Eine Bilderchronik der «Spanienkinder», 1947 vom Schweizer Fotografen Ernst Koehli in einem Kinderheim in Pringy aufgenommen. Nachlass Ernst Koehli/Schweizerisches Sozialarchiv

Jenseits der Vorführung

Sie kamen zu Paten­familien, in Erholungs­heime: Während des Spanischen Bürgerkriegs und später im Zweiten Weltkrieg erhielten Waisen­kinder Hilfe aus der Schweiz. Bald dienten sie den Behörden zur Propaganda für die Neutralität. Ein neues Buch holt die Lichtbilder aus der Dunkelheit der Geschichte.

Von Melinda Nadj Abonji, 19.10.2019

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Die sogenannten «Spanienkinder» – ein wenig beleuchtetes Thema der jüngeren Schweizer Geschichte. Spanische Waisen­kinder, die während des Spanischen Bürger­kriegs zwischen den Franco-Nationalisten und den gewählten Republikanern oder im bald darauf folgenden Zweiten Weltkrieg ihre Eltern verloren hatten und unter anderem im französischen Pringy unterkamen – in einem Kinderheim unter der Leitung des Schweizerischen Arbeiter­hilfswerks (SAH), wie die 1932 gegründete Arbeiter­kinderhilfe ab 1936 hiess.

Das Arbeiter­hilfswerk engagierte sich nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 stark in der Unter­stützung spanischer Kinder und gegen den Franco-Faschismus. Die offizielle Schweiz besann sich dagegen erst ab 1941 während des Zweiten Weltkriegs auf die Kinderhilfe. «Als es unumgänglich wurde, die immer mehr in Verruf geratene Politik der Neutralität unter Beweis zu stellen», wie die Schrift­stellerin Melinda Nadj Abonji schreibt.

Melinda Nadj Abonji hat unter anderem dazu im Schweizerischen Sozial­archiv geforscht. Und für das neue Buch «Chronist der sozialen Schweiz» Beiträge zu ausgewählten Fotografien von Ernst Koehli verfasst. Der Zürcher Fotograf, ein Chronist der Schweizer Arbeiter­bewegung, hat die «Spanienkinder» 1947 in Pringy porträtiert. Das Buch «Chronist der sozialen Schweiz» ordnet diese und andere Bilder von Koehli jetzt historisch ein und legt ihre wechselvolle Geschichte offen – zwischen Hilfe, Unter­lassung und Ausnutzung. Der folgende Beitrag von Melinda Nadj Abonji stammt aus diesem Buch.

Gäbe es eine in sich versunkene und genau deshalb konzentrierte Art des Schauens, die es ermöglichte, mich mit dem Blick der Kinder zu verbinden, derart, dass ich Aufschluss darüber erhielte, wo die Füsse dieser Kinder auf der europäischen Landkarte bereits Spuren hinterlassen haben; mit einem feinen Stift würde ich ihren bisherigen Lebensweg nachzeichnen wollen, die Flucht aus Spanien (mit oder ohne Eltern, mit oder ohne Geschwister); ihre jähe Vertreibung aus der Zeit, die sich Kindheit nennt – bis hin zu jenem Sommer 1947, in dem die Kinder aufgeboten sind, sich im französischen Pringy, in der Haute-Savoie, einem Fotografen aus der Schweiz vorzuführen, für einen guten Zweck – versteht sich.

Aber auch wenn ich die zahlreichen, im Sozialarchiv wartenden, schriftlichen Quellen lückenlos aufarbeiten würde und zu den Licht­bildern fügte, bliebe die Welt der Kinder im Dunkeln, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie selbst kaum je zur Sprache kommen: Sie werden beurteilt, gerügt, umsorgt, verschickt – in die Schweiz zu Paten­familien oder in Erholungs­heime. Selbst in den vielen Briefen der Heimleiterin von Pringy an die Sekretärin des Schweizerischen Arbeiter­hilfswerks (SAH) bleibt die Sicht der Kinder immer eine vermittelte.

So stelle ich mir die Frage, ob etwas, eine Kleinigkeit, in diesen schönen, nahezu perfekt arrangierten Bildern – die der Logik einer Auftrags­arbeit folgen – aufblitzt, das von den Kindern erzählt, sie einen Augenblick lang erzählen lässt und nicht über sie verfügt, ob irgendetwas aufscheint, jenseits der «Vorführung», die die Kinder in diesem Moment des Abgelichtet-Werdens zu leisten haben.

Der kleine Junge, auf dem Holzboden sitzend, dessen Ohrmuscheln verhindern, dass ihm die monströse Krone weiter runterrutscht, womöglich über den ganzen Kopf, der kleine Junge, umwickelt von einem dicken Stück Stoff, das an die römische Toga erinnert, ist also verkleidet worden, zum König! – und manchmal braucht es nur eine hinters Ohr gesteckte Feder, um ein Indianer zu werden, eine rote Nase, schon ist man ein Clown, zu Spässen aufgelegt! Aber der schüchterne, fragende Blick des Jungen zur Seite und sein Händchen, das sich gar nicht mehr zu erinnern scheint, was es da hält – ein Fernrohr? ein zusammengerolltes Schriftstück? Oder ein Sprachrohr, um der Nachwelt irgendeine Botschaft zuzurufen? –, verraten, dass die Verwandlung, elementar für jedes Theater, hier nicht geglückt ist, und der traurige Charme des kleinen Regenten weist darauf hin, dass er vergessen oder gar nie verstanden hat, was hier gespielt wird. Er ist, trotz aller Finger, die sich zu ihm strecken, ihn als Mittelpunkt ausweisen, kein König, und sein Königreich ist, wenn es denn je eines gegeben hat, entschwunden oder vielmehr zerstört.

Der schüchterne, fragende Blick des Jungen: Theateraufführung (1947). Nachlass Ernst Koehli/Schweizerisches Sozialarchiv
An der Wand die versehrten Karten Europas: Mädchen beim Morgenappell (1947). Nachlass Ernst Koehli/Schweizerisches Sozialarchiv

Die charmante Vereinnahmung, die dieses Lichtbild ausstrahlt, verblasst immer mehr, und der kleine Junge verkörpert, jenseits des Theaters, «nur» noch sich selbst; auf irgend­einem Holzboden sitzt er also da, allein gelassen mit seinen Gefühlen, Gedanken, und ich erinnere mich an eine von Federico García Lorcas Liedstrophen: Este galapaguito / no tiene mare. Die kleine Schildkröte / ohne Meer. Die wasserfleckige Wand, die wohl unbeabsichtigte Kulisse des Theaters, rückt in den Vorder­grund, erzählt vom Verfall eines ehemals herrschaftlichen Hauses aus dem 19. Jahrhundert, das nun als «Kinder­kolonie» genutzt wird und dessen Unterhalt eine tägliche, unaufhörliche Sorge bedeutet; die Schlafräume und Matratzen müssen desinfiziert werden, da verschiedene Kinder es «auf der Lunge haben»; die «Masse Staub» des alten Hauses soll durch feuchtes Aufziehen, nicht durch Wischen bekämpft werden; der Kamin ist defekt und durch ihn läuft Wasser ins Haus …

Eine schadhafte Wand, die sich mit der versehrten Landkarte von Europa verbindet, vor der ältere und jüngere Mädchen in ihren, so scheint es jedenfalls, besten Kleidern und Kleidchen aufgereiht sitzen, um aufmerksam einer Lektion zu lauschen, während sich in ihrem Hinter­grund die besagte Landkarte mit ihren Grenzen, Länder- und Städtenamen irgendwann, in naher Zukunft, weigern wird, jene Rolle zu spielen, die man ihr zugedacht hat, sich zu einem belanglosen Stück Papier zusammen­rollen und zu Boden fallen wird.

Lernen wir die richtigen Lektionen?

Doch bevor auf der Wand ein helleres Gebiet, frischere Farbe aus längst vergangenen Zeiten zum Vorschein kommt, gilt es, eine schier unerträgliche Spannung auszuhalten, nämlich jene zwischen der schematischen Darstellung des «Überblicks», der gegenwärtigen oder bereits vergangenen? Machtverhältnisse Europas – und den Kindern, die alle aus ihren je eigenen Welten heraus­gerissen worden sind; das kleine Mädchen mit seinen Fingern, welches sich behutsam der Anwesenheit ihrer Nachbarin versichert, fragt mich mit weichen, früh-weisen Augen, ob wir im Leben tatsächlich die richtigen Lektionen lernen, ob es sich denn lohnt, aufmerksam zu sein, dahin zu schauen, wo alle anderen hinschauen, zur Lehrperson, die, auch wenn sie klug und behutsam und geduldig versuchte, von den Gründen zu erzählen, warum Europa innerhalb weniger Jahre zum Massengrab geworden ist, diesem Kind mit seinen in der Luft hängenden Beinchen nicht plausibel erklären könnte, warum … warum sein Zuhause zerstört worden ist, für immer – und die Tischbeine ragen so nackt und gebieterisch in die Höhe, als müsste «man» jederzeit wieder mit einem Aufbruch rechnen.

Im Hintergrund das Plakat mit «Luzern, das Juwel der Heimat»: In der Schule (1947). Nachlass Ernst Koehli/Schweizerisches Sozialarchiv

«Vendredi 11 Juillet 1947», steht rechts oben auf der Schultafel – und ich erschrecke, über diese unvermittelte Genauigkeit; nichts anderes als die nüchterne Vehemenz der Datierung könnte eindringlicher bezeugen, dass im Leben der «Spanienkinder» unzählige Momente endgültig versunken sind.

Und vielleicht blicken die Mädchen und Jungen deshalb so gebannt zur Tafel, weil sie daran zweifeln, dass man die Zeit aufschreiben kann – die Zahlen, sie sind doch viel eher ein winziges Boot, das in einem reissenden Strom um sein Überleben kämpft; oder eine nachvollziehbare Hoffnung, dass man den Wirren der Zeit mit akkuraten Scheiteln, die den Jungen und Mädchen an diesem Julitag gezogen worden sind, begegnen kann, indem man zumindest auf dem Kopf eine klare Ordnung schafft, die Haare auf die eine und auf die andere Seite kämmt; und der Herr Lehrer bietet dem Chaos, den Unwägbarkeiten der Weltgeschichte, auf seine Art die Stirn, nämlich mittels der vertikalen Kreidelinien, die die Zeiten deutlich voneinander trennen: | Vergangenheit | Gegenwart | Zukunft | Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird der Lehrer sich umdrehen, um die noch leere, vierte Kolonne des Verbs «vendre» aufzufüllen, und während er die Kreide in die richtige Position bringt, fällt sein Blick bestimmt auf die berühmte Kapell­brücke, auf das perfekte, ordentlich aufgehängte Plakat mit dem Spruch: «Luzern, das Juwel der Heimat».

Wie geschickt sich die Schweiz inszeniert! Und ich stelle mir vor, dass der Lehrer hinter der Stehtafel verschwindet, auf ihre Rückseite im «Conditionnel» und in Gross­buchstaben eine Frage schreibt: WAS WÄRE, WENN DIE SCHWEIZ IHRE SEELE NICHT VERKAUFT HÄTTE? Er hat das Bedürfnis, von der Bildfläche zu verschwinden, weil ihm plötzlich der Gegensatz zum «Juwel der Heimat» aufgefallen ist, nämlich die gnadenlose Flüchtlings­politik, die die offizielle Schweiz während des Zweiten Weltkriegs verfolgte, ihre rigorose Rückweisungs­politik, die nicht einmal die jüdischen Kinder, egal, aus welchem Land, als politische Flüchtlinge anerkannte.

Der Bundesrat und die zuständigen Behörden entdeckten die Kinderhilfe erst Ende 1941, als es unumgänglich wurde, die immer mehr in Verruf geratene Politik der Neutralität unter Beweis zu stellen; man entdeckte also, dass die Kinderhilfe für die Image­pflege von grossem Nutzen war – und darüber hinaus in wirtschafts­politischen Verhandlungen eingesetzt werden konnte. Jahrelang hatte man das Terrain privaten Organisationen überlassen, vor allem aber den politisch rechtlosen Frauen, die oft erfinderisch und mutig die harte Gangart der offiziellen Politik zu umgehen gewusst hatten, unter anderem ständig damit befasst gewesen waren, Geld zu sammeln; «um die Gebe­freudigkeit neu anzuregen», sei das «Bildmaterial» sehr wichtig, so formulierte es beispiels­weise Regina Kägi-Fuchsmann, die Geschäfts­führerin des SAH.

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«Jungen laden Holz in Leiterwagen», 1947. Nachlass Ernst Koehli/Schweizerisches Sozialarchiv

Gäbe es eine in sich versunkene und genau deshalb konzentrierte Art des Schauens, die es ermöglichte, die Augen und Füsse der Kinder erzählen zu lassen – dann würde ich mich mehr als nur wundern, dass sie die beschwerliche Flucht über die Pyrenäen überstanden haben, die seelischen und körperlichen Erschütterungen, die man ihnen in jungen Jahren zugemutet hat; ich müsste die Lichtbilder weglegen, erschüttert darüber, dass eine individuelle und kollektive Verblendung geschehen ist, die auch die Seelen der überlebenden «Spanienkinder» verletzte – lebenslänglich –, dieser «Wahnsinn», vor dem der spanische Cellist Pablo Casals am 17. Oktober 1938 in einer Radiosendung auf Spanisch, Französisch und Englisch klar und eindringlich gewarnt hatte: «Machen Sie sich nicht des Verbrechens schuldig, dem Mord an der Spanischen Republik tatenlos zuzusehen. Wenn Sie es zulassen, dass Hitler in Spanien siegt, werden Sie die nächsten sein, die seinem Wahnsinn zum Opfer fallen werden. Der Krieg wird ganz Europa, wird die ganze Welt erfassen. Kommen Sie unserem Volk zu Hilfe.»

Zum Buch

Christian Koller, Raymond Naef (Hrsg.): «Chronist der sozialen Schweiz. Fotografien von Ernst Koehli 1933–1953.» Hier-und-Jetzt-Verlag, Baden 2019. 270 Seiten, ca. 59 Franken.

Die Buchvernissage findet am 24. Oktober um 19.30 Uhr in der Kanzlei-Turnhalle Zürich statt. Das Buch enthält unter anderen Beiträge von Hannes Lindenmeyer, Koni Loepfe, Christoph Schlatter, Stefan Länzlinger und Bruno Meier. Melinda Nadj Abonji ist in dem Band mit insgesamt vier Beiträgen vertreten. Sie wird an der Buchvernissage lesen.