«Der Boulevard ist ein denkbar schlechter Richter»
Wir machen uns mit ständigen Horrorschlagzeilen wahnsinnig, obwohl das Land so sicher ist wie noch nie. Bundesrichter Niklaus Oberholzer sagt, der grösste Boden für Kriminalität sei soziale Ungerechtigkeit, die beste Kriminalprävention eine gerechtere Gesellschaft.
Ein Interview von Daniel Ryser (Text) und Karla Hiraldo Voleau (Bilder), 14.11.2019
Er rauche draussen auf dem Balkon, sagt Niklaus Oberholzer zur Begrüssung. Der 66-jährige St. Galler Bundesrichter empfängt in seinem riesigen Büro am Bundesgericht in Lausanne, mit Blick auf den Genfersee. «Das Rauchen im Büro ist zwar nicht offiziell verboten, aber ich nehme an, würde ich es tun, wäre es das ganz schnell. Also nehme ich lieber Rücksicht auf meine nicht rauchenden Kollegen und rauche draussen.»
Wir verabredeten uns zum Gespräch, nachdem Oberholzer ein paar Wochen zuvor an einem Kongress zu urbaner Sicherheit der Städtischen Sicherheitsdirektoren in der Abschlussrede überraschende Töne angeschlagen hatte – offensichtlich zumindest für einen erheblichen Teil des Publikums: Man müsse als Gesellschaft dringend wegkommen vom Ruf nach ständigen Strafverschärfungen, sagte der Bundesrichter im Berner Kursaal. Die Probleme einer Gesellschaft liessen sich nicht über das Strafrecht lösen. Die Kriminalität sei in allen Bereichen rückläufig, doch in den Medien werde ein Bild eines Landes kurz vor dem Kontrollverlust gezeichnet.
Niklaus Oberholzer, die Schweiz war noch nie so sicher, doch immer mehr Menschen empfinden das Gegenteil. Das zeigt eine aktuelle ZHAW-Studie. Die SVP zum Beispiel schreibt in ihrem Sicherheitspapier von einem «hohen Niveau an Einbrüchen», obwohl deren Zahl sich in den letzten zehn Jahren halbiert hat. Was passiert hier?
Kriminalität ist ein idealer Ablenkungspunkt in einer Welt, die unübersichtlich geworden ist. Je mehr allgemeine Verunsicherung und je weniger Einigkeit darüber herrscht, was sich gehört, desto mehr entsteht offenbar das Bedürfnis, dass der Staat reglementiert. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen: Das hier ist kein Plädoyer für eine Rückkehr zum Mief der Fünfzigerjahre, in eine Welt mit klaren Werten. Ganz und gar nicht. Aber ich behaupte, dass der Ruf nach härterem Durchgreifen Ausdruck einer verängstigten Gesellschaft ist, die ihre Zukunftsängste – die Angst vor unbezahlbaren Krankenkassenprämien, vor dem Verlust der Arbeit, vor Flüchtlingswellen, vor einem Klimakollaps – auf eine individuelle Ebene verlagert, die viel weniger komplex ist und somit lösbar zu sein scheint. Der Fokus auf dem Kriminellen, der nachts die Strassen unsicher macht, drängt sich auf. Der Ruf nach einfachen Lösungen ist eine Projektion unserer Ängste.
Der Ruf nach schärferen Strafen ist dabei allgegenwärtig. Teilen Sie als Bundesrichter diese Haltung?
Nein. Ich begreife das stereotype Fordern nach schärferen Strafen nicht. Jedes Mal, wenn etwas mehr oder weniger Spektakuläres passiert, ertönt dieser Schrei. Aber das System funktioniert ja. Die Schweiz ist verschont vom Terrorismus. Der Bereich Gewaltkriminalität ist im internationalen Vergleich auf einem relativ vernünftigen Niveau. Wenn man die Jugendkriminalität betrachtet, stehen wir besser da als Deutschland und Österreich, und dies mit einem liberaleren Jugendstrafrecht. Nicht jeder Kriminelle wird erwischt. Das stimmt. Aber ich möchte auch nicht in einer Gesellschaft leben, in der es eine Garantie gibt, dass jeder, der eine Sicherheitslinie überfährt, automatisch verurteilt wird. Gewisse Lücken wird es immer geben. Aber ich sehe im strafrechtlichen Bereich nirgendwo einen Notstand.
Das sieht beispielsweise die SVP in ihrem Sicherheitspapier anders. Aber auch prominente Sozialdemokraten fordern regelmässig mehr Härte, schärfere Gesetze, höhere Strafen.
Der Schrei nach höheren Strafen ist wohlfeil, denn er kostet nichts. Man kann auf ein Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung reagieren und sich profilieren. Die Frage ist: Worauf zielt dieser Ruf eigentlich ab? Man erhofft sich heute vom Ruf nach härteren Strafen vor allem präventive Abschreckung. Doch der normale Kriminelle, der sich morgens um vier Uhr nach Discoschluss auf eine Schlägerei einlässt, handelt nicht rational. Er überlegt sich nicht, wie viel er nun für einen Faustschlag kassieren wird. Diese behauptete Abschreckungswirkung höherer Strafen ist nicht nachgewiesen. Das Gegenteil lässt sich belegen: Höhere Strafen bringen nichts. Ansonsten müssten die USA die geringste Kriminalitätsrate aufweisen, denn dort gibt es die Todesstrafe. Oder das 3-Verstösse-Gesetz, bei dem man nach dem dritten Gesetzesbruch lebenslänglich hinter Gittern landet. Aber in den USA sitzen, berechnet auf 100’000 Einwohner, zehnmal mehr Menschen im Gefängnis als in der Schweiz. Hier sind es 80 auf 100’000, dort sind es 750. Die Gefahr, Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, liegt in der Schweiz inzwischen bei unter 1:100’000. In der USA ist diese Wahrscheinlichkeit, trotz Todesstrafe, siebenmal höher.
Schärfere Strafen allein führen nicht zu weniger Kriminalität?
Nein. Es gibt keinerlei wissenschaftliche Belege, dass dem so ist. Entscheidend für eine abschreckende Wirkung ist die hohe Gewissheit, erwischt zu werden. Das sogenannte Aufdeckungsrisiko. Darüber herrscht in der Fachwelt Einigkeit. Ob die Busse für ein Vergehen nun 100 oder 500 Franken ist: Wenn ich weiss, ich werde nicht erwischt, ist mir das ziemlich egal. Wenn man mit dem Strafrecht hier etwas bewirkt, dann über die Konfrontation der Täter; wenn die Leute für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen. Denn Gewaltkriminalität geschieht meist situativ. Im Moment der Tat läuft beim Täter keine rationale Überlegung ab, geschweige denn eine Kalkulation einer möglichen Strafe. Nehmen Sie die bedingte Geldstrafe: Sie ist eine Erfolgsgeschichte.
Wie bitte? Mit dieser Ansicht stehen Sie ziemlich allein da. Und wenn wir grad dabei sind: Die bedingte Geldstrafe ist ein Witz und gehört abgeschafft. Zitat SVP-Sicherheitspapier.
Fakt ist: Die Rückfallquote hat sich nicht verändert, seit man bei angetrunkenen Fahrzeuglenkern nicht mehr bedingte Freiheitsstrafen, sondern bedingte Geldstrafen verhängt. Vorher und nachher: 80 Prozent der Erwischten treten nie mehr in Erscheinung. Dass die bedingte Geldstrafe nicht funktioniert, ist eine unbelegte Behauptung.
Die Schweiz ist ein sicheres Land. Doch die Menschen fühlen sich verunsichert. Kann die Justiz das subjektive Sicherheitsempfinden eines Teils der Bevölkerung einfach ignorieren? Wie geht sie damit um? Schärfere Strafen, um die Rufe aus Politik und Medien zu befriedigen?
Das zu beantworten, ist gar nicht so einfach. Denn die Justiz agiert nicht in einem luftleeren Raum. Einer der ursprünglichen Strafzwecke war die Ablösung der Privatrache: Der Staat übernimmt das Strafen und überlässt es nicht mehr dem Opfer, eine Lösung mit dem Täter zu finden. Einer der Zwecke dabei, ein Teil der Strafe, ist die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und soll dazu dienen, Vergeltungstriebe aufzufangen. Wenn man aber deswegen nun einfach jenen nachgibt, die am lautesten schreien, dann kann ich Ihnen versichern: Diese Stimmen befriedigt man nie. Die sind auch nicht zufrieden, wenn man 20 Jahre gibt. Dann wollen sie 30. Wenn man 30 gibt, wollen sie die Todesstrafe.
Ist es eigentlich erwiesen, dass die Justiz «kuschelt», dass das sogenannte Volk ganz anders strafen würde?
Wissen Sie, was wirklich interessant ist? Es ist erwiesen, dass dem nicht so ist.
Können Sie das ausführen?
Es gibt dazu eine Studie des Lausanner Strafrechtsprofessors André Kuhn. Kuhn hat in einem Zeitraum von 15 Jahren dreimal einerseits Richtern und Staatsanwälten und andererseits einer Vergleichsgruppe unbedarfter Laien vier konkrete Fallbeschreibungen vorgelegt. Den Fall eines Vergewaltigers, den eines Rasers, den eines Einbrechers und den eines Abzocker-Bankers. Die vorgelegten Fallbeschreibungen bestanden nicht aus boulevardesken Schlagzeilen wie «Grüselopa», sondern aus zwei Seiten Nüchternheit: Wer ist der Täter? Was hat er getan? Wie ist er vorgegangen? In welcher persönlichen Situation befand er sich? Und so weiter. Was sich gezeigt hat: Je konkreter und sachlicher man den Fall schildert, desto mehr gleicht sich das Strafbedürfnis zwischen Profis und Laien an. Die Strafzumessungen waren fast deckungsgleich. Es gibt kaum Diskrepanzen.
Was bedeutet das?
Es erklärt, warum dieses Land so sicher ist, während sich immer mehr Menschen unsicher fühlen: Das ewige Bombardement mit Horrormeldungen führt zu einer Meinungsbildung, Unwissenheit zum Ruf nach mehr Härte. Die Meinungsbildung sieht nachweislich anders aus, wenn die Leute die Fakten kennen, die Umstände. Aber wie viel Jahre soll der «Grüselopa» bekommen? Glauben Sie mir, da reichen 20 Jahre nicht. Der Boulevard ist ein denkbar schlechter Richter.
Sie sagen, das Aufdeckungsrisiko hält Kriminelle viel eher von einer Tat ab als höhere Strafen. Aber was bedeutet das konkret: Polizisten an jeder Ecke?
Das Strafrecht ist letztlich Teil eines umfassenden Sicherheitskonzepts. Es kommt zum Einsatz, wenn etwas passiert ist. Alles andere ist Prävention. Und das ist ein wahnsinnig weiter Bereich. Das kann man nicht einfach auf die Staatsanwaltschaften schieben. Oder die Polizei verdoppeln. Das Gesundheitsdepartement betreibt ebenfalls Prävention. Die Sozialarbeit. Die Jugendsportvereine. Die Polizei betreibt Prävention – auch mit Präsenz. Aber das umfassende Sicherheitskonzept einer Gesellschaft geht viel weiter: Es bedeutet auch Aufklärung in der Politik. In den Schulen. Im Elternhaus. Die Erziehung von Kindern zu selbstbewussten Menschen. Ihnen etwa beizubringen, dass Nein Nein bedeutet. Städtebau ist ebenfalls ein Teil der Prävention, etwa mit der Vermeidung von sogenannten Unorten, dunklen Unterführungen, wo regelmässig etwas passiert. Auch die Vermeidung von Ghettos gehört zu einem umfassenden Sicherheitskonzept.
Können Sie den letzten Punkt ausführen?
Kriminalität ist zu einem erheblichen Teil ein Unterschichtsproblem. Wenn man ständig von Ausländerkriminalität spricht, ist dieser Fokus einseitig und erklärt wenig. Der Blick auf das durchschnittliche Familieneinkommen erklärt hingegen viel. Da gleichen sich die Kriminalitätsraten jeglicher Herkunft einander an. Und deshalb sind Ghettobildungen auch ein Sicherheitsproblem. In der Schweiz ist man, anders als in Deutschland oder Frankreich, geschickt vorgegangen: Der Städtebau hat hier nicht Ghettos ermöglicht mit anonymen Wohnsiedlungen und Zehntausenden von Einwohnerinnen, die zum Grossteil Sozialhilfebezüger sind.
Sie sagen also: Wenn wir Kriminalität wirklich effektiv bekämpfen wollen, müssen wir zur Wurzel. Und die Wurzel ist Armut?
Schauen Sie, heute reden alle immer vom Strafrecht. Das Strafrecht soll alles richten. Es soll ja sogar nicht mehr nur das tun, wozu es eigentlich da ist, nämlich im Nachhinein zu sanktionieren, wenn einer gegen wesentliche Bestimmungen der gesellschaftlichen Ordnung verstossen hat. Heute soll das Strafrecht auch präventiv wirken gegen mögliche Gefährdungen, die in der Zukunft liegen. Es soll Taten sanktionieren, die noch gar nicht begangen wurden. Natürlich hat das Strafrecht den Sinn einer Generalprävention: Man weiss, ein schweres abweichendes Verhalten wird mit Strafe bedroht, also hält man sich an die Regeln. Aber der Rest? Heute behauptet man, das Strafrecht könne fast alles lösen, und vergisst dabei das, was wirkungsvoller wäre. Das Strafrecht kann nur eine Säule eines breit gefächerten Programms sein. Daran müssen wir uns erinnern. Oder eben daran, dass vor allem soziale Ungleichheit zusätzliche Kriminalitätsprobleme schafft.
Was heisst das genau?
Nehmen wir Flüchtlinge: Wir haben Menschen in diesem Land, die keine Chance haben, regelkonform zu überleben. Was würden Sie tun? Ist das nicht ein Nährboden für kriminelles Verhalten? Und warum sind die Menschen überhaupt hier? Einfach so? Oder weil man die Länder früher, im Zuge einer kolonialen Geschichte, ausgebeutet hat? Weil dort jetzt ungerechte Verhältnisse herrschen? Wir schreien ständig nach schärferen Strafen, die nachweislich kaum etwas bringen, um uns besser zu fühlen, und verlieren das Ganze, womöglich Kompliziertere, aus dem Blickwinkel. Oder nehmen wir unsere eigenen Armen. Es ist erwiesen: Eine grosse soziale Ungerechtigkeit ist ein Kriminalitätsfaktor. Leute, die eine Stelle haben, sind im Schnitt weniger kriminell als Leute ohne Stelle. Leute, die ein befriedigendes Wohn- und Familienumfeld haben, sind ebenfalls weniger kriminell. Das alles ist erwiesen. Die einseitige Konzentration auf das Strafrecht, auf schärfer und härter, verhindert, dass man derartige grundsätzliche Diskussionen führt.
Niklaus Oberholzer, Sozialdemokrat, machte in St. Gallen das Anwaltspatent, doktorierte 1983, war nach langjähriger Anwaltstätigkeit zwölf Jahre lang Kantonsrichter, bevor er 2012 ans Bundesgericht gewählt wurde. 1989 und 1990 war Oberholzer ständiger Experte der Parlamentarischen Untersuchungskommission EJPD zur Fichenaffäre, 2011 und 2012 sass er in der Aufsichtsbehörde der Bundesanwaltschaft. Per Ende Jahr geht der St. Galler in Pension.