Ein gebuttertes Ferkel, der Verrat an einem Partner, die Gesetze eines Clubs – und weitere Anmerkungen zu Boris Johnsons Deal, der auch nur eine Episode in dem endlosen Brexit-Drama sein wird, das noch viel länger dauern wird als dieser – zugegeben – übertrieben lange Titel

Endlich: ein Deal! Die EU und die britische Regierung haben sich geeinigt. Nur: auf was?

Von Constantin Seibt, 18.10.2019, Update 13.15 Uhr

1. Deadline

Charles Moore, der stock­konservative Biograf von Margaret Thatcher, arbeitete lange auf der gleichen Redaktion, derjenigen des «Daily Telegraph», wie der heutige konservative Premier­minister Boris Johnson.

Moore erinnerte sich nicht ohne Bewunderung, wie Johnson es schaffte, jeden Text zu spät abzugeben: «Mit der Zeit nannten wir ihn das gebutterte Albino-Ferkel. Sein Geschick, sich aus allem Möglichen herauszuwinden, hatte beinahe etwas Geniales.» Nun hat Johnson sein Können wieder bewiesen.

Wochenlang schrieb die Presse über das immer neue Scheitern der Brexit-Verhandlungen. Gestern, kurz vor Mittag, drei Stunden vor Beginn des EU-Gipfels, twitterte Johnson: «Wir haben einen grossartigen neuen Deal.»

Das liess weder die harten Jungs von der Presse noch die harten Konservativen im Parlament unbeeindruckt.

«Der Mann, der angeblich unfähig ist, Details zu berücksichtigen, der weiter als faul und chaotisch beschrieben wird, ist nun nahe dran, einen komplexen Deal unter Zeitdruck mit Brüssel abzuschliessen», schrieb die «Daily Mail».

Und die Tory-Abgeordnete Andrea Jenkyns twitterte: «Boris’ Deal klingt besser als alles Bisherige. Er beendet die Personen­freizügigkeit, die Vorherrschaft der EU über britische Gesetze, den backstop, er ermöglicht freie Handels­abkommen. Ich möchte zwar noch die Details lesen. Aber: Grossartig, Boris, wie weit du es gebracht hast – und wie du getan hast, was andere für unmöglich hielten!»

2. In die Irische See!

Der Deal, den Johnson schloss, hatte seinen Preis: für den Koalitionspartner.

Seit 2015 regiert Johnsons konservative Partei mit der nordirischen DUP – der dortigen Partei der erzkonservativen Protestanten. Die dezidiert antikatholische Democratic Unionist Party lehnt Homosexualität, Abtreibung und Glücks­spiel als Sünde ab – doch selbst das ist nur Neben­sache zu ihrem wichtigsten Programm­punkt: der Zugehörigkeit Nordirlands zu Grossbritannien.

Die DUP war zusammen mit den Brexit-Hardlinern der Konservativen die Verantwortliche für den Sturz von Johnsons Vorgängerin Theresa May. Diese hatte nach zwei Jahren Verhandlungen mit Brüssel einen Scheidungs­vertrag ausgehandelt: Sie nannte ihn «den bestmöglichen Deal».

Dieser war ein bürokratisches 585-Seiten-Monster. Die Brexit-Hardliner waren tief enttäuscht: 1. Weil sie ihren Wählerinnen bei der Brexit-Abstimmung einen weit vorteil­hafteren Deal versprochen hatten. 2. Wegen der wirtschaftlichen Abspaltung von Nordirland.

Das Problem bei Grossbritanniens Ausstieg war, dass wegen des historischen Friedens­abkommens von 1998 eine harte Personen- oder auch nur Zollgrenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland nicht machbar war. Denn der Vertrag bestand im Wesentlichen darin, dass sich mit dem offenen Grenzverkehr die Protestanten in Grossbritannien fühlen konnten. Und die Katholiken in Irland.

In Mays Deal war vorgesehen, dass Nordirland mit der EU im gemeinsamen Markt blieb. Und ganz Grossbritannien in der EU-Zollunion. Was verhinderte, dass Grossbritannien die EU-Normen verändern konnte. Oder nach Herzenslust Handels­abkommen abschliessen.

Damals trat Johnson als Aussen­minister zurück – aus Protest gegen den «schlechtesten Deal aller Zeiten». Und Theresa May erlitt als erste Premier­ministerin zur gleichen Sache drei demütigende Niederlagen in Folge.

Kaum Premierminister, forderte Johnson eine radikal andere Lösung.

Zwar sagte der Premier­minister nie genau, welche Lösung. Den exaktesten Tipp dazu gab sein Chefberater Dominic Cummings vor einigen Wochen: «Mir ist egal», sagte er, «ob Nordirland in der verdammten Irischen See versinkt.»

Und so ist es auch: Der gestern publizierte 62-Seiten-Kompromiss von Johnson und der EU besteht darin, dass die Zollgrenze zwischen Irland und Grossbritannien errichtet wird – Nordirland wird damit radikal von Grossbritannien getrennt.

In der Tat musste die DUP hart erfahren, dass Nordirland ausgerechnet bei den entschiedensten Patrioten in Grossbritannien am wenigsten Wert hat – in Umfragen erklärten konservative Partei­mitglieder, dass sie den Brexit selbst dann wollten, wenn das die Trennung von Schottland oder Nordirland bedeute.

Johnsons Deal war die grösstmögliche denkbare Katastrophe für die Politiker der DUP, also der grösstmögliche Verrat: Obwohl Johnson enorme Summen für Nordirland bot, beschloss die DUP ein Nein.

Als bibelfeste Protestanten wussten sie: Man verkauft sein Erstgeburts­recht nicht für ein Linsen­gericht. Egal, wie gross es ist.

3. Der Preis des Plans

Verrat hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Im Denken etwa ist er das Ziel jeden ernsthaften Nachdenkens. Auch in der Politik ist er nichts Moralisches – er ist eine Frage des Preises.

Der grosse König Henri IV etwa konvertierte als protestantischer Rebellen­führer zum Katholizismus, um König zu werden. Er tat es mit dem Satz: «Paris ist eine Messe wert

Der französische Diplomat Talleyrand sagte später über seine Loyalität: «Ich stehe für mich bis zu einer Million Livres.»

Das grosse, einzige Versprechen von Johnson als Premier war: «Den Brexit getan haben – bis zum 31. Oktober.» Insofern ist der Deal logisch: Er ist Johnsons bisher realistischste Chance dafür.

Nur: Lohnt sich das Risiko?

Mit etwas Abstand ist die Antwort bestürzend klar. Gesetzt den Fall, Johnson (oder jeder beliebige andere Premier­minister) könnte vier Jahre in der Zeit zurück. Und ohne Druck entscheiden, was besser wäre: in der EU zu bleiben und sich gelegentlich über die dortigen Bürokraten zu ärgern – oder dieser Brexit-Deal.

Schon die bisherigen Kosten sind erschreckend: Das Land ist zerstritten; Regionen, Parteien, Familien sind gespalten; in Schottland, Nordirland, selbst in Wales boomen die Unabhängigkeits­parteien; die Investitionen sind wegen der Unsicherheit zusammen­gebrochen und mit ihnen die Konjunktur; selbst Banken­profis überlegen sich, ob die Labour-Sozialisten nicht der kleinere Schaden wären. Kurz: Der Brexit hat drei Jahre Lähmung gebracht.

Und selbst das wäre nur die Vorgeschichte zu den Kosten für den Fall, dass Johnsons Deal angenommen wird.

Erstens für die gesamte Wirtschaft. Der «Economist» schätzt etwa, dass Johnsons Brexit-Plan in 10 Jahren rund 13 Prozent des Handels­volumens vernichten und die britische Bevölkerung um 6 Prozent ärmer machen würde – jeder Haushalt verlöre pro Jahr grob berechnet 2000 Pfund, umgerechnet gut 2500 Franken.

Der Grund dafür ist ausgerechnet der wichtigste Vorteil in Johnsons Deal: die Freiheit, nicht mehr in der europäischen Zollunion zu sein. Was zwar auf dem Papier Handels­freiheit bedeutet. In der Praxis jedoch einen ruinösen Papier­krieg. Denn Zölle sind im grenz­überschreitenden Handel weit weniger bedeutend als Normen. Und deren Verschiedenheit heisst, dass brutale bürokratische Hindernisse beim Handel mit der EU entstünden. Es wäre der Tod für alle auf Effizienz getrimmten transnationalen Lieferketten – und für alle Klein­unternehmen, die sich keine Anwälte leisten können.

Kein Wunder, beurteilt selbst die britische Wirtschaft Johnsons Deal als «gleich oder schlechter als Mays Deal»: deshalb, weil die knallharten Grenzen um die britische Insel Exporteure benachteiligen.

Dazu kommt, dass die Handelsfreiheit von Johnsons Brexit für die meisten Briten in der Praxis eher Knechtschaft bedeuten würde: Ausserhalb von gemeinsamem Markt und Zollunion kann Grossbritannien nur auf eine sinnvolle Strategie setzen: die Umwelt-, Gesundheits- und Arbeits­gesetze der EU zu schleifen – und die Löhne zu drücken.

Kurz: Johnsons Deal schickt Grossbritannien fast unvermeidlich auf den Kurs einer Steueroase. Und eines Billig­anbieters mit Drittwelt­standards.

4. Die Gesetze eines Clubs

Was im wilden Brexit-Drama fast nie beschrieben wird, ist die geradezu sensationelle Sensations­losigkeit der EU.

Diese galt als zerstritten – aber hat nun vier Jahre lang bruchlos einen klaren Kurs gehalten: Sie hat freundlich, aber unnachgiebig auf ihren Prinzipien beharrt – der Integrität ihres Marktes, ihrer Normen, ihrer Grenzen.

Alle Versuche der Briten, die EU zu spalten, waren Illusion. Weder die antieuropäischen Regierungen in Polen oder Ungarn noch die vom Brexit wirtschaftlich am härtesten betroffenen Handels­partner wie Deutschland oder Irland schlugen auch nur ein einziges Mal quer.

In der Abstimmung sagten die Brexit-Befürworter, dass die Verhandlungen mit der EU der «einfachste Deal der Geschichte» werden würden. Weil die EU einer so bedeutenden Handels­nation wie Grossbritannien bedeutende Konzessionen machen würde. Doch dieses Versprechen erfüllte sich nie.

Der Grund dafür ist einfach: Die EU ist ein Club – und kein Club kann es sich leisten, Nicht­mitglieder ohne Pflichten gleich zu behandeln wie Mitglieder mit Pflichten.

Wie nüchtern das auch die EU-Bevölkerung sah, zeigt eine Studie der Politologin Stefanie Walter: Von Anfang bis Ende der Brexit-Verhandlungen blieb das Verhältnis von Befürwortern einer weichen Linie gegenüber Grossbritannien (rund 12 Prozent) zu Befürwortern einer harten Verhandlungs­position (rund 40 Prozent) fast ohne Schwankung konstant.

Und so verhandelte die EU: hart, einig, ohne eine andere Emotion als das gelegentliche Staunen über die leidenschaftliche Selbst­sabotage der früher so kühlen Briten.

5. Träumen ohne Wachheit

Die Kampagne für den Brexit gewann die Abstimmung, weil sie nicht Wirtschafts­zahlen verkaufte, sondern Ideen:

  • die Idee, dass es besser wäre, wenn die britischen Gesetze ausschliesslich in Britannien gemacht würden;

  • die Idee, dass man privilegierter leben würde, wenn man die eigenen Grenzen beliebig schliessen könnte;

  • die Idee, dass Grossbritannien nicht zu Europa gehöre, sondern zur Welt – und als freie Handels­nation wie früher im Empire neuen Schwung in Geschäfte bringen würde;

  • die Idee, dem blasierten Establishment einmal zu zeigen, wer das Sagen hat: das britische Volk;

  • die Idee, dass die EU von Deutschland und Frankreich regiert würde – und man im Zweiten Weltkrieg auch ohne Frösche und Krauts mit Stolz überlebt hatte.

Nur war der Brexit viel: eine politische Idee, eine politische Geste, eine politische Sehnsucht – aber nicht eine politische Praxis. Die Leute stimmten für einen weitreichenden Vertrag ohne Kleingedrucktes.

Nun ist das Kleingedruckte nachgeliefert worden: 585 quälende Seiten May mit noch einmal 62 zweifelhaften Seiten Johnson.

Es ist das, was passiert, wenn man einen Traum ohne Preisschild ordert. Wenn man die Welt verändert, ohne ihr in die Augen zu sehen. Wenn man einsame Grösse zeigen will, wo man in tausend Abhängigkeiten verstrickt ist: Dann scheitert man.

Und das so elend wie möglich: nicht krachend, sondern in einer Spirale aus Langeweile, Wut, Kleinlichkeit – aus der grossen Befreiung werden über 600 Seiten Bürokratie.

Nur spielt das, was irgendwer irgendwann wollte, längst keine Rolle mehr. Auch wenn Johnsons Deal fast derselbe ist wie der seiner unglücklichen Vorgängerin Theresa May – die Brexit-Hardliner in der konservativen Partei, die gegen May wegen ihres Plans ein Misstrauens­votum anstrengten, loben die Tatsache, dass Johnson den gleichen Plan verhandeln konnte, als politisches Wunder.

Das, obwohl es nicht besonders schwierig ist, einen Vertrag abzuschliessen, wenn man in mehr oder weniger allen Punkten nachgibt. (Der EU-Verhandlungs­führer Michel Barnier sagte schon vor zwei Wochen: Alles laufe auf eine Handels­grenze in der Irischen See hinaus. Nur dürfe man das den Briten noch nicht sagen.)

Trotzdem lobte der Führer der Brexit-Hardliner, Jacob Rees-Mogg, Johnsons Verhandlungs­ergebnis als «fantastisch spannend … er schaffte, was seine Vorgängerin in drei Jahren nicht hinbekam ... ein grosser Tag für die britische Politik!»

Kurz: Bei der wichtigsten Entscheidung der britischen Politik scheint es um das Gleiche zu gehen wie bei vielen Sitzungen in Büros: Wichtig ist nicht das Papier selbst, sondern dass darunter «Boris» und nicht «Theresa» steht.

Kommt der Deal durchs Parlament? Dadurch, dass die DUP «Never!» sagt, schwinden die Chancen. Dadurch, dass die Brexit-Hardliner «Fantastic!» sagen, steigen sie. David Cameron, der Premier­minister vor Theresa May, gibt Johnson gute Chancen: «Das Entscheidende an einem gebutterten Ferkel ist, dass es den Leuten auch dort noch durch Hände schlüpft, wo jeder einfache Sterbliche scheitern würde.»

Doch kommt es nicht einmal darauf an. Selbst wenn Johnsons Deal im Parlament durchkommt: Er ist nur der Anfang von Jahre dauernden, harten Verhandlungen mit der EU über neue Handels- und Reiseabkommen.

Und mit anderen Nationen, die genau wissen, wie verzweifelt die Briten es brauchen, über neue Freihandelsabkommen.

Die echten Tragödien bestehen nicht aus dem Knall, sondern aus dem Winseln. Schlimmer als das Ende von etwas ist die Endlosigkeit von etwas: die Wiederholung des immer gleichen Unfugs.

Der EU-Ratspräsident Donald Tusk twitterte Anfang des Jahres: «Ich frage mich, wie wohl der spezielle Ort der Hölle für alle die aussieht, die für den Brexit geworben haben, ohne auch nur den Schimmer eines Plans zu haben, wie man ihn ohne Schaden umsetzt.»

Die Antwort drauf ist längst klar: So wie Grossbritannien heute.