Der Siegeszug begann in den Ghettos der Grossstädte: Parkour ist viel mehr als eine Fortbewegungsart. Circe Hamilton/Camera Press/Keystone

Lasst uns in den Betonwüsten!

Parkour entsprang einst den Pariser Banlieues und wird gerade von Olympia gekapert. Was passiert mit einer Subkultur, wenn sie im Mainstream landet?

Von Timo Posselt, 09.10.2019

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Marlon und Sami waren Feinde. Sie gingen sich in der Schule aus dem Weg. Heute ist alles anders: «Wir tryen ihn jetzt einmal durch», sagt Marlon und sprintet los. Sami filmt mit der Go-Pro zwischen den Zähnen. Sie stossen sich mit den Händen auf dem ersten Quader ab, zwingen die Beine über den Block, setzen wenige Schritte dazwischen, und vom nächsten Mäuerchen aus springt Marlon ab und katapultiert sich in einen Salto. Er steht ihn, Sami landet daneben. Der Run ist geglückt.

Seit einem Jahr kommen die beiden hierher. In der Basler Agglo haben sie auf dem Pausenplatz ihre kleine Grossstadt gefunden und trainieren. Sami, 14, trägt die Haare kurz und redet wie ein Wasserfall. Marlon, ein Jahr älter, ist eher still. Die Fransen verdecken seine Stirn. Fragt man die beiden nach anderen Hobbys, behaupten sie stolz, sie hätten keine. Marlon spielte früher Basketball, Sami war im Fussballclub. Konkurrenz und strenge Trainer verdarben ihnen den Spass daran. Parkour sticht für die beiden selbst Videospiele aus.

Untergrund, Mainstream

Längst hat es Parkour aus den Ghettos von Paris und London auf die Pausen­plätze geschafft. Ein französischer Marine­offizier hatte Anfang des letzten Jahrhunderts die «méthode naturelle» entwickelt, eine Trainings­methode für effiziente Fortbewegung über natürliche Hindernisse. Diese fand in den 1980ern unter dem Namen Parkour ihren Weg in die Pariser Vorstädte und von da aus in die ganze Welt. Filme wie «Yamakasi» und «Ghettogangz» waren Teil der urbanen Untergrund­kultur, eng verknüpft mit Hip-Hop, der Sprayer­szene und Klein­kriminalität.

Wie jede urbane Untergrund­kultur war auch diese bedroht durch Kommerz und Mainstream. Heute ist Parkour eine Sportart, die eigentlich gar keine Sportart sein will. Als der Internationale Turnverband im letzten Herbst Parkour als Unterdisziplin der Gymnastik akzeptierte, waren die Reaktionen der Community heftig.

Es war eine unfreundliche Übernahme. Der Grossverband entschied ohne Einbezug der Parkour-Community. Man wolle eine neue Disziplin entwickeln, hiess es. Der Verband nimmt es sich heraus, die Zukunft von Parkour mitzugestalten, ohne die Geschichte des Sports anzuerkennen. Für die Szene ist das etwa so absurd, wie wenn der «Musikantenstadl» sich plötzlich anschickte, Hip-Hop-Festivals zu veranstalten.

Parkour-Athleten aus der ganzen Welt pumpten Videos mit den Hashtags #WeAreNotGymnastics und #FuckFIG in die sozialen Medien. Parkour-Clubs und nationale Verbände schrieben offene Briefe. Ein globaler Parkour-Verband wurde ins Leben gerufen, Klage gegen den Entscheid des Turn­verbandes eingereicht. Dieser will sein verstaubtes Image mit der hippen, urbanen und auf Social Media sichtbaren Sportart auffrischen. Eine Strategie, die das Internationale Olympische Komitee (IOC) bereits seit Jahren verfolgt. So wurden kürzlich BMX Freestyle und Skateboarden für Tokio 2020 ins Programm genommen.

Schnell und leichtfüssig alle Hindernisse überwinden. Circe Hamilton/Camera Press/Keystone

Der Turnverband und das IOC folgen dabei der ökonomischen Logik – und das widerstrebt der aus dem Untergrund entstandenen Parkour-Community zutiefst. Obwohl sie ihre kommerzielle Unschuld längst verloren hat: 2002 sprang Parkour-Pionier David Belle in einer Fernsehwerbung für die BBC über die Dächer Londons. Es folgten Deals mit Coca-Cola, Nike, Toyota. 2006 prügelte sich sein Kollege Sébastien Foucan im Bond-Film «Casino Royale» mit Daniel Craig auf einem Kran. Damit war Parkour im Mainstream angekommen. Das hatte auch Red Bull gemerkt und veranstaltete von 2011 bis 2017 eigene Freerunning-Turniere unter dem Titel «Art of Motion».

«Hinter jedem Sprung 300 Fails»

Dass Parkour längstens kein Untergrund­dasein mehr fristet, zeigt sich auch an den Clubs, die überall in der Schweiz entstehen. Allein in Basel gibt es vier davon. Beim Streem-Club trainieren Marlon und Sami, hier haben sie sich angefreundet. In einer Basler Turnhalle treffen sich zwei Dutzend Jugendliche dreimal die Woche – alles Jungs ausser einem Mädchen.

Aus der Boombox plärrt die Soundcloud-Playlist «World of Trapping», es riecht nach Axe-Deo. Die Abendsonne fällt durch die Turnhallen­fenster. Nach dem Einwärmen üben die Jugendlichen «Precis». Das steht für «Precision». Es gilt, nur mit Zehen und Fussballen auf der Kante eines Hindernisses zu landen statt mit der ganzen Fussfläche. Eine solche Landung entlastet nicht nur die Knie, sie ist auch die perfekte Position, einen Run weiterzuführen. So erklärt es Marlon.

Sami kommt dazu und definiert den «Marlon-Preci»: «Sehr weit springen und sich dann das Kinn aufschlagen.» Beide lachen. Marlon zeigt mir die Narbe am Kinn, die er sich vor ein paar Monaten an einer Betonmauer zugezogen hat.

«Schön landen heisst, ihr stickt die Landung», ruft Trainer Colin den Jugendlichen zu.

Sticken bedeutet, den Sprung auf der Hindernis­kante zu landen und stehenzubleiben, ohne umzufallen. Freerunner sprechen eine eigene Sprache voller englisch-deutscher Mischwörter: tryen, flowen, sticken.

Worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen Parkour und Freerunning?

«Parkour ist der effizienteste und schnellste Weg von A nach B.» Dabei würden Traceure, wie sich die Sportler nennen, urbane Hindernisse schnell und leichtfüssig überwinden, erklärt Colin. «Bei Freerunning hingegen ist alles erlaubt.» Statt um Effizienz und Geschwindigkeit gehe es um Kreativität. Deshalb integrierten Freerunner in ihre Bewegungs­abläufe auch «Flips», also Salti. Trotz dieser klaren Abgrenzung verwenden viele Freerunner die beiden Begriffe synonym. Es ist nicht der einzige Widerspruch in der Szene.

Colins Trainerkollege trägt am Handgelenk Gummi­armbänder. Auf einem steht: «Train. Eat. Sleep. Repeat.» Trainieren. Essen. Schlafen. Wiederholen.

Er peitscht die Jugendlichen an: «In den Profivideos auf Youtube seht ihr nur die gelungenen Sprünge. Doch hinter jedem Sprung stehen 300 Fails.» Und Colin ruft ihnen zu: «Seid wie Ninjas. Trainiert safe.»

Trotzdem verknackst sich an diesem Abend ein Junge den Fuss. Er humpelt und hält sich den Knöchel vor Schmerzen. Seinen Enthusiasmus für Freerun wird das nicht erschüttern. Er erzählt, wie er in jeder freien Minute trainieren will, auf dem Schulweg, dem Pausenhof und zu Hause.

Sind solche Sprünge auf Beton nicht gefährlich?

Er: «Das ist halt Freerun.»

«Keine Angst zu sterben»

Für Jenny ist Freerun nicht gefährlich genug. Sie trägt einen Kurz­haarschnitt. Ihre Augen funkeln, wenn sie von ihrer Leidenschaft spricht. 2014 las sie bei «20 Minuten», wie zwei Jugendliche in Basel auf den fast 200 Meter hohen Kran der damaligen Baustelle des Roche-Turms kletterten. Die Fotos von oben veröffentlichten sie auf Instagram. Jenny wollte es ihnen nachtun und ging ins Freerun-Training. Dann stieg sie vor drei Jahren das erste Mal allein auf ein Dach – und von da an immer wieder.

Wir holen uns die hässlich verbauten Innenstädte zurück. Circe Hamilton/Camera Press/Keystone

Heute trainiert Jenny nicht mehr so oft wie früher, stattdessen geht sie roofen, steigt auf abgesperrte Dächer und Türme. Je höher, desto besser.

«Eine dumme Entwicklung», findet sie und macht trotzdem weiter.

Jenny heisst im richtigen Leben nicht Jenny. Ihren Namen möchte die 21-Jährige hier nicht lesen. Denn Roofing ist verboten – und lebensgefährlich. Juristisch betrachtet, begeht Jenny beim Roofing Hausfriedens­bruch. Das Strafmass dafür reicht von einer Geldstrafe bis zu drei Jahren Gefängnis. Erwischt wurde sie noch nie.

In den letzten Jahren sind Dutzende Rooftopper abgestürzt. Der Chinese Wu Yongning übertrug seinen eigenen Unfalltod im Dezember 2017 sogar live via Stream ins Netz. Erst letzten Herbst ist beim Roofing eine 17-Jährige durch das Glasdach des Hauptbahnhofs Zürich mitten in die belebte Bahnhofs­halle gestürzt und gestorben. Eine Tragödie. Auch Jenny war geschockt. Aber das Mädchen habe einen dummen Fehler gemacht. Sie sei auf Glas gestanden. «Das würde ich nie im Leben tun.» Jenny testet die Unterlage immer zuerst mit dem Fuss. Sicher sei man aber nie. Auch nicht bei Eisen und Stahl.

Kürzlich fuhr Jenny mit Freunden nach Frankfurt, um auf Wolken­kratzer zu steigen. Zuerst rekognoszierten sie die Gebäude, machten Fotos und stiegen dann meist nachts hinauf. So planen sie auch ihre Roof-Missions in der Schweiz. Als Nächstes will Jenny sich den Baloise-Turm beim Hauptbahnhof Basel vornehmen. Der Turm ist im Bau und daher leichter zugänglich. Durch den Liftschacht will sie nach oben klettern.

«Hast du keine Angst zu sterben?»

«Nein.»

«Und querschnitt­gelähmt zu werden?»

«Wenn du runterfällst, bist du nicht querschnitt­gelähmt, sondern tot.»

Jenny sagt, sie habe bis anhin wenig über Risiken nachgedacht: «Obwohl ich ein paarmal fast gestorben wäre. Ich glaube, ich habe keinen Respekt vor dem Tod.»

Einmal hängte sie sich an die Dachkante eines Wolken­kratzers und schaffte es nicht mehr, sich hochzuziehen. Hätte ein Freund ihr nicht im letzten Moment geholfen, wäre sie in die Tiefe gestürzt.

Jenny sagt, sie pfeife auf spektakuläre Fotos, wie sie in der Szene üblich sind. Doch in ihrem Instagram-Feed finden sich Dutzende Videos von ihr auf Wolken­kratzern, Kränen und Antennen: Sie balanciert auf handbreiten Balken oder verdrückt einen Dürüm auf einem Kran. Auch das Video vom Dachkanten­vorfall ist online.

«Roofing ist basically mein Ausgang», sagt Jenny. Während andere Jugendliche Drogen und Alkohol konsumieren, um sich zu spüren, bringt sie sich dafür wiederholt in die existenzielle Gefahr eines deathdrops – des tödlichen Falls in die Tiefe.

Klicklogik und Leistungs­gesellschaft

Auch Marlon und Sami kennen Roofing. Auf Youtube und Instagram verfolgen sie Profi-Teams wie die englischen Storror oder das internationale Team Farang. Diese sind für ihre spektakulären Runs über Dächer auf der ganzen Welt bekannt. Selbst Sami beginnt zu schwitzen, wenn er den Profis zuschaut.

Was hat Roofing noch mit dem harmlosen Freerunning zu tun, das Marlon und Sami auf dem Schulhof in Aesch betreiben?

Streem-Trainer Colin: «Illegale Aktionen haben bei uns keinen Platz.»

Sowieso brauche man keine speziellen Skills, um auf Kräne zu klettern. Genauso wenig, wie wenn man sich dort in die Tiefe hängen lasse. Das habe mit Klettern oder dem ungesicherten Bouldern mehr zu tun als mit Parkour oder Freerunning.

Freerun wurde durch Social Media populär und ist der Klicklogik ausgeliefert. Die internationale Community enerviert sich immer wieder über Untrainierte, denen es nur um das spektakuläre Selfie auf dem Dach geht. Freerun passt damit bestens in unsere virtuelle Gegenwart. Denn es koppelt Selbst­optimierung, Individualismus und kollektive Anerkennung.

Die Jugendlichen trainieren genau jene Skills, welche die Leistungs­gesellschaft von ihnen erwartet: Lösungs­orientiert, kreativ und flexibel bewältigen sie Hindernisse. Im Gespräch erzählen ältere Freerunner und Traceusen, wie sie durch die Überwindung ihrer Ängste im Training diese auch in der Arbeitswelt abschütteln konnten. Dennoch steckt in diesem Sport widerständiges Potenzial.

Auf der ganzen Welt werden Innenstädte zu Hochpreis­inseln umgebaut. «Hostile Architecture» verleiht ihnen ein hässliches Gesicht: Parkbänke werden mit eisernen Armstützen unterteilt und Hauseingänge mit Eisen­pfählen versehen, um Obdachlose und andere Marginalisierte aus den Zentren zu vertreiben. Mit Freerunning eignen sich Jugendliche diese zugebauten Landschaften wieder an. Sie machen jede Betonwüste zum Spielplatz – ganz ohne aufwendige Infrastruktur.

Bei Olympia 2024 in Paris werden voraussichtlich die ersten Parkour-Wettkämpfe steigen. In neuer, kompetitiver Form wandert der Sport so von der Banlieue in die Stadien des schicken Zentrums. Die Entwicklung ist ein Lehrstück darüber, was mit einer Subkultur passiert, wenn sie der Mainstream schluckt: Sie wird polarisiert. Für Marlon wäre Olympia eine Chance, für Jenny kein Grund, nicht mehr auf Dächer zu klettern. Am Ende sind es vielleicht diese Widersprüche, die die Parkour-Szene gegen die vollständige Institutionalisierung immun machen.

In den Stadien werden die ersten Olympia­siegerinnen gekürt, ausserhalb lebt die Subkultur fort.

Zum Autor

Timo Posselt, 1991 geboren, studierte in Basel und im norwegischen Bergen Deutsch, Genderstudies und Geschichte. Er schreibt als freier Journalist über Pop, Film und Literatur und lebt in Basel. Für die Republik schrieb er zuletzt über die tamilisch-schweizerische Soulmusikerin Priya Ragu.