Künstlerische Intelligenz
Vom krisengebeutelten Moloch zur trendigen Wochenenddestination und zum internationalen Kulturmekka: Wie die Kunstszene in Athen den gesellschaftlichen Wandel vorantreibt.
Eine Reportage von Yvonne Kunz (Text) und Myrto Papadopoulos (Bilder und Videos), 14.09.2019
An unsere kapitalistische Gegenwart, sagte der verstorbene Pop-Theoretiker Mark Fisher gerne, würden wir uns im Westen einst erinnern als eine Ära des politischen und kulturellen Stillstands. Als ein aufreibendes Warten auf den Bruch und die Ankunft des Neuen.
In Griechenland aber kam die Zäsur. Denn es ist der Ort, wo sich die grossen europäischen Krisen der vergangenen Jahre kumuliert haben: das Finanzsystem, die Menschen auf der Flucht. Dabei ist den Griechen die Zukunft nicht nur in zermürbenden politischen Debatten abhandengekommen. Sondern im Alltag der einschneidenden Austerität, im Chaos der globalen Migrationspolitik.
Während Zentraleuropa inzwischen rekordniedrige Ankunftszahlen bei Asylsuchenden vermeldet, ist Griechenland vom Durchreisestaat zum Aufnahmeland geworden. Es muss die Menschen integrieren, ihnen Arbeitsplätze anbieten – bei einer Arbeitslosenquote von immer noch um die 20 Prozent, über 40 Prozent bei den unter 25-Jährigen.
Dass das einigermassen gut geht, ist einer Zivilgesellschaft zu verdanken, die dem Umbruch pragmatisch begegnet, mit Tauschbörsen, Sprachkursen und Suppenküchen. Aber auch mit Wut und Kunst. Vor allem in der Hauptstadt. Sexy, boho Athen. Die alte Hafenstadt hat in den vergangenen Jahren auch eine starke Sogwirkung gegenüber den immer nach Dringlichkeit dürstenden westlichen Kunstkarawanen entwickelt. Ein Ort, wo der innere Aufruhr dieser Zeit fühlbar ist.
«Eine der interessantesten Städte Europas», schwärmte Documenta-Chef Adam Szymczyk und hielt 2017 die weltgrösste Extravaganza für zeitgenössische Kunst nicht nur im provinziellen Kassel ab. Im Ausnahmezustand Athens lasse sich besser ganz neu über globale Ideen und Politik nachdenken. «Learning from Athens» hiess deshalb auch die Kunstschau. Was, wenn Krisen Wandel erzwingen? Was geschieht mit Identitäten in einer sich so schnell verändernden Gesellschaft? Was mit der Kunst?
Der totale Make-over
«Athen ist das neue Berlin», heisst es. «Das stimmt, auf Instagram», sagt der Künstler und Kurator der Athener Kunstbiennale, Poka-Yio. «Wir sind auch das neue Barcelona oder Tel Aviv. Wir haben nun eine globalisierte Identität.» Einen «totalen Make-over» nennt er den schnellen Wandel Athens vom beschaulichen Vorort Europas zur dynamischen Metropole.
Lange nur als Stadt der klassischen Antike von Interesse, wurde Athen mit den Krisen in die Gegenwart katapultiert. Und es wurde zum Flaggschiff der Revolten: gegen Polizeigewalt, Privatisierungen, die EU, gegen die Gegenwart und für eine andere, menschlichere Zukunft. Eine Alternative zum Kapitalistischen Realismus, um es nochmals mit Mark Fisher zu sagen.
Poka-Yio – was nach Fernost klingt, ist der Künstlername eines gebürtigen Atheners – war 2007 Mitbegründer der Athener Biennale, kurz AB. Über seinem Fazit aus den vergangenen zehn Jahren Kulturaktivismus hängt beissende Selbstkritik: «Wir wollten Athen auf die Weltkarte zeitgenössischer Kunst hieven, jetzt ist es der G-Spot von Airbnb.» Man denke ja immer, Kunst sei per Definition Anti-Establishment. Er musste einsehen: Hier die Kunst, dort das System – das sei der grösste Irrtum des Kunstbetriebs.
Die AB hätte Teil der Documenta sein sollen. Auch das Biennale-Team um Poka-Yio sah die Chance einer allgemeingültigen gesamteuropäischen Lektion aus den Krisen. «Athen ist ein soziales Labor, glokal, ein kleiner Ort, auf den globale Herausforderungen konkret einwirken.»
Doch die Documenta foutierte sich um die griechische Perspektive, die Zusammenarbeit platzte. Die Documenta geriet zum selbstzufriedenen Abfeiern von Künstlern als Kreuzrittern des Guten. Man kritisierte Neokolonialismus und Gentrifizierung. Und dann prosteten die Gäste aus dem Norden Poka-Yio zu: Coole Show! Fantastische Stadt! Wie kann ich hier eine Wohnung kaufen?
Athens Künstler dagegen sind tatsächlich sehr engagiert. «Wir wurden zu Brigaden von inoffiziellen Sozialarbeitern, mittendrin, mit Migrantinnen und Obdachlosen», sagt Poka-Yio, in dessen Sätzen oft genau in der Mitte ein fettes Aber sitzt: «Dann brüsteten sich die offiziellen Vertreter der Kommunen mit diesen freien Initiativen.» Und schliesslich flossen Gelder, die in die Flüchtlingsarbeit gehen sollten, in Kunstprojekte. Er spuckt die Worte fast aus: «Der Künstler als Raubritter der Krise, eine Pest.»
Nicht zuletzt hinterfragen die Biennale-Macher das Krisennarrativ selbst. Es sei doch bezeichnend, sagt Poka-Yio: «Just wenn sich im Westen die Entwicklungskurven verflachen, propagieren wir all diese globalen Krisen. Im Osten und Süden teilt man das Feeling nicht.» Denn das Letzte, was uns im Westen von links bis rechts noch verbinde, sei die depressive Grundstimmung, dass alles noch schlimmer kommen werde.
Gerade Linken falle das Reden über die Zukunft schwer. Entweder zerfleische man sich gegenseitig als zu liberal, zu radikal, zu banal. Oder man kippe in düstere Akzelerationen: das Ökosystem, die Demokratie, alles am Ende. Poka-Yio: «Am Schluss bleiben der einsam in die Zukunft galoppierende Liberalismus und Reaktionäre, die über eine romantische Vergangenheit reden.»
Als «geisterhaft» bezeichnet er den Aufstieg der extremen Rechten in Griechenland, wo bis zu den Wahlen im Juli 2019 Neonazis im Parlament sassen. Es sei eine merkwürdig gesichts- und geräuschlose Bewegung. «Die machen keine Kunstprojekte», sagt er sarkastisch. Sie existierten als Unterströmung, in den Familien, Quartieren, Schulen. Das rechte Gedankengut nistet sich ein im Alltag. Wer sich öffentlich in einer praktischen Situation gegen Rassismus wehrt, muss mit Repressionen rechnen.
In Athen zeigen sich die Polarisierungen nicht in Gesinnungskriegen in Leitartikeln und Leserforen. Sondern in den auf offener Strasse erschlagenen Geflüchteten und gemeuchelten Polit-Rappern. Oder wie zuletzt in der Ermordung des Queer-Aktivisten Zak Kostopoulos – als Zackie Oh war er ein stadtbekannter Drag-Performer. Ihm war die letzte Biennale gewidmet.
Die Queer-Szene, die sehr sichtbar ist, setzt für Poka-Yio den Kontrapunkt: «Als wir einen Ausweg aus unserer Hoffnungslosigkeit am meisten brauchten, waren die Queer-Communitys mit optimistischem Tatendrang zur Stelle. Warben für Unvoreingenommenheit, tanzend, lebensbejahend.»
Sie spürten: Das konservative Griechenland ist an einem gesellschaftlichen Wendepunkt. Sie waren getragen vom Gedanken: Wir können die Dinge bis zum Limit verbiegen, die Grenzen des Menschseins ausloten. Und sie täuschten sich nicht. 2017 verabschiedete das Parlament eines der progressivsten Antidiskriminierungsgesetze der Welt. Ab fünfzehn kann man sein Geschlecht selbst wählen, man kann heiraten, wen man will.
Wider den zeitgenössischen Realismus
Etwas abseits der Innenstadt findet man die kreativen Graswurzelprojekte, die Griechinnen auf der Suche nach der anderen Zukunft. Jenseits des berüchtigten Omonia-Platzes, ein paar hundert Meter die Strasse runter, mitten durch den Stadtteil Metaxourgio, durch gereizte Geschäftigkeit zwischen den Geschäften. Vorbei an unbeschäftigt rastlosen Männergruppen und kleinen Drogenszenen. Wo sich Realitäten bald übereinanderschieben. Überwucherte Ruinen wechseln sich ab mit hübschen Restaurants an gemütlichen Plätzen. Manchmal geben halb geöffnete Tore den Blick frei auf Lagerhallen, die bis zur Decke mit plastikverpackter chinesischer Billigmode gefüllt sind.
Dieses Viertel ist das Zuhause von Baustatikerin Natassa Dourida. Am Anfang der Krisen las sie George Orwells «1984». Ein Fehler: Drei Jahre lang betrachtete sie alles durch die Linse der dystopischen Düsternis des Romans. Elend sei es ihr gegangen bei ihren Streifzügen durch die Stadt. Durch Strassen, an denen verlassene Häuser eins ums andere zu verrotten begannen. Und immer mehr Obdachlose unter Decken begraben eng an die Hausmauern gepresst den ganzen Tag einfach dalagen. Es erschien Natassa, als würde gerade die ganze neuere Geschichte enden. Und Athen war der Ort, an dem sie endete. Der Ort der verfallenden Häuser und Menschen.
Die Probleme, dachte sich Natassa irgendwann, könnten sich eigentlich gegenseitig lösen. Inzwischen hatte sie «The Age of Aquarius» gelesen, und es ging ihr besser mit Robin Sacredfires spiritueller Abhandlung des Gezeitenwechsels. Die Krisen sieht sie nun als Symptome für den Anbruch einer neuen Ära. Athen als Sollbruchstelle.
Nie wäre sie weggegangen, wie über eine halbe Million gut gebildeter junger Griechen es getan haben. Denn: «An dieser Grenze kenne ich die Dimensionen der Wahrheit.» Stattdessen überzeugte sie ein älteres Paar davon, dass sich ihr kleines Anwesen erhalten liesse. Nur kümmern müsste man sich um die schmucke Stadtvilla, weit verwinkelt, mit Dachterrassen und Innenhof. Sie bekam die Erlaubnis, das Gebäude zu nutzen, einzig mit der Verpflichtung, es instand zu halten.
Mit einer Truppe Gleichgesinnter schrieb sie ein Manifest, das Angst als Zugang zur Realität ablehnt. Als Name wählte man «Communitism», das Kunstwort ist Programm: die Überwindung des Individualismus. Und die Kunst als Generator von Gemeinsamkeit.
Seit drei Jahren gibt es nun diese offene Gemeinschaft für creative professionals von zeitweise bis zu sechzig Aktivisten, die die lottrige Stadtvilla belebt. Mit Kino, Clownworkshops, Gratiskleiderbasar für Geflüchtete. «Perspectives» heisst ein Studio, das Künstlerinnen aus Syrien, Afghanistan und Kurdistan betreiben.
Auch bei Communitism gedenkt man des ermordeten Zak Kostopoulos. Aus einem kleinen Stuckrahmen blickt er nachdenklich in den Raum. Ein weiteres Plakat kommt auf die Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst zurück: «Kunst zeichnet die Linien, die unsere Seelen verbinden.»
Natassa erinnert der Spruch an die Gemeinschaftstänze, weit draussen auf dem Land. Tänze in Kreisen zu Hunderten, zusammengehalten nur von der Musik. Kunst und Musik, sagt sie, füllten eine Lücke der säkularen Welt. Seien ein Mittel zum Ausdruck des Glaubens an die Metaphysik.
Und es ist, was viele Künstler formulieren, wenn sie diese Frage erörtern: Kern der Kunst ist, dass sie nicht nur zum intellektuellen Verständnis verhilft. Ein Song, ein Gemälde, eine Installation kann die Betrachterin zu einem Gefühl transportieren, das nicht unbekannt ist, das sie aber noch nie bewusst empfunden hat.
Nach diesem transformativen Erlebnis suche die Kunst immerfort, sagte der Installationskünstler Ólafur Elíasson in einer Rede am WEF 2016. Wichtig in einer Gegenwart, die vorführt, wie begrenzt die Wirkungsmacht des Faktischen ist. All das Wissen aus Datenbergen und Diagrammen erzeuge vor allem Überforderung, Ohnmacht und Mitgefühlsmüdigkeit. Denn, so Elíasson: «Wir fühlen uns nicht als Teil eines grösseren Wir.»
Queer in Heterotopia
Communitism ist eine foucaultsche Heterotopie: ein wirksamer Raum, der «gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, indem er sie repräsentiert, negiert oder umkehrt». Mitorganisator und Drag-Performer Angel Torticollis sagt es profaner. Man müsse die Dinge selbst gestalten in diesen Vierteln, für die beim Staat niemand mehr zuständig sei. «Wir wollen verändern, wie die Leute miteinander umgehen, wie wir eine Stadt bewohnen, in der alles in Bewegung ist, jeder Sechste neu ist, viele nichts haben.»
Kunst sei im sich rasant wandelnden Athener Alltag ein praktisches Multifunktionswerkzeug, ein gesellschaftliches wie auch individuelles menschliches Schmiermittel. Zunächst natürlich: Wie verständigt man sich mit so vielen Sprachen, mindsets, Kulturen, Welten? Angel: «Wir nutzen die Kunst, um einander unsere ganz unterschiedlichen Geschichten zu erzählen. Sie ist aber auch ein Mittel der Auseinandersetzung mit dem Selbst. Damit, wie es sich in einer Stadt verhält, in der alles in Bewegung ist.»
Angel lebte sechzehn Jahre in London, wollte ins Modebusiness, versuchte sich als Koch, wurde schliesslich Osteopath. Seit zwei Jahren ist er wieder hier. In einer Stadt, die er als Fluss der Veränderung beschreibt, der ihn mitgerissen habe.
Angel ist wie vor ihm Zak zum populären Drag-Performer geworden, mit 45. Zufällig, als ein Künstlerfreund sein Gesicht zu bemalen begann. Sie dann kleine Videos drehten, diese im Internet posteten und sich eine Figur formte: Kangela Tromokratisch, eine ausserirdische Hausfrau auf Acid, mit Bart – und Fans: Angel traf einen Nerv, immer populärer wurden seine Clips. Immer krasser die Kangela: Bei Gelegenheit singt sie umgetextete Nationalistenlieder in Sado-Maso-Montur auf ruppigem Elektropunk-Sound.
Sein Drag hat nicht mehr viel mit dem klassischen Cabaret-Akt zu tun, bei dem sich ein Mann als Frau verkleidet. «Wir fordern nicht nur das Patriarchat, überhaupt die Idee von Geschlecht, sondern auch Drag-Klischees heraus.» Mann oder Frau zu sein, habe ihn ohnehin nie interessiert, Angel sieht sich als non-binär. Da passt diese neue Spielart des Drag, bei der jeder irgendein Wesen, eine eigene Welt erschaffen kann.
Ein klassischer Genderaktivist, der sich mit Pronomen- oder Benimmregeln herumschlägt, ist er auch nicht. Er machts andersherum: «Meine Figur Kangela sagt die scheusslichsten Dinge auf möglichst groteske Art. Die Leute lachen, aber sie hinterfragen sich dabei: Denke ich vielleicht auch ein bisschen so?» Genau darauf führen die Athener ab, sagt Angel, weil sie unbändigen Durst nach Entertainment hätten – und nach dem Neuen, Undefinierten, auch bei sich selbst.
Kuscheln gegen das System
Das Hinterfragen von Stereotypen ist auch die Mission von Antigoni Tsagkaropoulou. Sie aber tut das auf radikal freundliche Art, derzeit mit ihrer «Fluffy Library» im Kunstraum Atopos, einer Grossinstallation anlässlich der Unesco-Welthauptstadt des Buches. 2018 war das Athen. In dieser «genderfluiden, ausserweltlichen Lese- und Knuddelatmosphäre» entstehen neue Märchen zu Identität, Gender und zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit den Mitteln der Performance, des kollektiven Storytellings und Plüschskulpturen.
Fluffy ist der Kosename eines pelzigen Monsters, das sich im gesamten oberen Stock des Kunstraums Atopos breitgemacht hat. Nach Zeitungsberichten finden auch viele Familien ohne Bezug zur Kunst- oder Queer-Szene den Weg an diesen Ort. Sie kommen nicht, weil sie einen genderfluiden safe space suchen, sie kommen, weil ihnen die Bilder gefallen. Monster und Märchen: ein cooler Ausflug mit den Kindern. Auch bei unseren Besuchen wandeln stets ein paar Knirpse durch die Räume, strahlend staunend, sie kuscheln mit dem Einhorn, lassen sich zu den Eltern auf die riesigen Kissen fallen, kramen aus kleineren Kissen Kinderbücher hervor.
Nun hat das Einhorn sowohl Bart als auch Brüste. Die Kissen haben die Gestalt poppiger Vulven. Die Bilderbücher, welche die Kinder aus den Schlitzen ziehen, erzählen Geschichten von queeren Paaren, die ein verlorenes Ei ausbrüten, von Babys, die Gleichheit für alle fordern, von Queer-Aktivisten.
Antigoni erzählt: «Wenn die Eltern diese Geschichten vorlesen, sagen sie oft nur: ‹Hm, interessant.› Wissen nicht recht, was antworten, wenn die Kinder fragen, was die Plüschskulpturen darstellen.» Man könnte sagen: Mischwesen aus Insekten und Geschlechtsteilen, aber so gefällig, dass man sie sich bestens als Goodie in einem Happy Meal bei McDonald’s vorstellen kann.
Überrascht seien diese Eltern, befremdet vielleicht, aber nie verärgert, sagt die Künstlerin. Inzwischen gebe es viele Anfragen für Kindergeburtstage. Antigoni freuts, damit hat sie mehr erreicht, als sie zu träumen wagte. Denn im Zusammenhang mit Kindern, sagt sie, sei die gesellschaftliche Stimmung bei queeren und feministischen Themen ja nicht bloss gereizt, sondern die eines Tabus, gefährlich gar.
«Ich spiele mit der Grenze zwischen Kunst und politischem Aktivismus – aber immer mit einem leichten Touch.» Sie wolle dem Publikum nichts aufzwingen, nur spielen, mit der flauschigen Freundlichkeit die scharfen Kanten des Diskurses etwas abwetzen. Schon bald findet der erste Drag-Workshop für Kinder statt.
Lob der Latenz
Athen könnte überall sein, sagt die Performancekünstlerin und Occupy-Wall-Street-Organisatorin Georgia Sagri, jeder Ort, wo viel auf dem Spiel stehe. Nach über zehn Jahren in New York ist sie zurück in ihrer Heimatstadt. Keine Rückkehr in die Komfortzone, im Gegenteil: «Künstlerinnen dürfen sich nie allzu wohl fühlen, sie müssen immer auch fremd sein.»
In Athen, sagt sie, würden jetzt Themen verhandelt, die uns noch viele Jahrzehnte beschäftigen würden. Und Georgia will Teil des öffentlichen Gesprächs sein, dabei sein bei der Formulierung der Argumente. Das sieht sie als ihre künstlerische Verpflichtung. Denn: «Kunst hat seit den Höhlenmalereien immer die Funktion gehabt, dabei den Ton anzugeben.»
Modernismen, sagt sie, seien als Methode, die Zeit zu verstehen, vorbei. «Der Modernismus geht davon aus, dass man sich von allem Vergangenen löst, um etwas für ein mögliches Später zu kreieren.» Und Kunst habe die Kraft, nach Neuem zu suchen. Aber Kunst brauche auch den Prozess, man müsse üben, bis der Strich sicher werde, der Ton klinge. Das heisst für Georgia: etwas Bestehendes nehmen, auf dem man etwas Neues bauen kann. Die Dinge in die Schwebe bringen zwischen Gewesenem und Künftigem und so Gegenwart erschaffen.
In der von ihr angeregten Kunstpraxis Hyle macht sie sich auf die Suche nach einer neuen Art, die Gegenwart zu verstehen, zu erleben und zu beschreiben. Die zentrale Frage unserer Zeit, sagt Georgia, sei, wie wir politische Repräsentation verstünden. Wer unsere Repräsentanten seien. Was sind das für Figuren? Wer repräsentiert da wen, warum, was geht da vor sich?
Georgia: «Wie Dinge dargestellt und verstanden werden, ist das Kerngeschäft der Kunst.» Politische Repräsentanten seien heute nicht mehr in der Lage, die Alltagssituation – sozial, wirtschaftlich oder emotional – zum Ausdruck zu bringen. Kunst schon, sagt sie: «Sie kann Stimmen pluralisieren, dafür sorgen, dass möglichst viele Sprachen im Diskurs vertreten sind.»
Hyle ist eine Dreizimmerwohnung im dritten Stock einer Betonburg am Omonia-Platz. Kein behaglicher Ort, eher ein unglücklicher Umstand, wo verfehlte Stadtplanung, korrupte Bürokratie und prekäre Lebensumstände von allen Seiten aufeinanderprallen. Hier wurde Zak Kostopoulos alias Zackie Oh ermordet. Der Balkon überblickt, nach innen gerichtet, die Passage vom Omonia-Platz in eine kleine Seitenstrasse. Ein Drittel der Läden steht leer, offen sind das Reisebüro Bollywood, ein Hutgeschäft und eine Papeterie.
Für diese Wohnung verteilte Georgia Sagri sieben Schlüssel mit der Einladung, den Raum zu teilen, das Private öffentlicher zu machen. Als eine «Übung in Vertrauen». Die Reaktionen der Schlüsselempfänger waren ganz unterschiedlich, von Unverständnis, Misstrauen bis zu Einklinken. Mit Videoreihen, Künstlerresidenzen und Ausstellungen. Noch ist kein enger Kreis entstanden. Noch, sagt Georgia, ist es vor allem eine «Übung darin, mit Gewissheiten und Gewohnheiten zu brechen».
Die Welt, sagt sie, sei ja eigentlich voller Ideen, voller Erfindungen, voller Informationen – aber der Mensch habe überhaupt keine Zeit, sich das alles zu vergegenwärtigen. In Hyle sollen deshalb verschiedene Denkweisen zusammenkommen, aus Politik, Wissenschaft und Kunst, um die Gegenwart zu verstehen. Die Kunst sei dabei der Treiber. «Denn die Kunst glaubt immer daran, dass es überhaupt neue Sprachen geben kann.»
Konsequent werden Grenzen verwischt, jegliche Binaritäten aufgehoben, auch in der künstlerischen Praxis. Kunst, sagt Georgia, müsse nicht gesehen werden, um zu existieren. «Wir versuchen die Dualität von Produktion und Reproduktion, Werk und Betrachterin, Künstlerin und Bürger aufzulösen.»
Zum Beispiel so: Die kolumbianische Dichterin und Lyrikübersetzerin Mayra Rodriguez Castro arbeitet einen Monat in Hyle. An der Verschränkung eigener Texte mit Stimmen von schwarzen Poeten wie June Jordan und Amiri Baraka, die, wie sie sagt, ihr Vokabular der Gefühle erweitern. Dann präsentiert sie die Texte im dreiteiligen Lesezyklus «Fugue».
Sie hat ein Ritual vor ihren Lesungen. In letzter Minute geht sie hinaus zu einem Copy-Shop, um ihr Manuskript zu drucken und sich einen Blumenstrauss für den Lesetisch zu kaufen. Hinaus über den Omonia-Platz. Erst, sagt Mayra, sei sie überfordert gewesen von der Hektik und Schroffheit hier – und sie stammt aus Bogotá. Der Weg zurück ist ihre Hauptprobe, sie rezitiert ihre Stücke, lässt ihre Stimme eins werden mit dem tosenden Verkehrslärm.
Als sie die Wohnung wieder betritt, beginnt das Publikum bereits Platz zu nehmen, einander plaudernd kennenzulernen. Acht Personen sind im Raum, als Mayra beginnt. Der warme Klang ihrer Stimme vermag die Grelle des brutalen Neonlichts etwas zu dimmen. Durch die Wand sind Kinder zu hören, die in der angrenzenden Wohnung spielen. «Ich spreche über das Bild einer gemeinsamen Utopie», rezitiert Mayra aus Amiri Barakas «Short Speech to My Friends». Ein Raunen geht durch den Raum.
Yvonne Kunz ist Reporterin und Autorin mit den Schwerpunkten Justiz, Kultur und Gesellschaft. Ihre Texte erschienen unter anderem in «Die Zeit» und in der WOZ. Ihr Sachbuch «Jihad Rap» (Ventil-Verlag) war 2016 bei laut.de auf der Liste der besten Musikbücher des Jahres. Derzeit berichtet sie für das Strassenmagazin «Surprise» und die Republik regelmässig aus Zürichs Gerichtssälen. Auf ihren Auslandreportagen sucht sie nach Gedanken, die man nicht auf Google findet.
Myrto Papadopoulos ist Fotografin, Pädagogin und Filmemacherin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Fragen zu Geschlecht, Identität und Trauma. Sie gewann den Award «Emerging Photographer 2013» der Magenta Foundation. Zu ihren Kunden gehören unter anderem das «Time Magazine», «National Geographic», «GEO», «The New York Times», «The Washington Post», «Die Zeit».