beim Aufbau der neuen Internet­technologie 5G soll die EU auf die skandinavischen Anbieter Ericsson und Nokia statt auf staatsnahe chinesische Unter­nehmen wie Huawei setzen. «Wenn wir nicht gemeinsam handeln, kann ich in fünf Jahren meinen Mitbürgern nicht mehr sagen: Eure Daten sind geschützt», begründet Macron seine Forderung.

Peking sei ein Sicherheitsrisiko: Macron mit Xi Jinping Ende März in Paris. Chesnot/Getty Images

Auch in der praktischen Diplomatie will der französische Präsident das europäische Klein-Klein überwinden. So lud er beim Paris-Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im März Kanzlerin Merkel und den EU-Kommissions­präsidenten Jean-Claude Juncker dazu. Zu seinem Gegen­besuch in Peking diesen November nahm er deutsche Minister, den designierten EU-Handels­kommissar und eine Gruppe deutsch-französischer Unternehmens­chefs mit.

Berlin verblasst

Solche Pariser Vereinnahmung weckt in Berlin gemischte Gefühle. Gegenüber China, seit 2016 Deutschlands grösstem Exportmarkt, hat Berlin nämlich seine eigenen, ganz anderen Interessen. Griechenland, Ungarn und Kroatien ernten oft den Vorwurf, sich von China durch Infrastruktur­projekte kaufen zu lassen. In Wahrheit ist in Europa jedoch keine Wirtschaft annähernd so abhängig von Peking wie die deutsche.

Die 5G-Frage wiederum illustriert Deutschlands China-Dilemma. Verteidigungs­ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, auch AKK genannt, Aussen­minister Heiko Maas und die Geheim­dienste drängen die Kanzlerin, chinesische Unter­nehmen vom Aufbau der 5G-Infra­struktur auszuschliessen. Doch Merkel setzte sich über ihren Rat hinweg. Dieser Tage ist China eine der wenigen verbleibenden Quellen wirtschaftlichen Wachstums für die Bundesrepublik.

Die neue geopolitische Realität ist für Berlin ungemütlich: Gerade im Osten der EU wird dies offensichtlich. Widerwillig müssen jetzt die dortigen Staaten für ihre Sicherheit auch auf Frankreich setzen. Dieses kann zwar den weitgehenden Wegfall der USA nicht annähernd kompensieren. Aber Frankreich ist die einzige verbleibende EU-Atommacht mit einem Präsidenten, der auch Ober­befehlshaber der Armee ist. Die baltischen Staaten suchen den Draht zu Emmanuel Macron. In Ungarn fordert der autoritäre Viktor Orbán seit langem eine europäische Verteidigungs­politik und trifft Macron zum Tête-à-Tête. Er soll die anderen Visegrád-Staaten Polen, Tschechien und die Slowakei zum Mitmachen bewegen.

Deutschland tritt in diesem Karussell in den Hinter­grund, zumal man im Osten Europas Berlin nicht wirklich traut. Die Geschichte wiegt schwer – in Polen kennt jedes Kind den Hitler-Stalin-Pakt. Der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2, die auf dem Weg von Russland nach Deutschland elegant die Ukraine und die osteuropäischen EU-Staaten umgeht, mehrt die Ängste. Und sogenannte «Russland-Versteher» gibt es (mit Ausnahme der Grünen) in allen deutschen Parteien.

Auch in Frankreichs Politelite gibt es seit langem eine passion russe – eine leiden­schaftliche Verbundenheit zu Russland. Paris hat der Idee des «Endes der Geschichte», wonach der Kollaps der Sowjet­union den Übergang zu einer friedlichen, von demokratischen Staaten dominierten Weltordnung einleitet, nie wirklich getraut. Mit ihrer Haltung geniessen die Franzosen zwar wenig Vertrauen in Osteuropa – doch die Deutschen noch weniger: Wer will schon auf Deutschlands «Parlaments­armee» setzen, deren Streitkräfte bereits Mühe haben, das Kanzler­flugzeug instand zu halten? Die französischen Militär­budgets wurden deutlich weniger zurück­gefahren als in Deutschland. Jetzt sieht man sich in Paris bestätigt, und die Macht­verhältnisse innerhalb der Europäischen Union verschieben sich zugunsten Frankreichs.

AKK lanciert neue Debatten

Indessen kommt nun auch in der Bundes­republik eine Debatte zur Aussen- und Sicherheits­politik in Fahrt. In einem «Spiegel»-Beitrag gab Aussen­minister Heiko Maas die erwartbare Antwort an Macron: Die Bundes­republik wolle und brauche die Nato nach wie vor, schrieb der SPD-Politiker.

Doch in einer Münchner Rede zeigte CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer klare Differenzen sowohl zu Maas als auch zu Merkel. Wie Macron konstatiert sie, die USA seien auf dem Rückzug und China werde zum Sicherheits­risiko. Deutschlands friedliche Existenz inmitten Europas und die globale Wirtschafts­ordnung, die das Land reich gemacht habe, kämen nicht frei Haus. Frankreich zum Beispiel leiste in Nordafrika den Grossteil der Arbeit im Kampf gegen Terroristen. Aber «wir können nur auf die Solidarität der anderen zählen, wenn wir selbst Solidarität zeigen», so AKK. Sie beliess es nicht bei Phrasen. Vielmehr will sie die Bundes­wehr nach Nordsyrien entsenden, um eine internationale Schutz­zone zu errichten. Die Verteidigungs­minister Deutschlands, Frankreichs und Gross­britanniens sollen sich im sogenannten E3-Format regelmässig treffen und gemeinsame Positionen erarbeiten.

Um Berlins Handlungs­fähigkeit zu stärken, forderte die Verteidigungs­ministerin auch einen nationalen Sicherheits­rat und schnellere Verfahren im Bundes­tag zur Genehmigung von Auslands­einsätzen. Wolfgang Schäuble, der die unpopuläre Kramp-Karrenbauer nicht leiden kann, gab ihr Rücken­deckung. Und auch in Bezug auf 5G ist Angela Merkel zunehmend isoliert. Die Verteidigungs­ministerin und die CDU-Fraktion wollen via Parlaments­beschluss die Kanzlerin zwingen, auf Frankreichs Kurs einzuschwenken, und damit Chinas Anbieter de facto ausschliessen.

Erweiterung und Vertiefung

In Frankreich weckt diese Entwicklung leise Hoffnungen. Doch Macron ist ungeduldig. Und legt die Brech­stange an, um seine Europa-Vision durchzudrücken: Sein Veto gegen die Beitritts­gespräche der EU mit Albanien und Nord­mazedonien soll die Partner aufrütteln. Denn der französische Präsident sieht es wie Wolfgang Schäuble anno 1994: «Die Bildung einer Kern­gruppe ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, an sich widerstreitende Ziele – Vertiefung und Erweiterung – miteinander zu vereinbaren.»

Bis zum Frühling 2020 will Paris eine Neugestaltung des EU-Aufnahme­prozesses und Fortschritte in der Vertiefung der Union sehen, damit es sein Veto aufhebt. Macron macht den Balkan einmal mehr zum Spielball eines Gerangels europäischer Grossmächte.

Ob der Erpressungsversuch gelingt? Eine Gruppe von sechs Staaten (Österreich, Tschechien, Polen, Slowakei, Italien und Slowenien) hat in einem Brief ihre Unter­stützung für eine Reform des Aufnahme­prozesses bekundet. Auch ist Berlin bemüht, endlich aus der Defensive zu kommen und eigene europa­politische Vorschläge zu machen. Finanz­minister Olaf Scholz hat beim jahre­langen Streit über die Einführung einer europäischen Bank­einlagen­versicherung Zugeständnisse gemacht. Kommt es tatsächlich zu einer Vollendung der Banken­union, wäre ein grosser Schritt für die Stabilisierung des Euro getan. Und: Berlin und Paris möchten, sobald im Sommer ein entsprechender Bericht der OECD vorliegt, in der EU eine Mindest­steuer für Unter­nehmen durchsetzen, um den Exzessen des Steuer­wettbewerbs zu wehren.

Ausblick

Den EU-Europäern gelangen Integrations­sprünge bislang immer unter einer Bedingung: Es gab einen länder- und partei­übergreifenden Konsens zu den Fragen «Was ist das Problem?» und «Was ist zu tun?».

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich die EU-Gründungs­mitglieder einig: Der Frieden muss gesichert und ein gemeinsamer Markt geschaffen werden, damit Europas Industrie gegenüber den USA konkurrenz­fähig wird. Die Antwort war die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Abschaffung der Handels­zölle in den Römischen Verträgen (1957), den Gründungs­verträgen des heutigen EU-Europa.

Dreissig Jahre später bildete sich ein neuer Konsens. Die keynesianische Wirtschafts­politik war an ihre Grenzen gestossen – nun setzte die EU auf mehr Wettbewerb, um die Wirtschaft zu beleben. Mit der Europäischen Akte von 1986 schaffte sie den Binnen­markt, wie wir ihn heute kennen.

Jetzt, noch einmal dreissig Jahre später, nähern sich allmählich wieder die Sicht­weisen an: Europa muss Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Und der Klima­notstand erfordert ein Wirtschafts­modell, das dem Staat als Regulator, Investor und Organisator einer sozial­verträglichen Transition wieder einen grösseren Stellen­wert einräumt.

Der Lauf der Geschichte befördert also die klassisch-französische Vorstellung einer EU als voluntaristische Kraft, die bewusst die Welt­politik mitgestaltet und die Wirtschaft domptiert. Die europäische Avantgarde verspürt erstmals seit langem wieder Rückenwind.

Der Autor

Joseph de Weck ist Historiker und Politologe in Paris. Er schreibt eine monatliche Kolumne zur französischen Europa- und Aussen­politik für das «Berlin Policy Journal» der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).