Schockierend und sensibel, gewalttätig und empathisch. «Euphoria» erzählt Geschichten von Teenagern: Jules (Hunter Schafer) und Rue (Zendaya). Eddy Chen/HBO

Generation Porno

Drogen, Sex, Einsamkeit: Jedes Jahrzehnt hat eine TV-Serie, die das Leben von Jugendlichen exemplarisch ergründet. Wie gut gelingt das der aktuellen HBO-Produktion «Euphoria»?

Von Karin Cerny, 11.10.2019

Selten hat eine TV-Serie mehr Wellen geschlagen. Bereits die zweite Folge der aktuellen HBO-Teenie-Show «Euphoria» trieb besorgte Eltern­vereine in Amerika auf die Barrikaden. In einer Dusch­szene sind nackte Penisse zu sehen. Nate (gespielt von Jacob Elordi), Footballstar und Beau der Highschool, der seine schwulen Tendenzen mit toxischer Männlichkeit zu überdecken versucht, würde die Genitalien seiner Mitspieler am liebsten ausblenden. Was ihm natürlich nicht gelingt. Ebenso wenig wie den Zuschauern, die in besagter Slow-Motion-Szene 30 Stück zählten. Entwarnung, antwortete die freizügige Show provokant: Ursprünglich hätten es sogar 80 sein sollen.

Ist «Euphoria» die schockierendste TV-Serie aller Zeiten? So fragte der britische «Guardian» kürzlich nach der Ausstrahlung der ersten Staffel. Die Antwort ist komplex: «Euphoria» ist explizit, wenn es um Drogen­sucht, Pornografie, Body­shaming, Vergewaltigung, Cyber­mobbing, Nacktfotos auf dem Handy oder Selbst­verletzung geht. Man sieht vieles, was Eltern schlaflose Nächte bereiten kann. Zugleich ist die Serie überraschend sensibel, wenn es um Unsicherheit und Melancholie geht, wie sie ein Teenager­leben nun einmal mit sich bringt.

Acht Episoden werden aus dem Blick­winkel der 17-jährigen Rue (umwerfend gespielt von Ex-Disney-Star Zendaya) erzählt, die nach einer Überdosis aus der Entzugs­klinik wieder nach Hause kommt und sowohl ihre Mutter als auch die Selbsthilfe­gruppe anlügt: Sie denkt nicht daran, clean zu werden. Sie wirft alles ein, was ihr hilft, sich fallen zu lassen und zumindest kurz abzuschalten. Mittels Off-Stimme erklärt Rue zu Beginn, sie sei Teil einer Generation, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zur Welt kam. Eine Jugend, die mit der Phrase war on terror aufwuchs.

Es hat Platz für Melancholie: Cassie (Sydney Sweeney) und Chris (Algee Smith). Eddy Chen/HBO

Es ist ausserdem eine Generation, die Sex über die Internet­plattform Pornhub kennt. «Euphoria» zeigt, wie verwirrend diese Online-Sexual­erziehung sein kann, wenn Analverkehr bei Hetero-Teens vom ersten Date an zum Standard gehört. Wie gewalt­tätig die Jungs ihre Rolle anlegen, wenn sie Mädchen würgen, weil sie es aus Videos nicht anders kennen.

Gleichzeitig vermeidet die optisch sehr aufwendige Serie den moralischen Zeige­finger. Wenn Rue Drogen zieht, läuft coole Musik. So stylish alles inszeniert ist, sieht man trotzdem jederzeit Rues Verwundbarkeit und ihre psychischen Probleme: Depressionen und Panikattacken.

Geschrieben wurde «Euphoria» vom amerikanischen Regisseur, Autor und Schauspieler Sam Levinson, der kanadische Rapper Drake produzierte die Show, deren Soundtrack von Lizzo bis Billie Eilish Songs umfasst, die gerade in allen Kinder­zimmern der Welt laufen.

Weiblich, männlich und alles dazwischen

Im Grunde erzählt die Highschool-Serie aber auch eine alte Geschichte: Rue und Jules freunden sich an und gehen durch dick und dünn. Jules (Hunter Schafer) ist neu an der Schule. Flamboyant gekleidet und selbstbewusst: Das Trans-Kid datet via Grindr meist verheiratete Hetero-Daddys, die ihr Schwulsein heimlich und nicht immer freundlich ausleben. Wie vielschichtig Schafer – Model, LGBT-Rights-Aktivistin und selbst Transgender – ihre Performance anlegt, zeigt, dass gerade in Sachen Gender­rollen Serien im Moment die Nase vorn haben. Geschlecht sei «ein Spektrum», sagen sogar die Heteros in «Euphoria». Diese Diskurs­ebene läuft ganz selbstverständlich mit, Aufklärungs­arbeit geschieht en passant – im Unterschied zu vielen klassischen Spiel­filmen oder Büchern, die noch immer problematisieren, was für viele Jugendliche längst selbstverständlich ist.

Stichwort: Genderfluid. Jules erkennt, dass sie sowohl Männer als auch Frauen attraktiv findet, sich nicht festlegen möchte. Auch Kat, ein übergewichtiges Goth-Girl, ist nicht der typische unglückliche, dicke Teenager, wie man ihn zu Genüge aus TV-Serien kennt: Gespielt vom Plus-Size-Model Barbie Ferreira ist sie selbstbewusst, sexy und mit ihren gewagten Outfits eine Stilikone, die sich in ihrem Körper wohlfühlt. Auch in Sachen Body-Positivity ist die Serie total aktuell.

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Flamboyant gekleidet und selbstbewusst: Jules (Hunter Schafer). Eddy Chen/HBO

«Euphoria», ab 16. Oktober auf Sky zu sehen, macht vieles richtig, was bei der Netflix-Show «13 Reasons Why» (auf Deutsch: «Tote Mädchen lügen nicht», 2017) falsch gelaufen ist. Recht voyeuristisch wurde da der Selbst­mord einer 17-jährigen Schülerin aufgerollt, die Kassetten hinter­lassen hatte, um ihren Tod zu erklären. Die Serie arbeitete brav alle angesagten Schlag­wörter ab – von Mobbing über #MeToo bis zum Abstempeln von Mädchen als Schlampen. Aber die Dialoge blieben hölzern, vieles wirkte wie ein schlechtes Gerichts­drama. Ganz anders «Euphoria». Da hat der grandiose Cast an den Dialogen mitgeschrieben – dadurch klingen sie lebensnaher.

Kompromisse mit dem Kommerz

Serien boomen seit langem, die Online­anbieter Netflix und Amazon sind auch ins Geschäft eingestiegen. Aber je mehr produziert wird, desto stärker hat man den Eindruck, es würden zu viele Kompromisse gemacht. Lieblose Massen­produkte entstehen, die nicht sonderlich gut durchdacht sind.

Ein Grossteil der neueren Serien lebt ohnehin nicht länger als drei Staffeln, egal, ob sie Erfolg haben oder nicht. Der Grund dafür ist finanzieller Natur: Ab der dritten Staffel ist mit keinen neuen Konsumenten mehr zu rechnen, der Gewinn sinkt. Die Entscheidungen von Netflix sind daten­gesteuert. Der Algorithmus bestimmt, was gut für uns ist. Es gibt also immer mehr Produkte, die immer schneller verschwinden. Langzeit­begleiter wie die Serien­klassiker «Mad Men» oder «Breaking Bad» wären heutzutage gar nicht mehr möglich.

«Euphoria» hat jedenfalls das Potenzial für mehr als bloss drei Staffeln. Die Serie mutet den Zuschauern einiges zu. Sie ist extrem düster – und aufwendiger produziert als so mancher Kinofilm. Ausstattung und Kostüme setzen neue Massstäbe. Die erste Staffel endet völlig überraschend mit einer abgründigen Tanzszene. Die zweite Staffel ist bereits in Planung.

Dem Zeitgeist auf der Spur

Jedes Jahrzehnt hat eine prägende TV-Serie, die den Zeitgeist auf den Punkt bringt. 2007 ging die britische Show «Skins» (auf Deutsch: «Hautnah») auf Sendung, die in Bristol spielte. In sieben Staffeln wurde der Alltag von Teenagern zwischen 16 und 19 erzählt, und zwar so, dass Essstörungen, Drogen und exzessive Abstürze glaubwürdig dargestellt waren. Skins party wurde in England sogar zum feststehenden Begriff für eine ausschweifende Nacht voller Alkohol- und Drogenkonsum.

Die norwegische TV-Show «Skam» (2015 bis 2017) verwendete erstmals massiv Handys, man sah ständig, wie Jugendliche auf Facebook, Youtube und Instagram kommunizieren – und konnte bisweilen sogar auf Social Media mit ihnen interagieren. «Skam» entwickelte die Geschichten direkt mit den Jugendlichen, befragte Teenager auf der Strasse nach ihrem Alltag. Dieser Prozess legte die Latte hoch: Authentizität ist gefragt.

Bei «Euphoria» haben Kritiker freilich zu Recht angemerkt, dass die porträtierte Generation Z, von 1997 bis 2012 zur Welt gekommen, rein statistisch betrachtet weniger harte Drogen nimmt, weniger Sex hat und sich durchaus wieder mehr politisiert. Insofern können Eltern aufatmen: Wahrscheinlich sind die eigenen Kinder um einiges biederer als die Show-Heldinnen. Serien-Erfinder Levinson, 34, erzählte in Interviews, dass er viel von seiner eigenen Drogen­erfahrung verarbeitet habe.

Einen weiteren Problem­punkt stellte die Haupt­darstellerin Zendaya zur Diskussion: Die Serie ist zumindest in den USA für ein Publikum ab 18 gedacht, sie ist also eher über Teenager als für Teenager gemacht. Für Online­profis wie die Jugendlichen der Generation Z wird es aber sicher kein Problem sein, «Euphoria» heimlich zu streamen. Das Netz ist bereits voll mit Videos, die zeigen, wie man sich schminkt, um den Figuren zu ähneln, oder wo man ihre coolen Outfits bekommt.

In vieler Hinsicht ist die Serie nämlich durchaus jugend­tauglich: «Euphoria» zeigt, dass strauchelnde Teenager zu Freundschaft, Mitgefühl und Liebe fähig sind. The kids are alright.

Zur Autorin

Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kultur­politik im Wochen­magazin «Profil» sowie Reise- und Mode­geschichten für «Rondo», die Beilage der Tages­zeitung «Der Standard». Für die Republik schrieb sie zuletzt über ein Wiener Bestattungs­museum mit Probeliegen im Sarg.