Was diese Woche wichtig war

Kanadas Premier verliert Mehrheit, gescheiterter Telecom-Deal in der Schweiz – und bekommt Johnson Neuwahlen?

Woche 43/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.

Von Philipp Albrecht, Ronja Beck, Oliver Fuchs und Michael Rüegg, 25.10.2019

Boris Johnson will ganz oder gar nicht

Darum geht es: Der vergangene Samstag sollte zum alles entscheidenden Tag in der Brexit-Saga werden. Dem Tag, an dem das britische Parlament endlich für einen Brexit-Deal mit der EU stimmt. Das tat es denn auch tatsächlich – aber mit einer gewichtigen Einschränkung: Die Abgeordneten stimmten dem Deal zwar im Prinzip zu. Aber sie räumten sich noch gleichentags mehr Zeit ein, den Deal vor der definitiven Zustimmung eingehend zu debattieren – und ihn noch anzupassen. Nun geht Johnson aufs Ganze: Er will am 12. Dezember ein neues Parlament wählen lassen.

Warum das wichtig ist: Johnsons Etappensieg ist nicht zu unterschätzen. Zum ersten Mal gab es im britischen Parlament eine Mehrheit für einen Austritts­deal. Seiner Vorgängerin Theresa May war dies nie gelungen. Aber diese Mehrheit ist brüchig. Falls die Abgeordneten den Vertrag noch anpassen, könnten wiederum Abgeordnete abspringen, die damit nicht einverstanden sind. Diskutiert wird beispielsweise, dass Grossbritannien dauerhaft in der Zollunion mit der EU bleiben soll – ein rotes Tuch für Brexit-Hardliner. Nun setzt Johnson auf eine neue Taktik: Wenn das Parlament nicht will, dann braucht es halt ein neues Parlament. Darum hat er gestern Abend einmal mehr Neuwahlen gefordert. Bisher hat sich die Opposition immer auf den Standpunkt gestellt, dass es diese erst geben kann, wenn zuvor das Austritts­datum verschoben wird. So soll ein No-Deal-Brexit unbedingt verhindert werden.

Was als Nächstes geschieht: Am Montag wird das Parlament über Neuwahlen abstimmen. Bis dann dürfte klar sein, wie lange der Aufschub des Austritts ausfällt. Den hat Johnson bei der EU beantragen müssen – und es gilt als sicher, dass die EU zustimmt. Damit wäre ein No-Deal-Brexit (einmal mehr) abgewendet, und die Opposition hätte keine Argumente mehr, Johnson die Wahlen zu verweigern.

Kanada: Premier Justin Trudeau verliert an Rückhalt

Darum geht es: Die kanadischen Parlaments­wahlen vom Montag kosten die regierenden Liberalen unter Premier Justin Trudeau 27 ihrer Sitze im Unterhaus. Sie erlangten 157 Mandate und verlieren damit ihre knappe, 2015 gewonnene Mehrheit der 338 Sitze zählenden Kammer. Aufstocken konnten die Konservativen, und zwar von 95 auf 121 Sitze, sie bleiben jedoch hinter den Liberalen auf dem zweiten Platz. Die – relativ gesehen – grössten Gewinner sind die frankofonen Separatisten vom Bloc Québécois: Sie sind mit 32 Sitzen neu die drittstärkste Kraft in Kanada.

In Erklärungsnot: Die Liberalen von Kanadas Premierminister Justin Trudeau verloren bei den Wahlen massiv. David Kawai/Bloomberg/Getty Images

Warum das wichtig ist: Es war ein Erdrutsch­sieg, den die Liberalen unter Justin Trudeau vor vier Jahren erlangten: Mit 20 Prozent­punkten mehr und 184 statt 36 Sitzen im Unterhaus entrissen sie den bis dahin regierenden Konservativen die Macht. Trudeau war plötzlich dort, wo auch schon sein Vater gewesen war: Er wurde Premier­minister. Und gab sich als Feminist, Gegen­entwurf zu Nachbar Donald Trump und Klimaaktivist – also als durch und durch progressiv. Allerdings nicht ohne dafür Kritik einzustecken: Trudeau führte zwar eine Kohlesteuer ein. Gleichzeitig steckte er jedoch Milliarden in eine Ölpipeline quer durchs Land. Jüngst geriet Trudeau ins mediale Kreuzfeuer, als alte Fotos einer Party zum Vorschein kamen, die ihn mit schwarz angemaltem Gesicht zeigten. Und das, nachdem er kurz zuvor seine indigene Justizministerin aus der Partei ausgeschlossen hatte, weil sie ein Strafverfahren gegen eine Baufirma nicht fallen lassen wollte. Die Konservativen unter Abtreibungs­gegner Andrew Sheer wussten die Gunst der Stunde zu nutzen. Genauso wie der Bloc Québécois, der sich ein autonomes Québec wünscht. Anfang Jahr lag der Bloc politisch noch im Koma – nun konnte er die Zahl seiner Sitze verdreifachen.

Was als Nächstes geschieht: Trudeau wurde zwar in seinem Amt bestätigt, wird aber künftig eine Minderheits­regierung anführen. Nach Meinung von Experten zeigen die Wahlen eine zunehmende Spaltung des Landes: in einen konservativen Westen, einen liberalen Osten und die separatistischen Québécois. Das neue Kräfte­verhältnis wird die kommenden vier Jahre für Trudeau nicht einfacher machen. Auf seine Regierung kommt eine stetige Suche nach Mehrheiten und Kompromissen zu – fixe Koalitionen sind in Kanada eine Seltenheit.

Sunrise will UPC doch nicht

Darum geht es: Am 22. Oktober hat das Schweizer Telecom­unternehmen Sunrise kurzfristig eine ausserordentliche General­versammlung abgesagt, die für den Tag darauf anberaumt war. Am Anlass hätten die Aktionäre einer Kapital­erhöhung zustimmen sollen mit dem Ziel, den Kabelnetz­betreiber UPC zu kaufen. Doch Sunrise-Präsident Peter Kurer musste eingestehen, dass er für sein Vorhaben keine Mehrheit findet. Damit ist die Übernahme vom Tisch, vorerst zumindest.

Warum das wichtig ist: Hätte der Deal geklappt, wäre der übermächtigen Swisscom auf einen Schlag eine veritable Konkurrentin gegenüber­gestanden. Dies, weil Sunrise ihr Mobilfunk­netz mit dem Kabelnetz und den TV-Kunden von UPC hätte verschmelzen können. Viele Branchen­kenner waren überzeugt, dass die Übernahme das Quasi­monopol der Swisscom unter Druck gesetzt hätte. Ob das auch zu tieferen Preisen für die Privatkundinnen geführt hätte, war allerdings umstritten. Anfangs erhielt der Deal sehr viel Zuspruch, doch als sich die Telecomfirma Freenet öffentlich dagegen aussprach, drehte der Wind. Freenet ist mit 25 Prozent die grösste Sunrise-Einzel­aktionärin. Der Verkaufspreis von 6,3 Milliarden Franken war Freenet-Chef Christoph Vilanek zu hoch. Er schaffte es, in einer mehrere Wochen andauernden PR-Schlacht mit vielen gestreuten News und prominent platzierten Interviews eine Mehrheit der übrigen Aktionäre auf seine Seite zu ziehen. Unterstützung bekam Vilanek vom US-Stimmrechts­berater ISS, dessen Empfehlungen zahlreiche Aktionäre weltweit blind folgen.

Was als Nächstes geschieht: Mit der Absage der Generalversammlung zog Sunrise-Präsident Kurer seinen Kopf aus der Schlinge. Denn mehrere Investoren hatten Anträge vorbereitet, um ihn an der Versammlung abzuwählen. Kurer geniesst in der Schweizer Wirtschaft keinen besonders guten Ruf, was mit seinen umstrittenen Rollen bei der gescheiterten Swissair- und der erfolgreichen UBS-Rettung zu tun hat. Zusammen mit CEO Olaf Swantee wird er Sunrise nun vorerst weiter führen. Der UPC-Kauf ist derweil noch nicht vom Tisch. Bis Ende Februar ist der Aktienverkaufs­vertrag gültig. In der «Financial Times» meldete sich Mike Fries, CEO der UPC-Mutter Liberty Global, zu Wort. «Dieser Deal könnte noch einmal zum Leben erweckt werden», sagte er, ohne jedoch in die Details zu gehen.

Proteste, Streiks und eine fragwürdige Wahl in Südamerika

Darum geht es: In den vergangenen Tagen kam es in Chile und in Bolivien zu gewalt­tätigen Protesten. In Bolivien trieben die Wahlen am Wochenende die Menschen auf die Strassen. In Chile mutierten Schüler­proteste gegen erhöhte Metro-Fahrkarten zu brutalen Strassen­schlachten, die mehr als 18 Menschen das Leben kosteten.

Der ewige Präsident: Evo Morales bleibt Boliviens Staatsoberhaupt, auch wenn es bei den Wahlen Unregelmässigkeiten gab. Juan Karita/AP/Keystone

Warum das wichtig ist: Am Montag wurde es verkündet: Evo Morales, seit 2006 Präsident von Bolivien, trete seine vierte Amtszeit an. Morales hatte mit einem Stimmen­vorsprung von 10,12 Prozent­punkten seinen Konkurrenten Carlos Mesa ausgestochen. Amtsinhaber Morales hat die 10-Prozent-Marke haarscharf überschritten, somit bleibt ihm ein zweiter Wahlgang erspart. Allerdings hatte nach einer ersten Zählung von über 80 Prozent der Stimmen Morales nur knapp die Nase vorn. Daraufhin wurde die Zählung während 24 Stunden unterbrochen – und plötzlich war der Abstand zwischen den Kontrahenten deutlich grösser. Die Opposition wirft dem Präsidenten Wahlmanipulation vor. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Beobachterin der Wahlen, äusserte «tiefe Bedenken und Überraschung über den drastischen, schwer zu erklärenden Wechsel des Trends». Die Proteste in Chile richten sich gegen die Regierung. Tausende Chilenen gehen seit Tagen wegen zu hoher Lebens­kosten, schlechter Löhne und einer wachsenden Armuts­schere auf die Strasse. Am Samstag rief Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand aus und übergab dem Militär die Befehls­führung. Protest­kundgebungen haben sich in Lateinamerika während der vergangenen Monate gehäuft. Auch in Ecuador, Argentinien, Peru oder Honduras gingen die Menschen auf die Strasse.

Was als Nächstes geschieht: Als Reaktion auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung gestand der chilenische Präsident Piñera Fehler ein und kündigte ein Reformen­paket an. Er vermochte damit die Demonstranten und Gewerkschaften allerdings nicht zu besänftigen. Die Proteste halten an, zudem wurde ein General­streik ausgerufen. Derweil wird in Bolivien der Ruf nach einer erneuten Stimmen­auszählung laut. Die EU fordert eine Untersuchung des Wahlvorgangs. Morales gibt sich davon unbeeindruckt weiterhin als stolzer Sieger.

Libanon: Die Wirtschaft bleibt auf der Strecke, das Volk auf der Strasse

Darum geht es: Auch im Libanon gehen seit über einer Woche Hunderttausende Menschen auf die Strasse, Schulen und Universitäten bleiben geschlossen. «Stürzt alles!» ist zum kraftvollen Motto gegen die Regierung geworden. Die Demonstrantinnen sehen bei den Macht­habern unter anderem die Schuld für die anhaltende wirtschaftliche Stagnation und ein kaputtes System, das Ämter und Privilegien nach Religions­zugehörigkeit verteilt. Auslöser der Proteste waren mittler­weile eingestampfte Pläne der Regierung für eine Steuer auf Whatsapp-Anrufen.

Warum das wichtig ist: Die Bevölkerung des heute 6 Millionen Einwohner zählenden Libanon litt von 1975 bis 1990 unter einem Bürgerkrieg. So richtig auf die Beine kam das Land seither nicht, ein gigantischer Schulden­berg und eine anhaltende Finanzkrise drücken auf die Gemüter und Portemonnaies der Libanesinnen. Dass die Regierung nach der Kürzung der ohnehin kargen Beamten­pensionen die Staats­finanzen über eine Steuer auf Whatsapp- und Facetime-Telefonie zu sanieren versuchte, brachte das Fass zum Überlaufen. Einzelne Minister traten seit Beginn der Proteste zurück, die Mehrheit klammert sich hingegen an ihre Ämter. Ein Reformen­paket, das die Regierung ankündigte, vermochte die Menschen jedoch nicht zu besänftigen.

«Stürzt alles!»: Im Libanon ist die Regierung schwer unter Druck geraten. Wael Hamzeh/EPA/Keystone

Was als Nächstes geschieht: Sollten die Proteste anhalten, wird Minister­präsident Saad Hariri nicht um Neuwahlen herumkommen – angeboten hat er sie bereits. Da Whatsapp zum Facebook-Konzern gehört, hätte damit der Social-Media-Gigant wohl erstmals den Sturz einer Regierung ausgelöst – und zwar nicht über geteilte Inhalte, sondern lediglich deshalb, weil der Message- und Telefonie­dienst kostenlos ist.

Zum Schluss: Verschlossene Türen und Pizza für alle

Die in Washington D.C. spielende Polit-Soap rund um die Impeachment-Bemühungen gegen Präsident Donald Trump ist diese Woche um zwei Episoden reicher geworden. Am Dienstag hatte der amtierende US-Botschafter für die Ukraine Bill Taylor während neun Stunden hinter verschlossenen Türen ausgesagt. Seine Äusserungen belasten Trump schwer, denn Taylor bestätigte: Das Weisse Haus verlangte Gegen­leistungen für die fast 400 Millionen Dollar – in Form von belastendem Material gegen den demokratischen Präsidentschafts­anwärter Joe Biden respektive dessen Sohn Hunter. Am Mittwoch dann waren es die erwähnten verschlossenen Türen selbst, die eine Hauptrolle im Drama übernahmen. Eine Gruppe republikanischer Kongressabgeordneter stürmte eine Sicherheitszone im Kongress, in der die mit dem Impeachment befassten Komitees Zeuginnen befragen. Die Parlamentarier drängten sich an Sicherheitsleuten vorbei und filmten dabei mit ihren Handys, was verboten ist. Danach besetzten sie den Ort mehrere Stunden und bestellten Pizzas für sich und die Journalistinnen im Schlepptau. Die Befragungen mussten unterbrochen werden, Demokraten kritisierten das unübliche Vorgehen als Verzögerungs­taktik.

Was sonst noch wichtig war

Top-Storys

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Müttersterblichkeit Als die Foto­journalistin Lynsey Addario in Sierra Leone aus einem Krankenhaus trat, sah sie vor sich eine junge Mutter, die dabei war, zu verbluten. Zehn Jahre lang dokumentierte Addario, wie Mütter bei Geburten sterben.

Illustration: Till Lauer

Was diese Woche wichtig war

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