Wir sind alle Clowns – Chile und der Joker
Warum ein nihilistischer Horrorclown zum Symbol der grössten Massenproteste in der Geschichte des Landes wurde.
Von Lili Loofbourow (Text) und Oliver Fuchs (Übersetzung), mit Bildern von Jörg Brüggemann (Ostkreuz), 02.11.2019
Ich hatte den ganzen Rummel um den neuen «Joker»-Film hier in den USA zum Glück aussitzen können.
Und ich hätte nicht erwartet, dass mich die Ereignisse in meiner anderen Heimat, Chile, doch noch dazu bringen würden, Todd Phillips’ polemischen Blockbuster zu sehen. Genauso wenig hätte ich erwartet, dass dieser Archetyp eines beschädigten und unzufriedenen Einzelgängers in kurzer Zeit zur Ikone für eine Massenbewegung würde. Eine Bewegung, die «estamos unidos» skandiert, «wir sind vereint».
Aber da war er, der Joker. Auf Wände gesprüht. Im Bus. Am Kopf eines Demonstrantenzuges.
Am 18. Oktober ist in Chile das Chaos ausgebrochen. Unterdessen haben sich die Proteste und der Vandalismus im ganzen Land ausgebreitet.
Der Fotograf Jörg Brüggemann war eigentlich als Gast eines Fotografiefestivals in der chilenischen Stadt Valparaíso, als die Grossproteste im ganzen Land losbrachen. Das Festival wurde kurzerhand umprogrammiert, und die anwesenden Fotografen begannen, die Ereignisse zu dokumentieren. Brüggemann hat die Atmosphäre in der Küstenstadt, rund 100 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, eingefangen, die friedliche Stimmung wie auch die Bereitschaft zu Gewalt. Brüggemann, 40, lebt in Berlin und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz.
Ich hatte auch nicht erwartet, dass Chilenen aus allen sozialen Schichten auf die Strasse gehen würden, um eine massive, tief greifende Veränderung des ganzen Systems zu fordern; oder dass dieser Protest in ein zweites unsicheres Wochenende führen würde, mit der grössten Zahl an Demonstrantinnen in der chilenischen Geschichte.
Ich hatte auch nicht erwartet, das Militär wieder auf den Strassen von Santiago zu sehen. Und Leute, die stundenlang in Supermärkten Schlange stehen.
Beides sind besonders belastete Bilder in Chile. Wer damals dabei war, als 1973 ein Militärputsch Präsident Salvador Allende stürzte, wer die 17-jährige Diktatur von Augusto Pinochet miterlebte, der kämpft in diesen Tagen zweifellos mit dem Echo dieser traumatischen Zeit.
Wer damals pro Pinochet war, den werden diese Schlangen im Supermarkt an die «Brot-Schlangen» unter Allende zurückdenken lassen, an Lebensmittelknappheit und an die Unordnung auf den Strassen.
Wer damals pro Allende war, der wird heute die Soldaten auf den Strassen von Santiago sehen und sich an den Putsch erinnern, der Allende gestürzt hat. An die Bombardierung von La Moneda, den Präsidentenpalast, an die Ausgangssperren und an die Schrecken, die mit den Militärpanzern auf den Strassen begannen.
Aber Symbole haben nie die exakt selbe Bedeutung, wenn sie wieder auftauchen. Sie verändern sich mit dem Kontext. Das ist mit dem Joker passiert – aber auch mit anderen alten Referenzen. Nehmen wir die lauten Proteste, bei denen unentwegt auf Kochtöpfe eingeschlagen wird, die in diesen Tagen überall in Chile stattgefunden haben, die cacerolazos. Menschen, die sich aus dem Fenster lehnen oder auf der Strasse marschieren, drücken laut ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo aus und zeigen damit ihre Unterstützung für die Proteste. (Wer nicht weiss, wie das klingt: Hier ist ein Video, das mir ein Verwandter am 19. Oktober geschickt hat, aufgenommen in der bürgerlichen Nachbarschaft von Ñuñoa.)
Wer 1971 politisch rechts war, wird durch diese cacerolazos, die in der vergangenen Woche im ganzen Land ertönten – in reichen und armen Stadtvierteln, in grossen und kleinen Städten –, vielleicht an den «Marsch der leeren Töpfe» erinnert.
Viele haben unterdessen vergessen, dass dieser Marsch von konservativen chilenischen Frauen unternommen wurde, um ihre Opposition gegen die sozialistische Regierung Allendes auszudrücken. Diese Proteste waren überwiegend rechtsgerichtet. Aber wie die heutigen cacerolazos gegen die Regierung – die politisch ganz anders motiviert sind – schafften es diese Proteste damals auch, Klassenunterschiede zu überwinden.
Auch heute kommen die Teilnehmer aus allen Schichten. Und darum ist es zweifelhaft, das, was gerade in Chile passiert, auf das übliche Rechts-links-Schema zu reduzieren.
Am Abend des 25. Oktober kam es zum grössten Protest in der Geschichte des Landes. 1,2 Millionen Menschen allein auf den Strassen Santiagos. Und Solidaritätsaktionen im ganzen Land. Die schiere Grösse dieses Protestes verhindert, dass man ihn politisch so leicht einordnen kann. Das ist es, was diesen Moment ausmacht – und so keimt nun tatsächlich wenigstens die leise Hoffnung auf, dass ein Land, das seit Jahrzehnten dieselben triumphalen und traumatischen Geschichten über sich selbst erzählt, endlich ein neues Kapitel aufschlagen kann.
Es gibt zahlreiche Vorwürfe betreffend Menschenrechtsverletzungen. Es werden mögliche Morde durch Strafverfolgungsbehörden beklagt, es gibt Anschuldigungen wegen Folter und sexueller Misshandlung.
Aber bis jetzt zumindest sind die Proteste noch nicht so brutal niedergeschlagen worden wie 1973.
Ich habe eingangs die beiden wichtigsten Protagonisten des Landes angeführt, an deren Namen man jahrzehntelang nicht vorbeigekommen ist: Pinochet und Allende. Sie stehen für zwei sehr unterschiedliche Versionen von Chile. Aber ich schrieb auch, dass die Ereignisse und die Bilder der vergangenen Woche für all jene traumatisch seien, die damals am Leben waren. Und ich meinte das so.
Viele der heutigen Chilenen waren damals noch nicht geboren.
Und von diesen – den Jungen, die heute unter steigenden Lebenshaltungskosten und Schuldenbergen leiden – scheinen es alle sattzuhaben, die Vergangenheit immer wieder von neuem zu verhandeln. Sie wenden sich, zumindest teilweise, auch gegen den langen Schatten, den Pinochet und Allende noch immer werfen.
Sie wehren sich gegen die Art und Weise, wie Pinochet von den Linken endlos als Entschuldigung für die eigenen Verfehlungen genutzt wurde, während sie die meisten Ideen von Pinochets Wirtschaftsmodell weiterführten.
Sie wehren sich gegen die Art und Weise, wie die Rechten bis heute Allende als Schreckensfigur benutzen, um Kinder mit Geschichten über finanziellen Ruin und linken Terrorismus zu verängstigen.
Ich möchte die Tragweite dessen, was in den letzten Wochen passiert ist, nicht herunterspielen. Das Chaos hat viele Chilenen erschöpft und nervös gemacht. Was mit einem Studentenprotest gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Tarife begann, hat sich zu landesweiten Märschen gegen viel mehr ausgeweitet: gegen vernichtend hohe Lebenshaltungskosten, gegen eine Rente in tiefer Armut, gegen die schlechte und teure Gesundheitsversorgung, gegen schlechte Bildung und gegen all die Schulden, um nur einige zu nennen.
Rekapitulieren wir: Präsident Sebastián Piñera hat das Militär aufgeboten und zeitweise eine Ausgangssperre verhängt. Es gab Tote. Es gibt Aufnahmen von Soldaten, die Zivilisten schlagen; ein Video zeigt Militärpolizisten, die auf Passanten einprügeln. Ein Fernsehsender hat Liveaufnahmen von Soldaten ausgestrahlt, sie schossen während einer Fahrt durch Recoleta, einen Stadtteil von Santiago.
Auch die Infrastruktur wurde durch die Proteste schwer beschädigt. Die U-Bahn in der Hauptstadt wurde vorübergehend lahmgelegt. Dutzende von Stationen sind abgebrannt – das ganze Metronetz wird erst in einigen Monaten wieder voll funktionstüchtig sein. Hunderte von kleinen und mittleren Unternehmen im ganzen Land mussten aufgrund von Plünderungen oder anderen Schäden schliessen.
All das ist laut, beängstigend, wild.
Dennoch: Daneben haben Tausende und Abertausende von Chilenen friedlich protestiert. Es gibt dieses abschreckende Bild, das die Runde gemacht hat: Es zeigt ein Gesicht, das aus vier verschiedenen Teilen besteht. Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie, dass jedes Viertel des Gesichts einem anderen Präsidenten der letzten 30 Jahre gehört. Piñera, der derzeitige konservative Präsident, ist dabei. Aber auch Michelle Bachelet, seine Vorgängerin. Und Eduardo Frei und Ricardo Lagos. Die letzten drei sind von der politischen Linken. «Sie sind alle schuld, absolut alle schuld», lautet die Überschrift. Mit anderen Worten: Was sich gerade Luft macht, ist nicht die Unzufriedenheit mit einer einzelnen Regierung. Es ist die Unzufriedenheit mit einem System. Mit jeder Partei.
Sie werden vielleicht auch bemerkt haben, dass in dieser Collage ein Gesicht fehlt: Pinochet.
Der Diktator war in den letzten Jahrzehnten ein unverzichtbares Merkmal jedes linken Protestes – aber die Menschen, die jetzt auf die Strasse gehen, haben genug davon, dass sich linke Politiker durch ständige Referenzen auf Pinochet aus ihrer eigenen Verantwortung gestohlen haben.
Brutaler Einsatz der Militärpolizei in der «Oase»
Der Aufschlag von 30 Peso (umgerechnet 4 Rappen) bei den Metrotickets, der all dies losgetreten hat, war keine untragbar hohe Summe. Aber es war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er löste einen Studentenprotest aus. Dieser wurde von Piñera und seinen Kabinettsmitgliedern scharf verurteilt. Seine Verwaltung bezeichnete die Studenten als Kriminelle, und die Militärpolizei wurde eingesetzt, um dagegen vorzugehen – und sie tat dies in einigen Fällen ziemlich brutal.
Nur wenige Tage zuvor hatte Piñera Chile als «eine wahre Oase in einem erschütterten Lateinamerika» gefeiert. Er bereitete sich darauf vor, Staatenlenker wie Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Jinping für einen Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) zu empfangen. Dies könnte dazu beigetragen haben, dass die Regierung so hart gegen die Studenten vorging. Der Staatssekretär des Inneren, Rodrigo Ubilla, erklärte am 17. Oktober, dem Tag, bevor sich die Unruhen ausweiteten: «Wir werden absolut standhaft und klar bei der Strafverfolgung sein.»
Und er kündigte an, dass Übeltäter im Rahmen des Strafrechtssystems verfolgt würden. Man hätte annehmen können, er meinte damit die wenigen Personen, die Sachbeschädigungen begangen hatten. Falsch: Er meinte alle Demonstranten. Noch am selben Tag präsentierten rechte Politiker einen Vorschlag, die Strafen für Schwarzfahren auf bis zu 480’000 Peso (etwa 630 Franken) zu erhöhen.
Die Heftigkeit der öffentlichen Reaktion auf den Tarifaufschlag war überraschend. Genauso überraschend waren die enormen Geldstrafen, welche die Regierung den Demonstranten aufbrummen wollte. Aber wenn der Widerstand gegen die Preiserhöhung symbolträchtig war, dann war es Piñeras Reaktion genauso.
Unter den OECD-Mitgliedsstaaten gehört Chile zu jenen mit der höchsten ökonomischen Ungleichheit. Die massive Überreaktion der Regierung hat vielen Menschen bestätigt, was sie schon lange zu wissen glaubten: dass diese Regierung, die gegenüber korrupten Wirtschaftskriminellen (und der Politikerkaste) immer ausserordentlich nachsichtig war, umgekehrt normale Bürger für kleine, bedeutungslose Vergehen mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt.
Die öffentliche Wut kochte über, und Piñera entschied sich ein zweites Mal für Repression. Er setzte das Militär ein. Mittlerweile ist klar: Der Schuss ging nach hinten los. Am Tag darauf hatten sich die Proteste über das ganze Land ausgebreitet, in Gebiete, in denen es keine U-Bahnen gibt und wo auch niemand welche möchte. Am Morgen des 18. Oktober sagte Verkehrsministerin Gloria Hutt, der U-Bahn-Tarif werde nicht wieder gesenkt. Eine Woche später wurde die Tariferhöhung rückgängig gemacht, der Kongress hat sich selber den Lohn um 25 Prozent gekürzt – und Piñera? Der schlug fünf Tage nach der Eskalation dann doch einige kleine Reförmchen vor und entschuldigte sich sogar für seinen «Mangel an Voraussicht».
Aber das hat die Proteste nicht gestoppt. Es ging nie wirklich um die U-Bahn.
Worum ging es wirklich?
Will man eine soziale Bewegung aus der Ferne verfolgen, ist man ärgerlicherweise von Bildern abhängig. Und von beunruhigenden Lageberichten von der eigenen Familie. Was jetzt passiert sei, das habe sich lange angebahnt, sagte mir ein Verwandter. Ein anderer war entsetzt über die Zerstörung, hatte Angst und musste eine dringend benötigte Operation absagen. Es ist hart, wenn du diese Dinge von deinen Liebsten hören musst.
Ein Filmzitat wird zum Motto eines Landes
Als ich verzweifelt Social-Media-Feeds auffrischte und mir Fotos von den Protesten ansah, fiel mir auf, dass sie ein Leitmotiv hatten.
«Wir sind alle Clowns» – so steht es auf einem Graffito an einer Wand in Santiago. Im Los Angeles von Chile tanzt ein Mann in der Kleidung des Joker vor einer marschierenden Menge. An dem Tag, an dem alles explodierte, zirkulierten Joker-Memes; einer fügte dem Gesicht des Joker einen dritten Diamanten hinzu, um das Logo der U-Bahn nachzuahmen. Die Leute verkleideten sich als Joker. Sie tanzten wie er.
Der Film «Joker» hatte in Chile einige Wochen vor den Protesten Premiere, das Timing ergab also einen gewissen Sinn. (Es gab auch, das sollte nicht unerwähnt bleiben, einen hübsch verkleideten Batman, der durch die Strassen patrouillierte.)
Es ist sowohl merkwürdig als auch unheimlich passend, dass der Film eine kleine symbolische Rolle in Chile spielt. Es ist ein amerikanischer Film, ja; über amerikanische Themen, ja; und doch führte Chiles langjähriger Status als hyperkapitalistisches Versuchslabor – das im Grunde genommen viele Reformversuche überlebt hat – dazu, dass der «Joker» von Regisseur Todd Phillips in Chile noch heftiger einschlug als in den USA. Ich weiss nicht, wie ich die Erfahrung beschreiben soll, einen solchen Film zu sehen (ein Superhelden-Spin-off, um Himmels willen!), während es einem dämmert, dass viele der fiktiven Spektakel, die er darstellt und fetischisiert – die Feuer, die Proteste, die sozialen Umwälzungen – gerade an einem Ort real sind, den man liebt, dass sie Menschen widerfahren, die man liebt, aber bei denen man nicht sein kann.
«Bin das nur ich, oder wird es verrückter da draussen?» Es ist ein Zitat aus dem Film. Es könnte im Moment Chiles Motto sein.
Noch umwerfender war, wie gut ein Grossteil der Dialoge im Film auf die chilenische Sozialgeschichte und die gegenwärtige Situation gepasst hat. Der Film porträtiert einen Milliardär, Thomas Wayne, als Bürgermeisterkandidaten. Obwohl er möglicherweise an Trump erinnern soll, ist die Figur direkt mit Piñera vergleichbar, einem äusserst wohlhabenden Geschäftsmann, von dem viele Chilenen glaubten, dass er einen grossartigen Staatschef abgeben würde, weil, wie jemand in «Joker» sagt, «jeder das sagt».
Die Sache ist die: Chile hat die Idee einer Leistungsgesellschaft jahrelang noch mehr fetischisiert als die Vereinigten Staaten. Der Glaube daran ist erschüttert, aber Chile ist eine Kultur, die immer noch vom Klassengedanken besessen ist. Die Menschen, die gerade plündern, werden zum Beispiel im Volksmund als lumpen (auch im Chilenischen angelehnt an den deutschen Begriff Lumpenproletariat) bezeichnet.
Und wenn die chilenische Rechte von den Unterschichten spricht, vor allem von denen, die protestieren, verwendet sie einen ganz bestimmten Begriff: resentidos. Das sind «diejenigen voller Ressentiments». Eine Abwertung, die oft mit Hass und Verachtung eingesetzt wird. Wenn in dieser Weltanschauung eine solche Person sich beschwert oder protestiert, dann nicht, weil ihre Beschwerden berechtigt sind. Sondern weil sie neidisch, faul ist – und Dinge verlangt, die sie nicht verdient. Es ist dir buchstäblich nicht erlaubt, die Elite zu verärgern; wenn du es tust, erfüllst du das, was die Elite dich nennt. Es ist eine Falle. Wenn du es in Chile schwer hast, sollst du es für dich behalten. Und – in den Worten des «Joker»-Films – «ein glückliches Gesicht machen».
Wenn Wayne also im Film sagt: «Sie sind nur neidisch auf diejenigen, die mehr Glück haben als Sie selbst», vermute ich, dass das in Chile auf eine besondere Weise Anklang finden wird. So auch seine Behauptung: «Diejenigen von uns, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben, werden diejenigen, die das nicht getan haben, immer als Clowns sehen.» Als Wayne einen Stummfilm in einem gemütlichen Theater geniesst, nichts mitbekommt von den Demonstranten draussen, die versuchen, gehört zu werden, da dachte ich daran, wo Piñera am 18. Oktober war, als das Land in Flammen aufging: in einem schönen Restaurant, Pizza essen.
Natürlich würde der Joker tanzen, in Santiago.
In einer Rede in der Nacht des 20. Oktober, umgeben von Militärangehörigen, sagte Piñera: «Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert; der bereit ist, Gewalt und Verbrechen ohne Grenzen anzuwenden.» Er wird dies zwei Tage darauf zurücknehmen – sich sogar entschuldigen und einige Reformen vorschlagen –, aber an diesem Sonntagabend hielten viele Piñeras Sprache für eine atemberaubende Eskalation. Pinochet verwendete 1986 genau diesen Satz: «Wir befinden uns im Krieg», sagte der Diktator nach einem Versuch eines Attentats auf ihn und behauptete, es sei ein Zeichen für einen Krieg zwischen «Marxismus und Demokratie».
Es gibt noch immer viele Pro-Pinochet-Chilenen; und viele von ihnen schätzen diese Art von Diskurs und die implizite Berufung auf geordnetere Zeiten. Wenige Menschen hassen öffentliche Unruhen stärker als sie. Viele befürworten gewalttätige und sogar tödliche Gegenmassnahmen. Es wäre nicht so überraschend gewesen, hätte die Oberschicht Piñera dazu gedrängt, diese Strategie zu verfolgen.
Stattdessen scheint es eine Erkenntnis zu geben, auch bei jenen, denen es gut geht, dass hier etwas Grösseres passiert.
Auch in schicken Quartieren wächst der Protest
Rechte Politiker, wie Senator José Ossandón, haben das Framing von Piñera auf den Kopf gestellt: «Man muss die Öffentlichkeit verteidigen», sagte er, «deshalb muss der ‹Krieg› gegen die tiefen Renten geführt werden, gegen unsere mangelhafte politische Arbeit, gegen Ungleichheit, gegen Missbrauch, gegen Hinterzimmer-Absprachen. Ich bin sicher, wir können es schaffen.»
Selbst rechte TV-Berühmtheiten wie Moderatorin und Schauspielerin Raquel Argandoña stellen fest, dass die Eskalation der Protesttaktiken hin zu Sachbeschädigung (welche die meisten Demonstranten ebenfalls verurteilen) vorhersehbar war. Und zwar deshalb, weil die Regierung die Forderungen friedlicher Demonstranten einfach ignoriert habe. «Die friedlichen Proteste und cacerolazos haben die Regierung nicht dazu veranlasst, zu reagieren», sagte sie in ihrer Show. «Das führt dazu, dass die Demonstranten aggressiv werden, und das führt leider zu Vandalismus.» Argandoña hat recht: Rund 1,3 Millionen Menschen marschierten schon im August 2016 im ganzen Land, um gegen das privatisierte Rentensystem zu protestieren. Kaum etwas änderte sich.
Und so gehen die cacerolazos weiter. In der gehobenen Nachbarschaft von Vitacura. Riesige Proteste im schicken Viertel Las Condes. «Es sind wirklich die Endzeiten», kommentierte jemand im Internetforum Reddit die Aufnahmen von Protestlern in Las Condes, die linke Gesänge wie «El pueblo, unido, jamás serás vencido» sangen («Das Volk, vereint, du wirst nie besiegt werden»). Mehrere Nächte lang widersetzten sich die Bewohner des Mittelklasseviertels Ñuñoa dem Militär und der Ausgangssperre. Es sind nicht nur die Armen, die protestieren. Es könnten vielmehr die unteren 99 Prozent der Bevölkerung sein. «Es geht nicht um 30 Peso», lautet ein Protestmotto, «es geht um 30 Jahre.»
Was in den 1970er-Jahren geschah, wiederholt sich also. Aber mit riesigen, ehrgeizigen, gefährlichen Unterschieden. All das kann jederzeit schiefgehen: Die Lastwagenfahrer könnten streiken und die Versorgung unterbrechen, sodass die Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften tatsächlich wieder das bedeuteten, was sie einst schon taten. Es könnte zu Nahrungsmittelknappheit kommen. Das Militär könnte anfangen durchzugreifen, Bürger zusammenzutreiben und hinzurichten, wie es das in der Vergangenheit getan hat.
Was in Chile gerade passiert, fühlt sich an wie ein gigantischer, hoch riskanter Test.
Aber worauf laufen die Proteste hinaus? Worum geht es? Es kursieren Erklärungen. Zum Beispiel dieses Flugblatt: «Es ist nicht die Metro!!!!!!! Es ist Gesundheit, es ist Bildung, es sind die Renten, es ist Wohnraum, es sind die Gehälter im Parlament, es sind die höheren Stromkosten, es sind die erhöhten Gaskosten, es ist der Diebstahl durch die Streitkräfte, es ist die ‹Megabegnadigung› für den Geschäftsmann, es ist die Würde einer Gesellschaft!»
Was solche Pamphlete zeigen, ist, wie schlecht einfache Menschen in Chile noch zurechtkommen.
Dazu etwas Kontext: Der durchschnittliche Monatslohn in Chile betrug 2018 379’673 Peso – ungefähr 500 Franken. Und während der Mindestlohn im März dieses Jahres auf 301’000 Peso (400 Franken) angehoben wurde, sind die Stromrechnungen gestiegen, die Treibstoffkosten gestiegen (laut Bloomberg liegt der Preis für eine Gallone Benzin, 3,8 Liter, in Chile bei etwa 11 Prozent eines durchschnittlichen Tageslohns), und die Immobilienpreise sind ebenfalls gestiegen. Die Verschuldung wegen Bildungskosten ist explodiert, und die öffentlichen Grundschulen, die es gibt, sind ziemlich schlecht – die Diktatur hat ihr Bestes getan, um das öffentliche Bildungswesen zu privatisieren.
Während das Land also wohlhabend aussieht und stolz ist auf Erstwelt-Monumente wie den riesigen Wolkenkratzer und das Einkaufszentrum Costanera Center in der Hauptstadt Santiago, halten manche dies für nicht viel mehr als Zuckerguss. Dazu gehört: eine hoch verschuldete Bevölkerung. Nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung verdienen mehr als 850’000 Peso pro Monat (1130 Franken). Zum Vergleich: Chilenische Senatoren verdienen etwa 8300 US-Dollar pro Monat (8200 Franken), die extrem grosszügigen Sozialzulagen sind da noch gar nicht eingerechnet.
Und viele öffentliche Bereiche wurden privatisiert oder halbprivatisiert: Strom, Wasser, Strassen, Gesundheitswesen.
Der Zynismus des Wirtschaftsministers
Die Menschen haben sich jahrelang bemüht, diese «Oasen»-Version von Chile zu erhalten, während sie in Schulden ertranken und immer länger arbeiteten.
Ein Demonstrant trug ein Banner mit der Aufschrift: «Ich habe keine Angst zu sterben; ich habe Angst, in Rente zu gehen.»
Als Wirtschaftsminister Andrés Fontaine am 7. Oktober vorschlug, dass die Menschen nur früher aufstehen müssten, wenn sie den Aufschlag bei den U-Bahn-Tarifen vermeiden wollten, wurden die Leute stinksauer. «Ist ihm nicht klar, dass Arbeiter bereits ganze Städte durchqueren und in der Dunkelheit aufstehen und schlafen gehen?», fragte einer. «Am Ende glauben sie, dass die Menschen faul sind und sie deshalb nicht haben, was sie selber haben», sagte eine andere.
Fontaine entschuldigte sich für seine Worte. Fünf Tage nachdem die Proteste ausgebrochen waren.
Die Chilenen sagen, dass sie zu lange ausgebeutet wurden, dass sie Erstwelt-Preise mit Drittwelt-Löhnen bezahlen müssten. Sie werden ausgepresst durch skandalöse Preisabsprachen; beim Toilettenpapier von den Herstellern, beim Hühnerfleisch von den Supermärkten, bei den Medikamenten von den Apotheken.
Hinzu kommen die Wirtschaftskriminalität und die Tatsache, wie unbehelligt die empresarios, die Unternehmer – einst als verdiente Sieger der Leistungsgesellschaft gefeiert –, betrügen und stehlen dürfen, ohne dass sie bestraft werden. Bereits 2012 machte der Johnson-Skandal um eine Kette von Kaufhäusern Schlagzeilen: Die Steuerbehörde SII hob unerklärlicherweise Geldbussen und Zinsen in Höhe von 125 Millionen Dollar auf, welche die Ladenkette schuldig war – im Nachgang wurden Interessenkonflikte zwischen Mitgliedern des SII und der Kaufhaus-Kette aufgedeckt. Weitere Fälle folgten. Zum Beispiel der «Penta»-Skandal, als eine der grössten Finanzgruppen des Landes mit gefälschten Rechnungen Geld an die politischen Parteien leitete, um Steuern zu vermeiden.
Je mehr dieser Skandale ans Licht kamen, desto schwieriger wurde es für die Chilenen, sich als Bürger eines der transparentesten und am wenigsten korrupten Länder Lateinamerikas zu verstehen. Die Leistungsgesellschaft schien von innen heraus zu verfaulen.
Präsident Piñera selbst wurde neulich dabei erwischt, dass er es versäumt hatte, Grundsteuern auf ein Haus zu bezahlen, das er seit 30 Jahren besitzt. Die Staatskasse entschloss sich, ihm rückwirkend 3 der 30 Jahre in Rechnung zu stellen.
Kein Wunder, kam es nicht gut an, als er jene als «Kriminelle» bezeichnete, die das Ticket für die U-Bahn nicht bezahlt hatten.
Chile zeigt der Welt, was passieren kann
Warum könnte all das für den Rest der Welt wichtig werden? Chile, das während der Diktatur als «marktwirtschaftliches Labor» bezeichnet wurde, hat oft als eine Art Versuchskaninchen gezeigt, wie es anderen Ländern mit ihren eigenen turbokapitalistischen Experimenten ergehen wird. Pinochet machte sogar Wasser zu einem privat gehandelten Gut. Das hat nicht sonderlich gut geendet.
Der Bruder des derzeitigen Präsidenten, José Piñera, hatte das Rentensystem neu gestaltet und effektiv privatisiert. 30 Länder adaptierten das chilenische Rentensystem (George W. Bush war ein grosser Bewunderer) und nehmen nun verängstigt zur Kenntnis, dass es jetzt in Chile Ruhestandsgehälter von etwa 315 Dollar pro Monat gibt. Die Firmen, die die Renten verwalten, machen derweil satte Profite.
Ich fragte meine Cousine Bernardita, warum all das Chaos der vergangenen Tage die Proteste in den wohlhabenderen Schichten nicht zu dämpfen schien (deren Unterstützung der Präsident wahrscheinlich braucht, wenn ein wirklich brutales militärisches Durchgreifen bevorsteht). «Ich glaube, alle sind betroffen», sagte sie. «Wir gehören zur oberen Mittelklasse, und wir sind auch im Arsch. Das Problem ist strukturell und allumfassend.»
Und während Hashtags wie #RenunciaPiñera (tritt zurück, Piñera) im Trend liegen, betonen andere, dass es hier nicht nur um den Staatspräsidenten geht. Der Präsident des Senats, Jaime Quintana, hat gesagt: «Wir können dieser Regierung nicht die gesamte Verantwortung übertragen. Wir haben fast einen Altar gebaut für das Wirtschaftsmodell dieses Landes.» Einer der fähigsten Geschäftsleute des Landes kündigte an, dass kein direkter Angestellter seines Unternehmens in Zukunft weniger als 500’000 Peso (660 Franken) pro Monat verdienen würde. Die wohlhabende Gemeinde Las Condes spendete gerade freiwillig eine Milliarde Peso (1,3 Millionen Franken) an die ärmere Gemeinde La Pintana.
An diesem Montag hat Piñera 8 seiner 24 Minister ausgewechselt. Unter den Demonstrantinnen und in der Opposition werden nun die Rufe nach einer neuen Verfassung immer lauter. Sie sagen: Grundlegende Reformen seien ohne diesen Schritt unmöglich.
Und der Apec-Gipfel? Der ist unterdessen abgesagt.
In den letzten Tagen sind mir weniger «Joker»-Referenzen aufgefallen. Und es fühlt sich so an, als wären gewisse Bilder – Männer in Uniform, die Zivilisten gegenüberstehen, lange Schlangen in Lebensmittelgeschäften – ebenfalls weniger zu sehen. Aber nach einer Woche Ausnahmezustand ist es in Chile nicht besser geworden. Es wird nicht einfacher, wenn das «glückliche Gesicht» durch ehrliche Gefühle ersetzt wird. Der Tourismus ist eingebrochen. Die Menschen sind ängstlich und wütend und müde.
Aber die Umstände sind nicht so schlimm, wie sie sein könnten. Es könnte alles jederzeit den Bach runtergehen. Aber noch – noch! – sind Schlangen vor den Supermärkten keine «Brot-Schlangen». So beunruhigend die Bilder sind vom Militär, das auf Zivilisten losgeht, noch sind die Dinge nicht bis zum «Punkt ohne Wiederkehr» eskaliert. Ich weiss nicht, ob das ein Fortschritt ist für ein Land, das krank ist von all den erlebten und geerbten Traumata.
Aber es ist immerhin etwas.
«Glaubst du, der Joker war irgendwie eine Inspiration?», fragte ich meine Cousine Bernardita. «Natürlich», sagte sie, «oder eigentlich umgekehrt: Die soziale Unzufriedenheit inspirierte diese Variante des Joker. Ohne Zweifel.»
Wie auch immer die Demonstranten den Joker benutzt haben, man kann die Proteste nicht allein damit erklären. Der nihilistische Clown hat seine Grenzen. Der Joker schnappte über, er zerbrach und wandte sich gegen die Gesellschaft. Chile ist wütend, und ein Teil davon ist zerbrochen. Aber im Grossen und Ganzen ist seine Gesellschaft nicht dem Nihilismus anheimgefallen. Am 21. Oktober wurde «NO ESTAMOS EN GUERRA» (Wir sind nicht im Krieg) auf die Seite des Telefónica-Gebäudes in der Nähe der Plaza Italia projiziert. Dort hatte sich eine riesige Menschenmasse versammelt. Sie war gekommen, um die Durchsetzung der Ausgangssperre durch das Militär abzulehnen.
Sie war gekommen, um das alte Chile auf die Probe zu stellen. Um zu sehen, ob es sich geändert hat. Um zu sehen, ob es das kann.
Lili Loofbourow ist Journalistin beim amerikanischen «Slate»-Magazin, davor schrieb sie unter anderem für «The Week», das «New York Times Magazine», den «Guardian» und «The New Republic». Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel «Chile’s People Have Had Enough» im «Slate»-Magazin.