Die Rückkehr der Avantgarde
In der EU bahnt sich eine geopolitische Zeitenwende an: Weltpolitik und Klimakrise stärken Frankreich – und zwingen Deutschland zum Umdenken.
Eine Analyse von Joseph de Weck, 25.11.2019
Vor 25 Jahren stellten zwei deutsche CDU-Politiker folgende These auf: «Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt.» Mit der Aufnahme neuer Mitgliedsländer werde die EU heterogener, weniger handlungsfähig. Eine Gruppe fortschrittswilliger Staaten um Deutschland und Frankreich müsse darum auf dem Weg zur Vertiefung der Union allein voranschreiten.
Die beiden Christdemokraten schrieben damals, vorrangig seien eine gemeinsame Sozial- und Migrationspolitik, eine unter den Ländern gut abgestimmte Haushaltspolitik und vor allem eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik. Sonst werde sich die Europäische Union «unaufhaltsam zu einer lockeren, im Wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation (...) entwickeln. Mit einer solchen ‹gehobenen› Freihandelszone wären die existentiellen Probleme der europäischen Gesellschaften und ihre äusseren Herausforderungen nicht zu bewältigen.»
Einer der beiden Autoren war niemand Geringerer als Wolfgang Schäuble, damals Fraktionschef der CDU/CSU. Mit dem stets bescheidenen CDU-Abgeordneten Karl Lamers skizzierte der heutige Bundestagspräsident im Jahr 1994 die Idee eines «Kerneuropa». Die EU solle sich erweitern, die mittel- und osteuropäischen Staaten aufnehmen. Gleichzeitig sollten jene EU-Mitglieder, die es wünschten, die europäische Integration vertiefen und die Wirtschaftsunion zu einer politischen Union weiterentwickeln.
Es kam zur angestrebten Erweiterung – aber nicht zur Vertiefung. Die EU wuchs von 12 auf 28 Mitglieder, der Euro wurde Tatsache. Doch die angestrebte politische Union blieb Stückwerk, namentlich deshalb, weil die Staatsnation Frankreich ambivalent blieb: Rhetorisch forderten alle französischen Präsidenten «mehr Europa», faktisch bremsten sie.
Wiederkehrende Europa-Träume
Unterdessen erlebte die Kerneuropa-Idee mehrere Revivals. In einer berühmten Rede an der Berliner Humboldt-Universität forderte der grüne deutsche Aussenminister Joschka Fischer, Paris und Berlin müssten «die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein». Das war im Jahr 2000. In einer Art Synthese der Ansätze von Schäuble und Fischer erhofft sich der Philosoph Jürgen Habermas ein «avantgardistisches Kerneuropa», wie er 2016 der «Zeit» sagte. Und jüngst hat sich Emmanuel Macron in die Reihe der «Kerneuropäer» gestellt.
Frankreichs Staatspräsident zitiert gern seinen Vorgänger François Mitterrand: «Europa ist nicht nur ein Markt!» Vor seiner Wahl 2017 versprach Macron, ebenfalls in einer Humboldt-Rede, ein «souveränes Europa» im Schulterschluss mit Berlin.
Doch bislang sind Macrons Europa-Träume Träume geblieben. Angela Merkel war zwar von den Schmeicheleien des Franzosen angetan. Aber mit ihrer humanitären Politik im «Flüchtlingsjahr» 2015 verlor die deutsche Kanzlerin viele Sympathien in der eigenen Partei und der Schwesterpartei CSU. Sie verfügte nicht mehr über das politische Kapital, um eine ehrgeizige Europa-Agenda in der Bundesrepublik durchzusetzen. Das minderte sofort ihr Gewicht bei den Verbündeten Deutschlands in der EU. Zutiefst enttäuschte die Kanzlerin den französischen Präsidenten.
Macrons laute Töne
Die Folge: Statt auf Merkel setzt Macron nun auf Radau.
Mit Erfolg geht der junge Präsident ganz Europa auf die Nerven. Im August lud er Russlands Präsidenten Wladimir Putin zum Besuch – Macron erklärte, Europa müsse wieder mit Moskau ins Gespräch kommen. Im Oktober blockierte Paris den Start der Verhandlungen über den EU-Beitritt Albaniens und Nordmazedoniens. Zuletzt erklärte Macron in einem Interview mit dem «Economist» das transatlantische Militärbündnis Nato für «hirntot». Er wisse nicht, ob das Versprechen der Bündnispartner, einander im Kriegsfall beizustehen, noch gelte.
Der Wahlmonarch im Élysée-Palast sägt sehr bewusst an den beiden bisherigen Pfeilern der Sicherheitsarchitektur Europas: Die Zusammenarbeit mit den USA im Rahmen der Nato dient in erster Linie dem Eindämmen russischer Ambitionen in Osteuropa. Die EU-Erweiterungspolitik soll Konflikte zwischen den ehemals sozialistischen und nun nationalistischen Staaten Ost- und Südosteuropas abwenden.
In den europäischen Hauptstädten sind die Aufregung und die Empörung gross. Die Nato sei sehr wohl alive and kicking, beteuern Regierungsspitzen in Deutschland, Italien und Polen. Macrons eigenmächtige Politik und sein Redeschwall gefährdeten die Sicherheit der östlichen EU-Mitglieder und die Stabilität auf dem Balkan, lautet der Tadel.
Macron ist erwiesenermassen ein schlechter Verlierer. Hinter seinem Vorgehen steht jedoch weit mehr als nur die Babystrategie, so lang zu schreien, bis man erhält, was man will.
Denn Macron glaubt lediglich zu formulieren, was längst allen klar sein sollte: Die Nato ist in ihrer wichtigsten Funktion – der Abschreckung Russlands in Osteuropa durch das Risiko eines US-Gegenschlags – nicht mehr glaubwürdig. Der amerikanische Präsident Donald Trump scheut militärische Auseinandersetzungen wie der Teufel das Weihwasser.
Beispiel Iran. Schlag auf Schlag erfolgen das Kapern eines britischen Tankers, der Abschuss einer US-Drohne, der Angriff auf die grösste Ölraffinerie Saudiarabiens und zuletzt der Bau eines zweiten Atomkraftwerks – Teheran dreht an der Eskalationsspirale. Doch Trump bläst angekündigte Vergeltungsschläge in vorletzter Minute ab. Im Fernsehen erklärt er, sich im Nahen Osten zu engagieren, sei der grösste Fehler, den die Vereinigten Staaten je gemacht hätten.
In Nordkorea und Venezuela zeigt sich das gleiche Bild. Trump droht auf Twitter, aber hält er einmal den Finger am Abzug, ist er wesentlich zurückhaltender als seine Vorgänger.
Die US-Aussenpolitik wird «europäischer» …
Und auch für Europa fühlt sich Trump – wenn überhaupt – nur am Rande verantwortlich.
An der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September traf Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Auf dessen Frage, ob die USA die Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland stärker unterstützen würden, erklärte der Amerikaner, die Verantwortung für die Ukraine trage in erster Linie Europa. Dem sichtlich enttäuschten Selenski teilte der US-Präsident noch mit, er hoffe, er könne sein Problem mit Putin selber lösen.
Trumps Desinteresse an der Sicherheit Europas zeigte sich drastischer noch beim Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien. Die darauffolgende Offensive der Türkei verhalf inhaftierten Terroristen des Islamischen Staats zur Flucht. Trump sagte dazu achselzuckend: «Nun ja, die werden nach Europa flüchten. Dorthin wollen sie gehen. Sie wollen nach Hause. (...) Wir hätten sie den Europäern gegeben, aber diese wollten sie nicht.»
Selbst wenn Trump nächstes Jahr abgewählt werden sollte – die USA werden noch eine Zeit lang isolationistisch bleiben, wie sie es nach dem Ersten Weltkrieg waren. Bereits Barack Obama verstand die Rolle der USA in Europa eher als leader from behind. Wie Trump drängte er die Europäer zu mehr Selbstverantwortung. Es ist auch mehr als ein Zufall, dass der neueste aussenpolitische Thinktank in Washington nach John Quincy Adams benannt ist. Der ehemalige US-Präsident erklärte in einer berühmten Rede zum 4. Juli 1821: «Amerika begibt sich nicht ins Ausland, um dort Monster zu suchen und zu zerstören.» Der Devise folgend, empfiehlt die Denkfabrik den Vereinigten Staaten, ihr militärisches Engagement im Ausland zurückzufahren und das Dogma aufzugeben, immer das mit Abstand stärkste Militär der Welt zu haben. Die Anschubfinanzierung leisteten der liberale Milliardär George Soros und der erzkonservative Industrielle Charles Koch.
Längst ist nicht nur Trump für America first. Auch sein linker demokratischer Herausforderer Bernie Sanders fordert: Die Vereinigten Staaten sollten sich in erster Linie um sich selbst kümmern und in der Aussenpolitik auf wirtschaftliche Druckmittel – Handelszölle, Finanzsanktionen – statt auf das Militär setzen.
… und jene Grossbritanniens «schweizerischer»
Beim allmählichen Abschied von der Weltpolitik ist London schon einen Schritt weiter. Die Suezkrise hatte 1956 das Ende des britischen Empire besiegelt. Nach dem Debakel im Irak 2003 und in Libyen 2011 hat Grossbritannien nun auch die Rolle des Juniorpartners der USA aufgegeben.
2013 setzte Bashar al-Assad im syrischen Bürgerkrieg chemische Waffen gegen seine Bevölkerung ein. Washington, London und Paris planten zur Bestrafung Raketenangriffe. Doch das Unterhaus untersagte Premierminister David Cameron diesen Einsatz. Auch namhafte spätere Brexit-Befürworter stimmten Nein. Denn sie trauern nicht unbedingt dem Empire nach. Im Gegenteil, sie sehnen sich nach dem wohligen Nischendasein der Schweiz.
Es ist mehr als blosse Symbolik, dass die Konservativen bereit sind, Nordirland – die erste Kolonie der britischen Krone überhaupt – für den Brexit fallenzulassen. Im Gespräch sagen EU-Austrittsbefürworter offen: «Klein ist doch fein». Und wenn auch die Schotten eigene Wege gehen wollen, dann sollen sie! Die Brexiteers wollen primär eine kurzfristige Interessenpolitik verfolgen, zum Beispiel ein Freihandelsabkommen mit China abschliessen.
Paris macht mobil
Für Macron hat Europa angesichts dieser geopolitischen Ausgangslage keine Wahl: Die EU muss schleunigst aussen- und verteidigungspolitisch handlungsfähig werden. Und da die Europäische Union im Alleingang Russlands geballter Militärkraft (noch) nicht standhalten kann, muss sie die Kooperation mit Putin suchen und Zeit gewinnen.
Denn nicht nur Russland macht der EU in der Ukraine, in Syrien und in Libyen das Leben schwer. Auch der Nato-Partner Türkei gibt mit der Invasion in Syrien den Anstoss für eine neue Flüchtlingswelle. Und das immer autoritärer werdende China versucht sich in Europas Handels- und Dateninfrastruktur einzunisten.
Paris will, dass die EU-Länder Wirtschaftssanktionen nicht mehr einstimmig, sondern per Mehrheit beschliessen. Chinesische Beteiligungen an europäischen Unternehmen sollen einer Genehmigung durch Brüssel bedürfen. Beim Aufbau der neuen Internettechnologie 5G soll die EU auf die skandinavischen Anbieter Ericsson und Nokia statt auf staatsnahe chinesische Unternehmen wie Huawei setzen. «Wenn wir nicht gemeinsam handeln, kann ich in fünf Jahren meinen Mitbürgern nicht mehr sagen: Eure Daten sind geschützt», begründet Macron seine Forderung.
Auch in der praktischen Diplomatie will der französische Präsident das europäische Klein-Klein überwinden. So lud er beim Paris-Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im März Kanzlerin Merkel und den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker dazu. Zu seinem Gegenbesuch in Peking diesen November nahm er deutsche Minister, den designierten EU-Handelskommissar und eine Gruppe deutsch-französischer Unternehmenschefs mit.
Berlin verblasst
Solche Pariser Vereinnahmung weckt in Berlin gemischte Gefühle. Gegenüber China, seit 2016 Deutschlands grösstem Exportmarkt, hat Berlin nämlich seine eigenen, ganz anderen Interessen. Griechenland, Ungarn und Kroatien ernten oft den Vorwurf, sich von China durch Infrastrukturprojekte kaufen zu lassen. In Wahrheit ist in Europa jedoch keine Wirtschaft annähernd so abhängig von Peking wie die deutsche.
Die 5G-Frage wiederum illustriert Deutschlands China-Dilemma. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, auch AKK genannt, Aussenminister Heiko Maas und die Geheimdienste drängen die Kanzlerin, chinesische Unternehmen vom Aufbau der 5G-Infrastruktur auszuschliessen. Doch Merkel setzte sich über ihren Rat hinweg. Dieser Tage ist China eine der wenigen verbleibenden Quellen wirtschaftlichen Wachstums für die Bundesrepublik.
Die neue geopolitische Realität ist für Berlin ungemütlich: Gerade im Osten der EU wird dies offensichtlich. Widerwillig müssen jetzt die dortigen Staaten für ihre Sicherheit auch auf Frankreich setzen. Dieses kann zwar den weitgehenden Wegfall der USA nicht annähernd kompensieren. Aber Frankreich ist die einzige verbleibende EU-Atommacht mit einem Präsidenten, der auch Oberbefehlshaber der Armee ist. Die baltischen Staaten suchen den Draht zu Emmanuel Macron. In Ungarn fordert der autoritäre Viktor Orbán seit langem eine europäische Verteidigungspolitik und trifft Macron zum Tête-à-Tête. Er soll die anderen Visegrád-Staaten Polen, Tschechien und die Slowakei zum Mitmachen bewegen.
Deutschland tritt in diesem Karussell in den Hintergrund, zumal man im Osten Europas Berlin nicht wirklich traut. Die Geschichte wiegt schwer – in Polen kennt jedes Kind den Hitler-Stalin-Pakt. Der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2, die auf dem Weg von Russland nach Deutschland elegant die Ukraine und die osteuropäischen EU-Staaten umgeht, mehrt die Ängste. Und sogenannte «Russland-Versteher» gibt es (mit Ausnahme der Grünen) in allen deutschen Parteien.
Auch in Frankreichs Politelite gibt es seit langem eine passion russe – eine leidenschaftliche Verbundenheit zu Russland. Paris hat der Idee des «Endes der Geschichte», wonach der Kollaps der Sowjetunion den Übergang zu einer friedlichen, von demokratischen Staaten dominierten Weltordnung einleitet, nie wirklich getraut. Mit ihrer Haltung geniessen die Franzosen zwar wenig Vertrauen in Osteuropa – doch die Deutschen noch weniger: Wer will schon auf Deutschlands «Parlamentsarmee» setzen, deren Streitkräfte bereits Mühe haben, das Kanzlerflugzeug instand zu halten? Die französischen Militärbudgets wurden deutlich weniger zurückgefahren als in Deutschland. Jetzt sieht man sich in Paris bestätigt, und die Machtverhältnisse innerhalb der Europäischen Union verschieben sich zugunsten Frankreichs.
AKK lanciert neue Debatten
Indessen kommt nun auch in der Bundesrepublik eine Debatte zur Aussen- und Sicherheitspolitik in Fahrt. In einem «Spiegel»-Beitrag gab Aussenminister Heiko Maas die erwartbare Antwort an Macron: Die Bundesrepublik wolle und brauche die Nato nach wie vor, schrieb der SPD-Politiker.
Doch in einer Münchner Rede zeigte CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer klare Differenzen sowohl zu Maas als auch zu Merkel. Wie Macron konstatiert sie, die USA seien auf dem Rückzug und China werde zum Sicherheitsrisiko. Deutschlands friedliche Existenz inmitten Europas und die globale Wirtschaftsordnung, die das Land reich gemacht habe, kämen nicht frei Haus. Frankreich zum Beispiel leiste in Nordafrika den Grossteil der Arbeit im Kampf gegen Terroristen. Aber «wir können nur auf die Solidarität der anderen zählen, wenn wir selbst Solidarität zeigen», so AKK. Sie beliess es nicht bei Phrasen. Vielmehr will sie die Bundeswehr nach Nordsyrien entsenden, um eine internationale Schutzzone zu errichten. Die Verteidigungsminister Deutschlands, Frankreichs und Grossbritanniens sollen sich im sogenannten E3-Format regelmässig treffen und gemeinsame Positionen erarbeiten.
Um Berlins Handlungsfähigkeit zu stärken, forderte die Verteidigungsministerin auch einen nationalen Sicherheitsrat und schnellere Verfahren im Bundestag zur Genehmigung von Auslandseinsätzen. Wolfgang Schäuble, der die unpopuläre Kramp-Karrenbauer nicht leiden kann, gab ihr Rückendeckung. Und auch in Bezug auf 5G ist Angela Merkel zunehmend isoliert. Die Verteidigungsministerin und die CDU-Fraktion wollen via Parlamentsbeschluss die Kanzlerin zwingen, auf Frankreichs Kurs einzuschwenken, und damit Chinas Anbieter de facto ausschliessen.
Erweiterung und Vertiefung
In Frankreich weckt diese Entwicklung leise Hoffnungen. Doch Macron ist ungeduldig. Und legt die Brechstange an, um seine Europa-Vision durchzudrücken: Sein Veto gegen die Beitrittsgespräche der EU mit Albanien und Nordmazedonien soll die Partner aufrütteln. Denn der französische Präsident sieht es wie Wolfgang Schäuble anno 1994: «Die Bildung einer Kerngruppe ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, an sich widerstreitende Ziele – Vertiefung und Erweiterung – miteinander zu vereinbaren.»
Bis zum Frühling 2020 will Paris eine Neugestaltung des EU-Aufnahmeprozesses und Fortschritte in der Vertiefung der Union sehen, damit es sein Veto aufhebt. Macron macht den Balkan einmal mehr zum Spielball eines Gerangels europäischer Grossmächte.
Ob der Erpressungsversuch gelingt? Eine Gruppe von sechs Staaten (Österreich, Tschechien, Polen, Slowakei, Italien und Slowenien) hat in einem Brief ihre Unterstützung für eine Reform des Aufnahmeprozesses bekundet. Auch ist Berlin bemüht, endlich aus der Defensive zu kommen und eigene europapolitische Vorschläge zu machen. Finanzminister Olaf Scholz hat beim jahrelangen Streit über die Einführung einer europäischen Bankeinlagenversicherung Zugeständnisse gemacht. Kommt es tatsächlich zu einer Vollendung der Bankenunion, wäre ein grosser Schritt für die Stabilisierung des Euro getan. Und: Berlin und Paris möchten, sobald im Sommer ein entsprechender Bericht der OECD vorliegt, in der EU eine Mindeststeuer für Unternehmen durchsetzen, um den Exzessen des Steuerwettbewerbs zu wehren.
Ausblick
Den EU-Europäern gelangen Integrationssprünge bislang immer unter einer Bedingung: Es gab einen länder- und parteiübergreifenden Konsens zu den Fragen «Was ist das Problem?» und «Was ist zu tun?».
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich die EU-Gründungsmitglieder einig: Der Frieden muss gesichert und ein gemeinsamer Markt geschaffen werden, damit Europas Industrie gegenüber den USA konkurrenzfähig wird. Die Antwort war die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Abschaffung der Handelszölle in den Römischen Verträgen (1957), den Gründungsverträgen des heutigen EU-Europa.
Dreissig Jahre später bildete sich ein neuer Konsens. Die keynesianische Wirtschaftspolitik war an ihre Grenzen gestossen – nun setzte die EU auf mehr Wettbewerb, um die Wirtschaft zu beleben. Mit der Europäischen Akte von 1986 schaffte sie den Binnenmarkt, wie wir ihn heute kennen.
Jetzt, noch einmal dreissig Jahre später, nähern sich allmählich wieder die Sichtweisen an: Europa muss Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Und der Klimanotstand erfordert ein Wirtschaftsmodell, das dem Staat als Regulator, Investor und Organisator einer sozialverträglichen Transition wieder einen grösseren Stellenwert einräumt.
Der Lauf der Geschichte befördert also die klassisch-französische Vorstellung einer EU als voluntaristische Kraft, die bewusst die Weltpolitik mitgestaltet und die Wirtschaft domptiert. Die europäische Avantgarde verspürt erstmals seit langem wieder Rückenwind.