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Wir, die Shoa und die Gegenwart

Auf vielfachen Wunsch: Die Literaturliste zur Reportage über die Vernichtungslager der Nazis in Polen.

Von Brigitte Hürlimann, 22.10.2019

Der Fribourger Rechts­professor Marcel Niggli reist seit ein paar Jahren regelmässig nach Polen und besucht dort mit Studentinnen und Studenten Vernichtungs­lager der national­sozialistischen Besatzer: Majdanek, Treblinka und Auschwitz waren es diesen Frühling. Die Reise ist Teil eines Seminars über Polen und die Shoa. Die Republik hat die Studien­gruppe bei ihrer Reise durch Polen begleitet.

Zur Reportage

Wer die grössten Vernichtungsanstalten der Nationalsozialisten in Polen besucht und sich mit dem Damals auseinandersetzt, landet mitten in der Gegenwart: «Es ist nicht vorbei».

Der Beitrag wurde breit diskutiert und von «Reportagen.fm» als eine der drei wichtigsten Reportagen in jener Woche ausgewählt. Es gebe keinen Anlass für diese Reise nach Polen, schreibt «Reportagen.fm», ausser dem wichtigsten: «Dass das Erinnern niemals aufhört.»

Auch auf unserer Dialogseite wurde das Thema aufgenommen und diskutiert. Eine Leserin schildert, wie ihr Vater als Fahrer beim Schweizerischen Roten Kreuz ehemalige Insassen aus dem Konzentrations­lager Mauthausen in die Schweiz brachte. Wie er 48 Jahre lang schwieg und seinen Kindern erst kurz vor dem Tod und auch dann nur bruchstück­haft darüber berichten konnte: «Er sah erschreckend aus dabei», berichtet die Leserin.

Andere rufen dazu auf, sich zu wehren, hier und heute antisemitische und fremden­feindliche Äusserungen nicht einfach stillschweigend zu dulden.

Aber was tun? Wie reagieren, wenn man sich an einem Geburtstags­essen plötzlich inmitten von Holocaust-Verharmlosern wiederfindet? «Es war surreal», schreibt ein Leser, der anonym bleiben möchte: «Verschwörungs­theorie in Vollendung, aber ich war erschüttert, denn es waren nicht Fremde, sondern mir liebe Menschen, die plötzlich wie eine Maske ablegten.» Und das Schlimme sei, fährt der Leser fort: «Das sind keine Geistes­gestörten, solche Leute gibt es tatsächlich unter uns, und manchmal fürchte ich, es sind viel mehr, als wir glauben. Ältere, ganz normale und freundliche Menschen, die gebildet und wohlhabend sind.»

Ein ebenfalls anonymer Mitdiskutierer fragt nach der in unserer Reportage erwähnten Literatur­liste von Professor Marcel Niggli. Ob man diese sehen dürfe?

Ja, man darf. Niggli hat seine Liste in aufwendiger Arbeit neu strukturiert und ergänzt, und er stellt sie der Republik-Leserschaft zur Verfügung.

Der Fribourger Professor hat eine eindrückliche Übersicht geschaffen, eindrücklich in Breite und Tiefe, mit einem Themen­spektrum, das die unter­schiedlichsten Herangehens­weisen erlaubt. Die von Niggli vorgeschlagene Literatur reicht von den Grundlagen­texten zur Shoa bis zu den Studien über die einzelnen Vernichtungs­lager, von Berichten über Täter, Opfer, Augen­zeugen, Kinder und Angehörige, von den Prozessen gegen die Nazi­verbrecher bis zu den Holocaust-Leugnern, vom Antisemitismus in der europäischen Kultur und Geschichte bis zum inter­nationalen Strafrecht, von der Geschichte Polens bis zur Theodizee: Letztere setzt sich mit der Recht­fertigung Gottes vor dem Hinter­grund des Bösen in der Welt auseinander.

Wie ist der Glaube an eine göttliche Allmacht, Güte und Weisheit mit der Shoa in Einklang zu bringen?

Unvergesslich, wie wir auch darüber in Polen stundenlang und erbittert diskutiert haben. Und zu keiner Einigung gekommen sind. Wie sich im Gegenteil das Gefühl, sich auf wackligem Grund zu bewegen, verstärkt hat. Mit jedem Ort des Grauens, den wir in diesen Tagen aufgesucht haben.