Honigpilz

Im Duell um den zweiten Zürcher Ständerats­sitz lehrt eine junge, grüne Aussen­seiterin die Etablierten das Fürchten. Wie macht sie das? Auf Pilzsuche mit Marionna Schlatter.

Von Anja Conzett (Text) und Maurice Haas (Bilder), 13.11.2019

Am liebsten würde sie alle Gespräche im Wald führen: Marionna Schlatter.

Hinwil im Zürcher Oberland. Ein Tag, so attraktiv wie der Inhalt einer Tupperware, die man im Kühlschrank vergessen hat – grau, pelzig und feucht. Wer bei diesem Wetter ins Grüne geht, muss es wollen. Zwei Reiterinnen, ein paar Hündeler, eine Ständeratskandidatin.

Marionna Schlatter – in der linken Hand einen Fetzen Plastik, den jemand andrer hat liegen lassen, die rechte Hand zum Gruss erhoben, über der Schulter den Beutel für die Pilze – blickt entschuldigend an sich herunter: grüne Regen­jacke, pinke Gummi­stiefel. Nicht sonderlich stände­rätisch, oder? «Aber was will man schon mit einem Tschoopen im Wald?» Sie lächelt vorsichtig.

Ist die Vorsicht Koketterie? Denn eigentlich hätte Marionna Schlatter gut lächeln: Innerhalb der grünen Welle, die das Land bei den Wahlen erfasst hat, ist sie ein blaues Wunder.

Erst im Frühling wurde sie zum ersten Mal in ein Amt gewählt, als Kantons­rätin. Trotzdem war der Sprung der Soziologin, 38 Jahre alt, zwei Kinder, in den Nationalrat keine Überraschung. Als Präsidentin der Zürcher Grünen war sie so gut wie gesetzt. Doch dass sie im Kampf um den Ständerat vorn dabei ist – damit hatte keiner gerechnet.

Mit 95’000 Stimmen schlug Schlatter am Wahl­sonntag nicht nur die GLP-Kandidatin und eigentliche Spreng-Favoritin Tiana Angelina Moser um 15’000 Stimmen – der Grünen fehlen auch nur 12’000 Stimmen, um einen der profiliertesten Politiker des Landes zu schlagen: SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Chef­redaktor Roger Köppel. Der für dieses Resultat einen nie gesehenen Aufwand getätigt hatte: 162 Reden in den 162 Zürcher Gemeinden.

Moser wie Köppel haben ihre Kandidaturen unterdessen zurück­gezogen. Nur der bisherige Kandidat der FDP, Ruedi Noser, ist neben Schlatter noch im Rennen.

Bereits gewonnen

Doch egal, wie der zweite Wahlgang am 17. November ausgeht – Marionna Schlatter hat die Wahl bereits gewonnen. Denn mit ihrem Aus-dem-Nichts-Triumph bringt die Grüne gleich zwei Parteien in die Bredouille.

  1. Die GLP: Tiana Angelina Moser zieht ihre Kandidatur mit dem Argument zurück, dass zwei Frauen mit ökologischer Ausrichtung zu viel des Guten seien. Mosers Partei verpasst derweil die Gelegenheit, sich dringend nötiges Profil zu verleihen, lässt beide verbleibenden Kandidaten abblitzen, beschliesst Stimm­freigabe und signalisiert, dass die Wahl­gewinnerin GLP bei harten Entscheidungen nicht für, sondern höchstens gegen etwas steht.

  2. Die SVP: Für den Starredner der Volks­partei, Roger Köppel, der seinen Rückzug einige Tage nach Moser bekannt gibt, sitzt die Schmach doppelt tief. Trotz seiner 162 Auftritte hat er vom Stimm­volk eine Schlappe kassiert – und schlimmer noch: Die SVP Zürich, die bislang nur die FDP als ernst zu nehmende Konkurrenz ansah, sieht sich nun gezwungen, den verhassten Noser zur Wahl zu empfehlen.

Im Wald von Hinwil scheint Marionna Schlatter von ihrem Erfolg genauso überrascht wie alle anderen. Über Nacht ist sie von der Rand­notiz zur gefragten Frau geworden. Ein Interview­termin jagt den nächsten. Und am liebsten würde sie alle Gespräche im Wald führen. Hier, zwischen Fichte und Buche, kennt sie sich aus. Das ist ihr Revier.

Hier, zwischen Fichte und Buche, kennt Marionna Schlatter sich aus. Das ist ihr Revier.

Unentwegt suchen die braunen Augen den Waldboden ab, jeder Tritt ist mit Bedacht gesetzt, um nichts zu zertreten – Friede den Nebel­kappen, Goldzahn­schnecklingen und Bovisten. Immer wieder unterbricht Schlatter das Gespräch, tastet, riecht und deutet – hier ein Pilz, da einer, dort ein anderer.

Marionna Schlatter ist 14, als sie die Prüfung zur Pilz­kontrolleurin besteht. Bis heute hält sie den Rekord als jüngste Absolventin. Die Leidenschaft für Pilze wurde ihr vom Vater vorgelebt; einem Alt-68er, der Schrift­setzer war, bevor er das Hobby zum Beruf machte – die Qualitäts­kontrolle von Pilzen für Grossimporteure.

Der Wald ist der Beginn von Schlatters Politik­karriere. Als während ihrer Zeit im Gymnasium die Abfall­inseln in den Ozeanen Thema werden, politisiert sie das. Doch selbst in die Politik zu gehen, daran denkt sie noch nicht.

Erleichtert, dass Köppel draussen ist

Auf der Wasser­oberfläche des Waldbachs kreisen dichte Schaum­kronen. Sieht giftig aus, ist es aber nicht – nur Bakterien, die das gefallene Laub zersetzen, erklärt Schlatter beiläufig, bevor sie zurück auf die Wahlen kommt. Fürchtet sie, dass Köppels Rückzug den Vorsprung Nosers uneinholbar macht?

«Nein. Wenn die SVP ihre Wähler noch nicht einmal für sich mobilisieren konnte, wie soll das bei einem partei­fremden Kandidaten gelingen? Einem, der monatelang schlecht­geredet wurde?»

Pause.

«Ganz ehrlich. Ich bin vor allem erleichtert, dass Köppel draussen ist.» Er habe jede Debatte dominiert, über sachliche Fragen habe man gar nicht diskutieren können, wenn er auf dem Podium gewesen sei. «Er hat es geschafft, alle andern Kandidatinnen für seine Plattform zu missbrauchen.» Und: «Die schlimmsten Anfeindungen im Wahlkampf kamen klar aus der Ecke seiner Anhänger.»

Nach ihrem gemeinsamen Auftritt im SRF-«Club» am 22. Oktober – zwei Tage bevor Köppel seine Kandidatur zurückzieht – wartet in ihrer Inbox eine anonyme E-Mail. «Machen Sie nur weiter so, Frau Schlatter», steht darin. «Bald werden wir Sie und Ihresgleichen wie damals die Juden durch die Gassen treiben.» So beginnt sie öfter ihren Tag, kurz bevor sie die Kinder zur Schule schickt. Schlatter runzelt die Stirn. Sie machen sie nicht wütend, diese Mails: «Es schmerzt eher, in was für einer düsteren Welt manche Menschen leben müssen.»

Dass der Gegenwind für die Grünen härter wird, sieht sie trotzdem positiv. «Wir machen seit 40 Jahren grüne Politik. 40 Jahre lang wurden wir praktisch ignoriert. Jetzt nehmen sie uns ernst.»

«Das mit der Wasser­melone ist ein Kompliment»

Öffentlich wurde Schlatter von der SVP zuletzt als «Marxistin», «linksextrem» und «Kommunistin» bezeichnet. Oder als Wasser­melone – aussen grün, innen rot. Schlatter lacht auf: Die ersten drei seien falsch und beleidigend. «Aber das mit der Wasser­melone ist fast ein Kompliment.»

Schlatter macht kein Geheimnis daraus, dass aus ihr auch eine Sozial­demokratin hätte werden können.

«Ich bin überzeugt, dass nachhaltige Politik nur sozial geht.»

Umweltpolitik ist teuer. Wie wollen die Grünen verhindern, dass am Ende nicht die Arbeiter und Angestellten die Zeche zahlen?

«Was kommt, ist ein Verteilungs­kampf. Wir haben etwa berechnet, dass der komplette Umbau auf Solar­strom bis 2030 ungefähr eine Milliarde öffentliche Gelder pro Jahr kosten würde. Der Bund gibt jährlich 4,5 Milliarden Franken für Strassen­bau aus und will für 6 Milliarden neue Kampfjets. Das muss drinliegen.»

Okay. Aber eine Massnahme wie die Erhöhung der Benzin­preise träfe die gesamte Bevölkerung. Und die mit weniger Einkommen umso härter. In Frankreich hat die Erhöhung der Sprit­steuer letztes Jahr zu monate­langen, harten Protesten gerade ärmerer Leute geführt.

«Die Umverteilung muss natürlich auch gesamt­gesellschaftlich erfolgen. Die Schweiz kennt die Instrumente der Lenkungs­abgaben und der Rückverteilung. Die Infrastruktur steht. Wir müssen sie nur noch ausbauen.»

Wie wollen die Grünen das mit einer geschwächten SP durch ein noch immer bürgerliches Parlament bringen?

«Dass die SP verloren hat, ist tatsächlich betrüblich. Es wird nicht einfach werden, aber am Ende haben wir die besseren Argumente. Als Erstes gilt es, der Bevölkerung klarzumachen, wie perfide und primitiv die Argumentation beispiels­weise einer SVP hier wieder einmal ist. Ihre Politik kommt in erster Linie Unter­nehmern und Gross­verdienern mit SUV zugute – und nicht der kleinen Familie mit dem Kombi.»

Den ganzen Waldboden interessant finden

Wer mit Marionna Schlatter in die Schwämme geht, merkt schnell – Pilze finden ist kinderleicht. Das Einzige, was man dafür tun muss, ist, den ganzen Waldboden interessant zu finden.

Als Marionna Schlatter 2008 die Stelle als Sekretärin der Jungen Grünen Zürich antritt, ist sie noch nicht einmal Partei­mitglied. Sie will sich den Laden erst in Ruhe ansehen. Nach fast einem Jahr tritt sie der Partei bei, für die sie bereits arbeitet. Nach zwei Jahren ist mit der Politik fürs Erste wieder Schluss – sie ist schwanger mit ihrer Tochter.

Die Pause wird kürzer als geplant. «Politik macht das mit einem», sagt sie und hebt die Schultern. Ihre Tochter ist nur wenige Wochen alt, als die Anfrage kommt, ob sie das Präsidium der Zürcher Grünen übernehmen wolle.

Sie will. Ihre acht Jahre als Präsidentin sind keine einfache Zeit – die Partei fährt schwere Verluste ein. Der Tiefpunkt sind die kantonalen Wahlen 2015 – die Grünen verlieren nicht nur fast ein Drittel der Sitze im Kantonsrat, sondern scheitern auch an der Wiederwahl ihres Regierungs­rates Martin Graf.

Doch Schlatter ist zäh. Sie tritt nicht zurück.

Als Präsidentin hat sie «einen Haufen Individualisten» unter sich. Erst lernt sie, die Vielfalt auszuhalten, einiges später sogar zu schätzen. Die grösste Schwierigkeit sei gewesen, sich nicht auf Macht­spiele einzulassen. «Ich führe, indem ich Freiräume schaffe. Platz für unterschiedliche Köpfe heisst: Platz für Entwicklung.»

Ihr Stil ist sanft, ihr Profil offensichtlich schärfer. Als sie am Wahl­sonntag bei der Feier der Grünen ankommt, rufen ihr 200 Menschen zu: «Weitermachen.»

Loyal und kritisch

Marionna Schlatter deutet auf den einen hellen, welligen Pilz am Wegrand. Ein Weisser Rasling – der Pilz, dessen Extrakt die Basis der Antibaby­pille für den Mann bildete. Kein grosser Erfolg, sagt Schlatter und verdreht kurz die Augen. Dann beginnt sie zu schwärmen; darüber, wie klein der Frucht­körper eines Pilzes im Vergleich zu seinen Wurzeln ist – diesem gigantischen Netzwerk, das sich über den ganzen Wald spannen kann.

Schlatter gilt innerhalb der Grünen als loyal. Obwohl sie durchaus auch von ihnen unterstützte Initiativen als zu radikal kritisiert: wie die Trinkwasser­initiative oder das Pestizidverbot.

Wie steht die Land­zürcherin zur Idee einiger Grüner, Rand- und Berg­regionen zu entvölkern und verganden zu lassen?

«Wir Menschen haben ein natürliches Interesse daran, in Harmonie zu leben.»

Marionna Schlatter atmet tief ein. «Früher habe ich jeweils den Spruch gemacht, dass die Grünen die Partei sind, die am wenigsten Ahnung von der Natur hat.» Nicht ganz ernst gemeint, natürlich; aber noch immer bemerke sie – vor allem bei urbanen Grünen – eine verklärt romantische Vorstellung gegenüber wilder Natur.

Denen sagt sie dann immer wieder das Gleiche: «Vergandung ist keine Garantie für Arten­vielfalt. Landwirtschaft hingegen wäre unser stärkstes Instrument dazu.»

Landwirtschaft und Raum­planung – das sind die Dossiers, die sie in Bern interessieren.

Besonders die Landwirtschaft. Und besonders die Bauern. Bei denen Burn-out oder Suizid übrigens brutal öfter vorkomme als in der Gesamt­bevölkerung.

Die einzige echte Bauernpartei

Dann kniet sie sich auf den efeu­bewachsenen Waldboden und macht sich an einem Pilz zu schaffen, der aussieht wie ein glitschiges Alien-Ei – eine junge Stink­morchel, roh essbar, solange nicht ausgeschossen; schmeckt ein bisschen wie Kohlrabi und ein bisschen nach Nuss.

Für Schlatter ist klar: Die Grünen sind die einzig echte Bauern­partei. «Wir sind zum Beispiel nicht dafür, dass Subventionen gekürzt werden. Wir sind kritisch gegenüber Freihandels­abkommen wie Mercosur. Und wir möchten die Landwirtinnen und Landwirte bei der Agrar­wende unterstützen.»

Von den Grünen als Bauern­partei muss sie vielleicht erst noch eine Handvoll Partei­kollegen überzeugen. Vor allem aber: die Bauern selbst.

Die wollen von den Grünen bislang nicht viel wissen, trotz des Efforts der Präsidentin. Zwar finden die Bauern warme Worte für Schlatter – am Ende unterstützen sie dann doch Noser und Köppel.

Dabei ist die Grüne am Leben der Bauern weitaus näher dran als die bürgerlichen Männer aus Stadt und Agglo.

Schlatter ist im Zürcher Oberland aufgewachsen. Nicht weiter als bis ins nächste Dorf gezogen – ein ganzes Leben im Umkreis von zehn Kilometern.

Das prägt auch ihre Politik. Die unmittelbare, unausweichliche Nähe zu Menschen, die oft ganz anders gesinnt seien: «Ich glaube, ich habe die Fähigkeit, Kompromisse mit Leuten zu finden, die Veränderung fürchten», sagt sie. «Geduldig zu sein, einfach zuzuhören.»

«Ja, ich habe einen konservativen Lebensstil»

Wie unterschiedlich die Leben zwischen Stadt und Land sind, spürt Schlatter auch in der eigenen Partei. Die Probleme sind anders, auch der Ton: Man kämpft von Ort zu Ort mit anderen Bandagen. Auch in Umweltfragen.

Schlatter bewegt sich gern auch in der Stadt. Aber die Erdung findet sie auf dem Land, wo die Nachbarn Sprüche über ihr Engagement machen.

Auch jenseits vom Wohnort lebt Schlatter nicht so, wie man das von einer linksgrünen Politikerin erwarten würde. Ihr Mann verdient als Elektro­ingenieur den Unterhalt. Schlatter kümmert sich neben dem ehren­amtlichen Präsidium, dem bescheiden entlöhnten Kantonsrat und dem Mini­pensum als Pilz­kontrolleurin um die Kinder und den 1000 Quadrat­meter grossen Permakultur­garten. Die Familie hat ein Auto – okay, ein Elektroauto.

«Ja, ich habe einen konservativen Lebens­stil. Dazu stehe ich voll und ganz», sagt Schlatter im Tonfall derer, die sich gewohnt sind, dass andere eine Recht­fertigung von ihnen wollen. Dann wird die Stimme auch gleich wieder sanft. Conservare – bewahren wollen – sei ja auch grundsätzlich nichts Schlechtes. «Die Frage ist nur, was man bewahren will.»

Sie richtet den Blick auf die fast kahlen Nadelbäume. Die Trockenheit des letzten Sommers hat Spuren an den Bäumen hinterlassen. «Hier», sagt sie und fährt mit den Fingern über das Muster, das das ausgetretene Harz auf der Rinde hinterlassen hat. «Da ist schon der Borken­käfer drin.»

Was macht ihr Sorgen?

«Dass es so langsam geht … Wir haben so wenig Zeit. Und so viel zu tun.»

Was macht ihr Hoffnung?

«Menschen.»

Ahnen, dass etwas nicht stimmt

Beim Vita-Parcours trotzen zwei ältere Herren dem Nieselregen. Einer trägt eine Schieber­mütze des Haus­eigentümer­verbands. Ein kurzer, freundlicher Austausch. «Ich liebe alte Menschen», sagt Schlatter mit einem Lächeln, das sie verblüffender­weise 30 Jahre jünger scheinen lässt.

Schlatter mag den Begriff «alte weisse Männer» – generell Pauschalisierungen – nicht. Obwohl einige dieser Sorte sie seit Monaten aufs Übelste beschimpfen.

Die Tiraden, die über sie niedergehen, schreibt sie einem diffusen Unwohlsein zu. «Irgendwie ahnen alle, dass etwas nicht stimmt. Dass die Welt aus der Balance ist.»

Die Polarisierung macht ihr trotzdem Sorgen. Auf beiden Seiten.

«Da kann man als Grüne durchaus selbstkritisch sein», sagt sie. Sie kennt ihre Leute, sie weiss, dass es Idealisten sind, von ihren Idealen so überzeugt, dass sie auch andere überzeugen wollen. «Es ist gut gemeint», sagt Schlatter. Aber dass dieser missionarische Ton Abwehr auslöst, kann sie verstehen.

«Auf unserer Seite haben viele – vor allem jüngere – einen tiefen Frust, weil sie glauben, der Mensch habe die ganze Welt zerstört.» Diese Haltung mag Schlatter nicht. Schon im Studium entschied sie sich dafür, den Menschen ins Zentrum zu setzen. Statt Biologie studierte sie Soziologie.

«Wir sind Teil des Ökosystems, so wie jedes Tier und jede Pflanze.» Das ist etwas, das sie vom Wald gelernt hat. Dass auch der kleinste, krummste Baum eine Rolle spielt. Die Menschheit könne der Umwelt schaden. «Und sie kann viel zum Heilungs­prozess beitragen.»

Ein Verbot für mehr Freiheit

Marionna Schlatter sagt, sie wolle Menschen lieber begeistern und befähigen. Von Belehrungen hingegen hält sie wenig. «Nehmen wir einen Bauern, der Pestizide einsetzt – er ist nicht schuld, dass der Boden kaputtgeht. Er ist Teil eines Systems, das ihm klargemacht hat, dass Pestizide nötig sind. Welche Land­wirtschaft wir betreiben, ist ein politischer Entscheid.»

Mit anderen Worten eine Frage von Verboten?

Marionna Schlatter: Über Nacht ist sie von der Rand­notiz zur gefragten Frau geworden.

Schlatter verzieht das Gesicht: Nein. Sie will das Fliegen nicht verbieten. Sie will nur die Frage stellen, wie sich unnötige Flugreisen vermeiden lassen. Verzicht, Verbot – die Begriffe seien im Wahlkampf so lang herum­gereicht worden, dass sie jetzt bei ihr Abwehr­reflexe auslösen. «Dabei bedeutet ein demokratisch beschlossenes Verbot immer Freiheit für die Mehrheit.»

Wie sähe so ein Verbot, das mehr Freiheit schafft, bei den Grünen konkret aus?

«Nehmen wir Palmöl. Ich glaube, kaum ein Mensch in der Schweiz befürwortet, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Palmöl heutzutage angebaut wird. Wenn wir Produkte, die Palmöl enthalten, aus den Regalen verbannen, hat der Konsument die Freiheit, beim Einkauf nicht dauernd das Klein­gedruckte lesen zu müssen, wenn er den Raubbau nicht unterstützen will.»

Dass die Menschen heute auch nicht so frei seien, wie die Liberalen gerne behaupten würden, macht Schlatter in ihrem Alltag fest. «Auf dem Land sind Menschen dazu gezwungen, ein Auto zu haben, weil es keine vernünftigen Alternativen gibt.»

Am Ende braucht es gar nicht viele neue Regeln, glaubt Schlatter. «Wir Menschen haben ein natürliches Interesse daran, in Harmonie zu leben. Auch mit der Natur. Wir müssen also nur die grossen Rahmen­bedingungen so setzen, dass wir als Mehrheit die Freiheit haben, uns so zu verhalten, wie wir uns wohl fühlen.»

Von den Pilzen lernen

Aus einem toten, schwarz vermoderten Baum­stamm ragt ein Büschel Pilze wie eine Fackel. Ziegel­roter Schwefel­kopf; giftig; aber er produziert Stoffe, die in der Lage sind, Pestizide abzubauen. Schlatter tippt auf einen der ocker­farbenen Hüte. «Von diesem unscheinbaren Kerl werden wir noch viel hören.»

Von welchem Pilz kann die Menschheit sonst noch lernen?

Marionna Schlatter denkt kurz nach, dann lächelt sie.

«Hallimasch.»

Die Gattung Hallimasch, oder Honigpilz, kommt auf allen Kontinenten vor, umfasst circa 70 Unterarten und bildet essbare Frucht­körper. Mit neun Hektaren Fläche und 600 Tonnen Gewicht ist ein Hallimasch-Pilzgeflecht in Oregon das grösste Lebe­wesen der Welt.

Hallimasche ernähren sich von totem Holz und geschwächten Bäumen. Das macht den Pilz zum Aasfresser, zum Mörder und im Prinzip zum Nützling, da er zur Verjüngung der Wälder beiträgt. Allerdings wird er wegen seiner derzeit explosiven Verbreitung als Schädling gehandelt. Schuld daran ist nicht der Pilz, sondern die Klima­erwärmung – genauer gesagt die Trockenheit, die die Bäume anfällig macht und das Wachstum der Rhizome begünstigt. Normalisiert sich das Klima, zieht sich der Hallimasch ohne weitere Massnahmen zurück.

Ach ja – und er leuchtet im Dunkeln.