Im Goldfischteich
An diesem und dem nächsten Wochenende entscheidet sich der Kampf um den Ständerat. Wer das Rennen macht, wird sich auf Laptopverbot, Morgenappell, Traditionsverliebtheit einstellen müssen. Ein Porträt der mächtigen kleinen Kammer – in sechs Episoden.
Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler und Bettina Hamilton-Irvine, 15.11.2019
Die Krawattenpflicht ist dem Tode geweiht: Immer mehr Unternehmen entbinden ihre Kaderleute davon. Doch eine Gruppe 46 Unbeugsamer im Bundeshaus hält hartnäckig an der Krawatte fest.
Konrad Graber begrüsst das. «Ich bin Anhänger von Traditionen.»
Doch Graber gehört bald der Vergangenheit an. Der 61-jährige Luzerner CVP-Politiker ist nur noch bis Ende Monat Mitglied des Ständerats. Er hört nach 12 Jahren auf. Und mit ihm viele seiner Kolleginnen. Diesen und nächsten Sonntag wählen die letzten 9 Kantone im zweiten Wahlgang neue Vertreter. Klar ist schon jetzt: Der Ständerat wird danach jünger und weiblicher sein. Vielleicht ist auch bald schon die Krawattenpflicht in Gefahr.
Ständerat, kleine Kammer, Chambre de réflexion, Stöckli – die Gruppe trägt viele Namen. Etliche der Regeln, die für sie gelten, wären im Nationalrat undenkbar. Auch wenn dort genauso jahrzehntelang jeder einen Schlips tragen musste und eine Zeitung dem damaligen Nationalratspräsidenten Martin Bundi noch 1986 wegen einer fehlenden Krawatte Führungsschwäche vorwarf.
Wer vom National- in den Ständerat wechselt, hat sich anzupassen. Das gilt auch für Querköpfe wie den Gewerkschafter Paul Rechsteiner, ab 1986 während eines Vierteljahrhunderts Nationalrat. Seit seiner Wahl in den Ständerat vor 8 Jahren trägt der Sozialdemokrat brav Krawatte, so wie alle anderen. Gegen den Drang der Kantonsvertreter, sich gegen die Volksvertreter im Nationalrat abzugrenzen, kam selbst der bekennende Krawattenhasser nicht an.
Die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz hält einen knackigen Vergleich parat: Der Nationalrat, sagt sie, sei wie ein Haifischbecken. Im Ständerat hingegen fühle man sich wie in einem Goldfischteich. Wie Graber gibt auch Fetz Ende Monat den Badge ab – nach 16 Jahren. «Für mich wars genug», sagt die 62-Jährige. «Ich konnte viel erreichen, auch hinter den Kulissen.»
Was macht den Ständerat zum Goldfischteich, Frau Fetz?
«Im Gegensatz zum Nationalrat, wo sich jeder mit seinen Ellenbogen Aufmerksamkeit und einen Platz in den begehrten Kommissionen erkämpfen muss und wo ständig Sturmsee herrscht, hat man im Ständerat genug Platz, um herumzuschwimmen und zu schauen, was läuft. Man kann sich schön auf den Inhalt konzentrieren. Das entspannt schon sehr.»
Doch ganz so einfach ist es nicht. Was macht den Ständerat aus, wie funktioniert er – wer ist er? Eine Annäherung in Episoden.
1. Die Regeln: Schicklich und feierlich
Wer hier seine Macht ausüben will – 1 Stimme im 46-köpfigen Ständerat entspricht in etwa der Stärke von 5 Stimmen im 200-köpfigen Nationalrat –, muss sich an eine Vielzahl von Regeln halten. Geschriebene genauso wie ungeschriebene.
Im Geschäftsreglement steht: «Die im Rat anwesenden Personen tragen eine schickliche Kleidung.»
Stilistische Hardliner sehen in diesem Satz nicht nur die Pflicht zur Krawatte begründet. Auch ein Sakko muss sein. Als Christoph Blocher seinen Kittel einst im Nationalratssaal hatte hängen lassen, bevor er als Zuhörer mit Hemd und Krawatte im Stöckli Platz nahm, verfügte der Ständeratspräsident den Rauswurf des SVP-Anführers. Verdikt: nicht schicklich genug.
Bastien Girod unterlief jüngst ein ähnlicher Fauxpas. Der ständerätlichen Klimadebatte durfte der grüne Nationalrat bloss beiwohnen, weil ihm der Präsident des Stöcklis spontan einen Schlips lieh. SP-Fraktionschef Roger Nordmann half ihm beim Binden.
Die Kleiderordnung gilt auch für Journalistinnen. Heidi Gmür, damals Leiterin der NZZ-Bundeshausredaktion und heute persönliche Mitarbeiterin von Bundesrätin Karin Keller-Sutter, musste im Sommer 2016 vor der Ratssekretärin antraben, weil sie mit nackten Schultern auf der Journalistentribüne Platz genommen hatte.
Das Geschäftsreglement hält auch fest, dass am Anfang jeder Sitzung ein Namensaufruf durchgeführt wird. Eine Art Morgenappell, wie im Militär. Anita Fetz war das zuwider: «Man zählt jeden Morgen die Namen der Mitglieder auf. Dabei sieht man ja, wer da ist!» So beschloss sie nach einer Weile einen Teilboykott: «Einmal pro Woche erlaubte ich mir als Nachtmensch auszuschlafen und die ersten Traktanden zu verpassen.» Man liess es ihr durch.
Genauso wie ihre Weigerung, bei einer speziellen Zeremonie am Ende einer jeden Session teilzunehmen. Sobald das letzte Traktandum abgearbeitet ist, treffen sich die 46 Ständeräte in der Mitte des Saals, um sich von jedem Einzelnen zu verabschieden. Männer reichen sich die Hand, Frauen gibt man drei Küsse. Fetz verzog sich jeweils lieber ins Café und trank einen Espresso.
Kollege Konrad Graber verstand nie, wie sich Fetz dem verweigern konnte. Der Brauch habe etwas Feierliches: «Es ist wie bei einem Schwingfest, wo man einander das Sägemehl vom Rücken putzt.»
Schwieriger wird es mit den ungeschriebenen Gesetzen. Das bekam Pirmin Bischof zu spüren, als er 2011 von der grossen in die kleine Kammer wechselte. Der Solothurner CVPler war erschüttert, als man ihn vor seiner ersten Session auf das Laptopverbot hinwies. Man müsse doch zwischendurch Unterlagen lesen können! «Wir erklärten ihm, dass man vorbereitet in den Ständerat kommt», erinnert sich Graber.
Wer hier mitmachen will, konzentriert sich auf die Debatte und liest – wenn überhaupt – von papiernen Dokumenten ab. Kein Vergleich zum Nationalratssaal, wo die Politiker Zeitung lesen, im Internet surfen, mit ihren Nachbarn tratschen oder telefonieren. «Man will in unserer Kammer nicht, dass sich die Leute hinter Bildschirmen verstecken», sagt Thomas Hefti, FDP-Ständerat aus Glarus.
Immerhin: Tablets sind erlaubt – aber auch nur, wenn sie flach auf dem Tisch liegen bleiben.
In die Welt der informellen Regeln eingeführt wurde Thomas Hefti von seiner damaligen Sitznachbarin Karin Keller-Sutter. Zu Beginn seiner ersten Session erklärte ihm seine inzwischen zur Bundesrätin aufgestiegene Parteikollegin, dass man im Ständerat nicht jedes Mal reagiere, wenn jemand dem eigenen Votum widerspreche. Und noch wichtiger: dass man nicht zu lange rede, auch wenn es im Unterschied zum Nationalrat keine formelle Redezeitbeschränkung gebe.
Wer sich nicht daran hält, wird zwar nicht unterbrochen, im Nachhinein aber in den Senkel gestellt. Oder in besonders gravierenden Fällen: im Plenum brüskiert. So musste Alt-FDP-Ständerat Rolf Schweiger einst zuschauen, wie während seiner langen Rede mehrere Ratskollegen den Saal verliessen. So geht Protest im Ständerat.
Zu verschweigen hat man bei sämtlichen Voten seine Parteizugehörigkeit. «Im Gegensatz zum Nationalrat spricht man hier nie für eine Partei, und es gibt keine Fraktionen», sagt Hefti. Wer sich trotzdem parteipolitisch äussere, werde mündlich abgestraft.
So wie Maximilian Reimann (SVP), als er bei einem CVP-Postulat zu ausländischen Studierenden darlegte, wie seine Partei zum Thema stehe. «Ich darf darauf hinweisen, dass es in unserem Rate eher unüblich ist, dass man Parteipolitik macht», wies ihn der damalige Ratspräsident Hansheiri Inderkum 2011 in die Schranken. Die Begründung: «Wenn der Ständerat zum kleinen Nationalrat wird, kann er sich gleich selber abschaffen.»
Doch davon ist der Ständerat weit entfernt. So ist die Qualität der Debatte im langjährigen Vergleich signifikant höher als im Nationalrat, wie Wissenschaftler der Universität Luzern in einer Studie aufzeigten. Die Politologen untersuchten sämtliche Debatten über Volksinitiativen und parlamentarische Initiativen, die sich in den vergangenen 50 Jahren mit dem Thema Migration befassten – von der «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach 1968 bis zur «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP 2014. Das Fazit: «Der Ständerat bestätigt seine Rolle als ‹chambre de réflexion›.»
2. Das Profil: Bloss nicht zu weit aussen
Hierhin schafft es nur, wer mehrheitsfähig ist. Ausser in Neuenburg und im Jura, wo die Stände- wie die Nationalräte im Proporzwahlverfahren gewählt werden (gewählt sind die zwei mit den meisten Stimmen), benötigen Kandidatinnen zumindest im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent aller Stimmen. Das schliesst die meisten Stammtischpolterer aus. Genauso wie Linke und Rechte, die am äusseren Rand politisieren.
Doch keine Regel ohne Ausnahmen: Im Kanton Schwyz etwa schaffte 2011 SVP-Hardliner Peter Föhn die Wahl. Und mit Anita Fetz war das 8 Jahre zuvor einer Politikerin gelungen, die in der Poch gross geworden war, einer aus der kommunistischen Bewegung entstandenen Partei. «In Basel kann ich als SP-Frau viel linker politisieren als zum Beispiel im Wallis», sagt Fetz. «Das macht den Ständerat zu einer bunten Truppe.»
Teil davon ist seit 8 Jahren auch der parteilose Thomas Minder. Für Unruhe sorgte der Unternehmer und politische Quereinsteiger bereits kurz nach seiner Wahl: als er sich der informellen Regel verweigerte, als Neuling in der ersten Session den Mund zu halten, wurde er von Ratskollegen gerügt. Minder liess sich das nicht bieten: Er bezeichnete den Ständerat öffentlich als «Streichelzoo» und «Kindergarten», in dem «Tubelvorstösse» eingereicht würden, und verlangte die Installation eines «Geschäftsführers», damit nicht länger Zeit mit unwichtigen Vorstössen vergeudet werde.
Der Solothurner SP-Ständerat Roberto Zanetti sagte daraufhin, er erlebe Minder wie einen «Erstlehrjahrstift», der Mühe habe, sich in einem komplexen Betrieb zurechtzufinden. Ihm fehle offensichtlich die politische Ochsentour, die die meisten Ständeräte hinter sich hätten. Mit 18 habe auch er die Welt verändern wollen, so Zanetti. «Im Gemeinderat musste ich mich dann erst mal mit Kanalisationsproblemen befassen.»
Der Ständerat funktioniere wie eine grosse Schulklasse, sagt Anita Fetz. «Man kennt sich, pflegt informelle Regeln. Wer Aussenseiter bleibt, hat keinen Einfluss.» Das habe Minder zu spüren bekommen. Und doch nimmt sie den «schrägen Typen» in Schutz. «Einer wie Minder muss Platz haben.» Problematischer als das Verhalten des Schaffhausers sei, wie man im Ständerat mit jungen Neumitgliedern umgehe. Zum Beispiel mit dem inzwischen zurückgetretenen Neuenburger Raphaël Comte (FDP). Als der erst 30-Jährige 2010 in den Rat kam, sei er am Anfang konsequent ausgegrenzt worden. «Man behandelte ihn wie einen Schulbuben», so Fetz.
Doch inhaltlich blieb der Ständerat immer eine erstaunlich homogene Gruppe. Auch wenn sich die Richtung irgendwann änderte.
140 Jahre lang war er als konservativer Bremsklotz verschrien. Erst in den Achtzigern entwickelte er sein staatsliberales, öffnungsorientiertes Profil. Parallel dazu polarisierte sich der Nationalrat. Die wenig konsensorientierte SVP unter Christoph Blocher nahm Anlauf, zur stärksten Partei der Schweiz zu werden.
Spätestens 2009 war klar, dass die beiden Kammern die Rollen getauscht hatten: Die Ausserrhoder FDP-Nationalrätin Marianne Kleiner bezeichnete den nach links gerückten Ständerat als «Problemfall». Und die «Weltwoche» ätzte: «Wann immer die kleine Kammer derzeit über Geschäfte berät und abstimmt, rutscht sie grünlich weit nach links, gibt es etwas mehr Staat, wird Geld eingetrieben und verteilt, wird reglementiert und verboten, verschwindet wieder Freiheit.»
Unparteiische Beobachter bewerten die Entwicklung positiver. So sagt Christoph Lanz, der 16 Jahre Sekretär des Ständerats und 5 Jahre Generalsekretär der Bundesversammlung war: «Der Ständerat hat sich von einer Kammer der Bremser zu einer dynamischen Kammer entwickelt und bei umstrittenen Vorlagen oft den Ausschlag gegeben.»
Besonders augenfällig war der Unterschied in der vergangenen Legislatur: Während im Nationalrat 101 SVP- und FDP-Vertreter mit 99 anderen stritten, dominierte im Ständerat ein gesellschaftlich liberaler Block aus SP, Grünen, CVP und BDP, der 28 von 46 Sitzen besetzte.
Dennoch fühlen sich in der kleinen Kammer unterlegene Kräfte kaum je marginalisiert, ist der Drang nach Einigkeit doch um ein Vielfaches stärker als im Nationalrat, wo gern das Kräftemessen zelebriert wird. Ständeräte hingegen gehen mit dem Gedanken an die Arbeit, ein Geschäft mit einem Kompromiss abzuschliessen.
Doch dürften sich National- und Ständerat in den kommenden 4 Jahren häufiger einig sein als in der vergangenen Legislatur. Rekordhohe 29-mal mussten da Einigungskonferenzen einberufen werden, weil die Räte trotz dreimaligem Hin und Her keine gemeinsame Position finden konnten. Vor allem in sozialpolitischen und steuertechnischen Fragen beharkten sich die beiden Kammern regelmässig.
Bei Einigungskonferenzen treten sich je 13 Köpfe aus National- und Ständerat gegenüber, um im letzten Moment doch noch eine gemeinsame Lösung zu finden oder notfalls abzustimmen. Fast immer gewinnt der Ständerat. Der Grund: Er ist kompromissbereiter, weshalb seine Abstimmungen in der Regel weniger knapp ausfallen. So verbünden sich die tendenziell einigeren Ständeräte mit einer Minderheit der Nationalräte. Und der Sieg ist auf sicher.
3. Das Debakel: Bittere Niederlage für die SVP
Dass im Ständerat mehrheitsfähige Politiker bevorzugt werden, macht der SVP das Leben schwer. Seit 20 Jahren wählerstärkste Partei, beisst sie sich an der kleinen Kammer bis heute die Zähne aus. 2011 blies die Parteileitung zum «Sturm aufs Stöckli». Früher, sagte Präsident Toni Brunner, sei der Ständerat ein bürgerlich geprägtes Bollwerk der Stabilität gewesen. Heute sei er «heimatmüde». Sprich: zu links.
Der Angriff endete in einem Debakel. Nach den Wahlen hatte die SVP nur noch 5 Sitze im Ständerat, 2 weniger als zuvor. Besonders bitter war der Ausgang für den 4 Jahre zuvor aus dem Bundesrat abgewählten Christoph Blocher, der im Kanton Zürich antrat – und hinter Felix Gutzwiller (FDP) und Verena Diener (GLP) zurückblieb. Selbst in seiner Wohngemeinde Herrliberg wurde er nur Dritter. Ähnlich erging es anderen SVP-Schwergewichten: Toni Brunner wurde in St. Gallen gebodigt, Caspar Baader im Baselbiet, Ulrich Giezendanner im Aargau und Jean-François Rime in Freiburg.
Und so stürmte 2011 nicht die SVP das Stöckli, sondern die SP: Sie erhöhte ihre Sitzzahl von 9 auf 11 und schloss zu den traditionellen Ständeratsmächten FDP und CVP auf.
4 Jahre später startete die SVP einen zweiten Versuch, diesmal mit gemässigteren Kandidaten. Doch auch diese Strategie schlug fehl: Hansjörg Knecht schaffte es im Aargau genauso wenig wie Hans-Ueli Vogt in Zürich. «Das lag aber weniger an den Kandidaten als an der harten Konfrontation, welche die Partei seit den Nullerjahren zur FDP und den anderen bürgerlichen Parteien vermehrt sucht», erklärt Politikwissenschaftler Pirmin Bundi von der Universität Lausanne. «Deren Anhänger hatten verständlicherweise wenig Lust, unter derlei Vorzeichen auch den Kandidaten der SVP zu wählen.»
Auch dieses Jahr dürfte der Versuch der SVP misslingen, den Ständerat zu erobern. 3 Sitze hat sie Stand heute auf sicher, 3 weitere im Aargau, in Schwyz und wohl auch in Zug sind wahrscheinlich. Bloss Aussenseiterchancen haben ihre Kandidaten in Bern, Solothurn, St. Gallen und im Tessin.
4. Der Widerstand: Lieber so wie immer
Im Jahr nach dem gescheiterten Sturm der SVP wurde der distinguierte Ständerat für einmal zum Gespött der Nation. An der Basler Fasnacht wurden die Missgeschicke der kleinen Kammer in zahlreichen Schnitzelbänken genüsslich ausgebreitet. Anita Fetz nannte den Zustand «unerträglich». Der Tessiner CVPler Filippo Lombardi, damals Ratspräsident, fuchtelte mit einem Zählrahmen herum. Und der mittlerweile verstorbene Glarner SVP-Politiker This Jenny gab im Rat einen selbstironischen Vierzeiler zum Besten:
De Lehrer Meier seit zum Fritzli
Bim Zähle, gäll, da chlämmts es bitzli,
Du weisch, wänn das so wiitergaht,
Langts nume für in Ständerat.
Was war geschehen?
Nun, während der Nationalrat bereits 1994 zum elektronischen Abstimmungssystem übergegangen war, hielt der Ständerat im Jahr 2012 immer noch an seiner manuellen Methode fest: Zum Abstimmen hob man die Hand, und ein Stimmenzähler zählte alle Hände.
Anfang Dezember hatte sich die kleine Kammer gerade dafür ausgesprochen, beim Abstimmen per Handzeichen zu bleiben, als dieser Entscheid auf eine harte Probe gestellt wurde. Ein Mitarbeiter der Internetplattform Politnetz, die in der entsprechenden Session alle Debatten und Abstimmungen von der Tribüne aus filmte, hatte eine Unstimmigkeit entdeckt. Er habe in einer Rauchpause einen Teil seines Materials gesichtet und bemerkt, dass bei einer Abstimmung falsch ausgezählt worden sei, erinnert sich Petar Marjanović, heute Journalist beim «Blick». Nach anfänglicher Skepsis liess Lombardi die Abstimmung wiederholen – worauf prompt wieder ein Fehler geschah.
«Stöckligate» war geboren. Und der Ständerat musste reagieren.
Trotzdem sträubte er sich weiter gegen elektronische Abstimmungen, bis er sich schliesslich widerwillig dem öffentlichen Druck beugte. Am 3. März 2014 fand nach 166 Jahren Handzeichen das erste Votum mit der neuen Anlage statt. Wieso dieser Widerstand?
Der Ständerat habe wohl befürchtet, dass auch andere Unterschiede verschwinden würden, wenn er ein System des Nationalrats übernehme, glaubt Marjanović rückblickend. «Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Befürchtung unbegründet war.»
Bis heute konnte sich der Ständerat erfolgreich gegen die Einführung des sogenannten «Blocher-Knopfs» wehren. Dieser wurde im Nationalrat installiert, nachdem Christoph Blocher 1994 bei einer Abstimmung auch für seine abwesende Sitznachbarin Lisbeth Fehr votiert hatte. Seither müssen die Nationalrätinnen bei der Stimmabgabe gleichzeitig mit der zweiten Hand einen Sicherheitsknopf drücken.
Er habe es sehr bedauert, als man das Handmehr habe aufgeben müssen, erinnert sich Konrad Graber. «Immerhin konnten wir den Blocher-Knopf verhindern.»
5. Die Standfestigkeit: Resistent gegen Reformen
Auch sträubte sich der Ständerat 170 Jahre lang erfolgreich dagegen, umgestaltet zu werden. Immer wieder musste er Versuche abwehren, das veraltete Konstrukt repräsentativer zu machen.
Denn ursprünglich war der Ständerat gewissermassen ein Produkt der USA, von dessen politischem System sich die Konstrukteure der Bundesverfassung 1848 inspirieren liessen. Dem US-amerikanischen Senat hatten es die Kantone zu verdanken, dass sie auf nationaler Ebene so viel Gewicht erhielten. So war der Ständerat zu Beginn weniger Parlament als kantonal orientierte Bremskammer, die selber kaum politische Initiativen ergriff. Er galt als Hort des reaktionären Kantönligeists.
Mehrere Vorstösse hatten zum Ziel, die Sitze gerechter zu verteilen – oder die kleine Kammer gleich abzuschaffen. 1968 fragte die NZZ, ob «die Ständekammer in ihrer heutigen Form eine ‹Notbremse gegen den Fortschritt›» sei und daher reformiert oder aufgelöst werden solle; 1987 wollten die Juso den Ständerat abschaffen, 1989 waren es die Grünen. Beide Parteien störten sich am in ihren Augen damals «stockkonservativen und wirtschaftshörigen Stöckli».
Auf die Frage der NZZ antwortete der kurz zuvor aus dem Ständerat ausgeschiedene Zürcher SP-Politiker Eduard Zellweger mit einer Idee, die man in Deutschland bereits umgesetzt hatte: Die Ständeratsdelegation sollte von den Kantonsregierungen gestellt werden. Pro Kanton würden zwei Regierungsräte nach Bern reisen: eine Person wäre stets dieselbe, die andere würde abhängig von der Traktandenliste gewählt.
Wenige Jahre später schlug eine Expertenkommission unter Vorsitz von Bundesrat Kurt Furgler vor, den 16 Kantonen mit den meisten Einwohnern einen dritten Ständeratssitz zu schenken. Doch die Idee versandete.
2010 scheiterte ein Vorstoss von Ex-SP-Präsident Hans-Jürg Fehr. Der Schaffhauser Nationalrat verlangte, dass jede Stadt mit mehr als 100’000 Einwohnern den Status eines Halbkantons erhält. Sprich: eine halbe Stimme beim Ständemehr und einen Sitz im Ständerat. Der Nationalrat trat nicht darauf ein.
Ein Jahr später schrieb die Basler SP-Regierungsrätin Eva Herzog in einem Gastbeitrag in der NZZ: «Die Stimme einer Bürgerin aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden wird 38,7-mal so stark gewichtet als jene einer Bürgerin aus Zürich.» Die Idee des Minderheitenschutzes sei damit nicht mehr gegeben.
Ihr Vorschlag sah eine gerechtere Verteilung vor. Dafür würden die Kantone in drei Gruppen eingeteilt, wobei dem bevölkerungsreichsten Drittel ein dritter Sitz gewährt werden sollte. Das mittlere Drittel hätte zwei Sitze, das untere Drittel bloss einen Sitz erhalten sollen. Insgesamt hätte so die Anzahl Ständeräte nur um drei Personen auf 49 erhöht werden müssen.
Die einzige Reaktion auf Herzogs Anliegen war ein Leserbrief. Titel: «Prinzip Ständerat nicht verstanden».
Nun hat die Sache an Brisanz gewonnen, ist Herzog doch am 20. Oktober als Nachfolgerin von Anita Fetz ins Stöckli gewählt worden. Steht sie noch immer hinter ihrem Vorschlag?
«Ich finde das Anliegen immer noch sehr wichtig», sagt sie. «Vor allem auch, weil der ursprüngliche Volkswillen vom Minderheitenschutz inzwischen im Übermass praktiziert wird.» Allerdings räumt sie ein, dass sie sich in letzter Zeit nicht mehr viele Gedanken dazu gemacht habe. «Ich werde mich im Ständerat gewiss für diese Reform einsetzen, aber mit wenig Aussicht auf Erfolg, weil die Sache von ebendiesen Minderheiten blockiert wird.»
6. Die Erneuerung: So weiblich wie noch nie
Herzog wird am 2. Dezember in einem Ständerat Platz nehmen, der so weiblich ist wie noch nie. Nachdem am letzten Sonntag Johanna Gapany von der FDP den bisherigen CVP-Ständerat Beat Vonlanthen verdrängte und in Genf und in der Waadt neue Frauen die abtretenden Frauen ersetzten, sind bisher 11 Frauen gewählt. Damit ist der bisherige Frauenrekord aus dem Jahr 2003 jetzt schon egalisiert.
Und weil im Kanton Baselland mit der Freisinnigen Daniela Schneeberger und der Grünen Maya Graf im zweiten Wahlgang zwei Kandidatinnen gegeneinander antreten, ist ein neuer Rekord gewiss. Selbst dann, wenn die Grünen Ruth Müri (Aargau), Regula Rytz (Bern) und Marionna Schlatter (Zürich) die Wahl genauso verpassen sollten wie die Sozialdemokratin Marina Carobbio Guscetti im Tessin.
12 Frauen in einem 46-köpfigen Parlament würden zwar immer noch erst einen Anteil von 26 Prozent ausmachen. Deutlich besser erscheinen diese Zahlen jedoch, wenn man bedenkt, dass vor den Wahlen gerade einmal 6 Frauen im Ständerat sassen und 5 von ihnen nicht mehr antraten. Es war nicht zuletzt diese Ausgangslage, die dazu geführt hat, dass Frauen durch die Kampagne «Helvetia ruft» systematisch mobilisiert wurden. Der Frauenstreik dürfte weiter Schub gegeben haben.
So wird von nun an die Krawattendichte im Stöckli so tief sein wie nie zuvor. Womöglich wird sich eines der ungeschriebenen Gesetze irgendwann einmal von alleine in Luft auflösen.