Drag-Performer Angel Torticollis: «Wir wollen verändern, wie wir eine Stadt bewohnen, in der alles in Bewegung ist, jeder Sechste neu ist, viele nichts haben.»

Künstlerische Intelligenz

Vom krisengebeutelten Moloch zur trendigen Wochenend­destination und zum internationalen Kultur­mekka: Wie die Kunstszene in Athen den gesellschaftlichen Wandel vorantreibt.

Eine Reportage von Yvonne Kunz (Text) und Myrto Papadopoulos (Bilder und Videos), 14.09.2019

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An unsere kapitalistische Gegenwart, sagte der verstorbene Pop-Theoretiker Mark Fisher gerne, würden wir uns im Westen einst erinnern als eine Ära des politischen und kulturellen Stillstands. Als ein aufreibendes Warten auf den Bruch und die Ankunft des Neuen.

In Griechenland aber kam die Zäsur. Denn es ist der Ort, wo sich die grossen europäischen Krisen der vergangenen Jahre kumuliert haben: das Finanz­system, die Menschen auf der Flucht. Dabei ist den Griechen die Zukunft nicht nur in zermürbenden politischen Debatten abhanden­gekommen. Sondern im Alltag der einschneidenden Austerität, im Chaos der globalen Migrationspolitik.

Während Zentral­europa inzwischen rekord­niedrige Ankunfts­zahlen bei Asyl­suchenden vermeldet, ist Griechenland vom Durchreise­staat zum Aufnahme­land geworden. Es muss die Menschen integrieren, ihnen Arbeits­plätze anbieten – bei einer Arbeitslosen­quote von immer noch um die 20 Prozent, über 40 Prozent bei den unter 25-Jährigen.

Dass das einigermassen gut geht, ist einer Zivil­gesellschaft zu verdanken, die dem Umbruch pragmatisch begegnet, mit Tausch­börsen, Sprach­kursen und Suppen­küchen. Aber auch mit Wut und Kunst. Vor allem in der Hauptstadt. Sexy, boho Athen. Die alte Hafen­stadt hat in den vergangenen Jahren auch eine starke Sogwirkung gegenüber den immer nach Dringlichkeit dürstenden westlichen Kunst­karawanen entwickelt. Ein Ort, wo der innere Aufruhr dieser Zeit fühlbar ist.

«Eine der interessantesten Städte Europas», schwärmte Documenta-Chef Adam Szymczyk und hielt 2017 die weltgrösste Extravaganza für zeitgenössische Kunst nicht nur im provinziellen Kassel ab. Im Ausnahme­zustand Athens lasse sich besser ganz neu über globale Ideen und Politik nachdenken. «Learning from Athens» hiess deshalb auch die Kunstschau. Was, wenn Krisen Wandel erzwingen? Was geschieht mit Identitäten in einer sich so schnell verändernden Gesellschaft? Was mit der Kunst?

Der totale Make-over

«Athen ist das neue Berlin», heisst es. «Das stimmt, auf Instagram», sagt der Künstler und Kurator der Athener Kunst­biennale, Poka-Yio. «Wir sind auch das neue Barcelona oder Tel Aviv. Wir haben nun eine globalisierte Identität.» Einen «totalen Make-over» nennt er den schnellen Wandel Athens vom beschaulichen Vorort Europas zur dynamischen Metropole.

Lange nur als Stadt der klassischen Antike von Interesse, wurde Athen mit den Krisen in die Gegenwart katapultiert. Und es wurde zum Flagg­schiff der Revolten: gegen Polizei­gewalt, Privatisierungen, die EU, gegen die Gegenwart und für eine andere, menschlichere Zukunft. Eine Alternative zum Kapitalistischen Realismus, um es nochmals mit Mark Fisher zu sagen.

«Hier die Kunst, dort das System – der grösste Irrtum des Kunst­betriebs»: Poka-Yio, Künstler, Kurator und Mitgründer der Athener Biennale.
«Wir wollten Athen auf die Weltkarte zeit­genössischer Kunst hieven, jetzt ist es der G-Spot von Airbnb», sagt Kurator Poka-Yio (Bild: Ausstellungs­raum der Athener Biennale).

Poka-Yio – was nach Fernost klingt, ist der Künstler­name eines gebürtigen Atheners – war 2007 Mitbegründer der Athener Biennale, kurz AB. Über seinem Fazit aus den vergangenen zehn Jahren Kultur­aktivismus hängt beissende Selbst­kritik: «Wir wollten Athen auf die Weltkarte zeitgenössischer Kunst hieven, jetzt ist es der G-Spot von Airbnb.» Man denke ja immer, Kunst sei per Definition Anti-Establishment. Er musste einsehen: Hier die Kunst, dort das System – das sei der grösste Irrtum des Kunstbetriebs.

Die AB hätte Teil der Documenta sein sollen. Auch das Biennale-Team um Poka-Yio sah die Chance einer allgemein­gültigen gesamt­europäischen Lektion aus den Krisen. «Athen ist ein soziales Labor, glokal, ein kleiner Ort, auf den globale Heraus­forderungen konkret einwirken.»

Doch die Documenta foutierte sich um die griechische Perspektive, die Zusammen­arbeit platzte. Die Documenta geriet zum selbst­zufriedenen Abfeiern von Künstlern als Kreuz­rittern des Guten. Man kritisierte Neokolonialismus und Gentrifizierung. Und dann prosteten die Gäste aus dem Norden Poka-Yio zu: Coole Show! Fantastische Stadt! Wie kann ich hier eine Wohnung kaufen?

Athens Künstler dagegen sind tatsächlich sehr engagiert. «Wir wurden zu Brigaden von inoffiziellen Sozial­arbeitern, mittendrin, mit Migrantinnen und Obdachlosen», sagt Poka-Yio, in dessen Sätzen oft genau in der Mitte ein fettes Aber sitzt: «Dann brüsteten sich die offiziellen Vertreter der Kommunen mit diesen freien Initiativen.» Und schliesslich flossen Gelder, die in die Flüchtlings­arbeit gehen sollten, in Kunst­projekte. Er spuckt die Worte fast aus: «Der Künstler als Raubritter der Krise, eine Pest.»

Nicht zuletzt hinterfragen die Biennale-Macher das Krisen­narrativ selbst. Es sei doch bezeichnend, sagt Poka-Yio: «Just wenn sich im Westen die Entwicklungs­kurven verflachen, propagieren wir all diese globalen Krisen. Im Osten und Süden teilt man das Feeling nicht.» Denn das Letzte, was uns im Westen von links bis rechts noch verbinde, sei die depressive Grund­stimmung, dass alles noch schlimmer kommen werde.

Gerade Linken falle das Reden über die Zukunft schwer. Entweder zerfleische man sich gegenseitig als zu liberal, zu radikal, zu banal. Oder man kippe in düstere Akzelerationen: das Ökosystem, die Demokratie, alles am Ende. Poka-Yio: «Am Schluss bleiben der einsam in die Zukunft galoppierende Liberalismus und Reaktionäre, die über eine romantische Vergangenheit reden.»

Als «geisterhaft» bezeichnet er den Aufstieg der extremen Rechten in Griechen­land, wo bis zu den Wahlen im Juli 2019 Neonazis im Parlament sassen. Es sei eine merkwürdig gesichts- und geräusch­lose Bewegung. «Die machen keine Kunst­projekte», sagt er sarkastisch. Sie existierten als Unter­strömung, in den Familien, Quartieren, Schulen. Das rechte Gedanken­gut nistet sich ein im Alltag. Wer sich öffentlich in einer praktischen Situation gegen Rassismus wehrt, muss mit Repressionen rechnen.

In Athen zeigen sich die Polarisierungen nicht in Gesinnungs­kriegen in Leitartikeln und Leser­foren. Sondern in den auf offener Strasse erschlagenen Geflüchteten und gemeuchelten Polit-Rappern. Oder wie zuletzt in der Ermordung des Queer-Aktivisten Zak Kostopoulos – als Zackie Oh war er ein stadt­bekannter Drag-Performer. Ihm war die letzte Biennale gewidmet.

Athen – eine Stadt zwischen finanziellem Zusammen­bruch und künstlerischem Aufbruch.
Die Queer-Communitys haben die Kunst­revolution in Athen enorm geprägt. In der Communitism-Stadtvilla gedenkt man des ermordeten Drag-Performers Zak Kostopoulos.

Die Queer-Szene, die sehr sichtbar ist, setzt für Poka-Yio den Kontra­punkt: «Als wir einen Ausweg aus unserer Hoffnungs­losigkeit am meisten brauchten, waren die Queer-Communitys mit optimistischem Taten­drang zur Stelle. Warben für Unvor­eingenommenheit, tanzend, lebensbejahend.»

Sie spürten: Das konservative Griechenland ist an einem gesellschaftlichen Wende­punkt. Sie waren getragen vom Gedanken: Wir können die Dinge bis zum Limit verbiegen, die Grenzen des Mensch­seins ausloten. Und sie täuschten sich nicht. 2017 verabschiedete das Parlament eines der progressivsten Antidiskriminierungs­gesetze der Welt. Ab fünfzehn kann man sein Geschlecht selbst wählen, man kann heiraten, wen man will.

Wider den zeitgenössischen Realismus

Etwas abseits der Innenstadt findet man die kreativen Graswurzel­projekte, die Griechinnen auf der Suche nach der anderen Zukunft. Jenseits des berüchtigten Omonia-Platzes, ein paar hundert Meter die Strasse runter, mitten durch den Stadtteil Metaxourgio, durch gereizte Geschäftigkeit zwischen den Geschäften. Vorbei an unbeschäftigt rastlosen Männer­gruppen und kleinen Drogen­szenen. Wo sich Realitäten bald übereinander­schieben. Überwucherte Ruinen wechseln sich ab mit hübschen Restaurants an gemütlichen Plätzen. Manchmal geben halb geöffnete Tore den Blick frei auf Lager­hallen, die bis zur Decke mit plastik­verpackter chinesischer Billigmode gefüllt sind.

Dieses Viertel ist das Zuhause von Bau­statikerin Natassa Dourida. Am Anfang der Krisen las sie George Orwells «1984». Ein Fehler: Drei Jahre lang betrachtete sie alles durch die Linse der dystopischen Düsternis des Romans. Elend sei es ihr gegangen bei ihren Streifzügen durch die Stadt. Durch Strassen, an denen verlassene Häuser eins ums andere zu verrotten begannen. Und immer mehr Obdachlose unter Decken begraben eng an die Hausmauern gepresst den ganzen Tag einfach dalagen. Es erschien Natassa, als würde gerade die ganze neuere Geschichte enden. Und Athen war der Ort, an dem sie endete. Der Ort der verfallenden Häuser und Menschen.

Die Probleme, dachte sich Natassa irgendwann, könnten sich eigentlich gegenseitig lösen. Inzwischen hatte sie «The Age of Aquarius» gelesen, und es ging ihr besser mit Robin Sacredfires spiritueller Abhandlung des Gezeiten­wechsels. Die Krisen sieht sie nun als Symptome für den Anbruch einer neuen Ära. Athen als Sollbruchstelle.

Nie wäre sie weggegangen, wie über eine halbe Million gut gebildeter junger Griechen es getan haben. Denn: «An dieser Grenze kenne ich die Dimensionen der Wahrheit.» Stattdessen überzeugte sie ein älteres Paar davon, dass sich ihr kleines Anwesen erhalten liesse. Nur kümmern müsste man sich um die schmucke Stadtvilla, weit verwinkelt, mit Dach­terrassen und Innenhof. Sie bekam die Erlaubnis, das Gebäude zu nutzen, einzig mit der Verpflichtung, es instand zu halten.

Mit einer Truppe Gleich­gesinnter schrieb sie ein Manifest, das Angst als Zugang zur Realität ablehnt. Als Name wählte man «Communitism», das Kunstwort ist Programm: die Überwindung des Individualismus. Und die Kunst als Generator von Gemeinsamkeit.

Lange nur als Stadt der klassischen Antike von Interesse, wurde Athen mit den Krisen in die Gegenwart katapultiert.
Kunst als Generator von Gemeinsam­keit: Natassa Dourida (rechts) schrieb mit Gleich­gesinnten das Communitism-Manifest, das Angst als Zugang zur Realität ablehnt.

Seit drei Jahren gibt es nun diese offene Gemeinschaft für creative professionals von zeitweise bis zu sechzig Aktivisten, die die lottrige Stadtvilla belebt. Mit Kino, Clown­workshops, Gratis­kleiderbasar für Geflüchtete. «Perspectives» heisst ein Studio, das Künstlerinnen aus Syrien, Afghanistan und Kurdistan betreiben.

Auch bei Communitism gedenkt man des ermordeten Zak Kostopoulos. Aus einem kleinen Stuck­rahmen blickt er nachdenklich in den Raum. Ein weiteres Plakat kommt auf die Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst zurück: «Kunst zeichnet die Linien, die unsere Seelen verbinden.»

Natassa erinnert der Spruch an die Gemeinschafts­tänze, weit draussen auf dem Land. Tänze in Kreisen zu Hunderten, zusammen­gehalten nur von der Musik. Kunst und Musik, sagt sie, füllten eine Lücke der säkularen Welt. Seien ein Mittel zum Ausdruck des Glaubens an die Metaphysik.

Und es ist, was viele Künstler formulieren, wenn sie diese Frage erörtern: Kern der Kunst ist, dass sie nicht nur zum intellektuellen Verständnis verhilft. Ein Song, ein Gemälde, eine Installation kann die Betrachterin zu einem Gefühl transportieren, das nicht unbekannt ist, das sie aber noch nie bewusst empfunden hat.

Nach diesem transformativen Erlebnis suche die Kunst immerfort, sagte der Installations­künstler Ólafur Elíasson in einer Rede am WEF 2016. Wichtig in einer Gegenwart, die vorführt, wie begrenzt die Wirkungs­macht des Faktischen ist. All das Wissen aus Daten­bergen und Diagrammen erzeuge vor allem Über­forderung, Ohnmacht und Mitgefühls­müdigkeit. Denn, so Elíasson: «Wir fühlen uns nicht als Teil eines grösseren Wir.»

Queer in Heterotopia

Communitism ist eine foucaultsche Hetero­topie: ein wirksamer Raum, der «gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, indem er sie repräsentiert, negiert oder umkehrt». Mitorganisator und Drag-Performer Angel Torticollis sagt es profaner. Man müsse die Dinge selbst gestalten in diesen Vierteln, für die beim Staat niemand mehr zuständig sei. «Wir wollen verändern, wie die Leute miteinander umgehen, wie wir eine Stadt bewohnen, in der alles in Bewegung ist, jeder Sechste neu ist, viele nichts haben.»

Kunst sei im sich rasant wandelnden Athener Alltag ein praktisches Multifunktions­werkzeug, ein gesellschaftliches wie auch individuelles menschliches Schmier­mittel. Zunächst natürlich: Wie verständigt man sich mit so vielen Sprachen, mindsets, Kulturen, Welten? Angel: «Wir nutzen die Kunst, um einander unsere ganz unterschiedlichen Geschichten zu erzählen. Sie ist aber auch ein Mittel der Auseinander­setzung mit dem Selbst. Damit, wie es sich in einer Stadt verhält, in der alles in Bewegung ist.»

Angel lebte sechzehn Jahre in London, wollte ins Mode­business, versuchte sich als Koch, wurde schliesslich Osteopath. Seit zwei Jahren ist er wieder hier. In einer Stadt, die er als Fluss der Veränderung beschreibt, der ihn mitgerissen habe.

Angel ist wie vor ihm Zak zum populären Drag-Performer geworden, mit 45. Zufällig, als ein Künstler­freund sein Gesicht zu bemalen begann. Sie dann kleine Videos drehten, diese im Internet posteten und sich eine Figur formte: Kangela Tromokratisch, eine ausser­irdische Hausfrau auf Acid, mit Bart – und Fans: Angel traf einen Nerv, immer populärer wurden seine Clips. Immer krasser die Kangela: Bei Gelegenheit singt sie umgetextete Nationalisten­lieder in Sado-Maso-Montur auf ruppigem Elektropunk-Sound.

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Sein Drag hat nicht mehr viel mit dem klassischen Cabaret-Akt zu tun, bei dem sich ein Mann als Frau verkleidet. «Wir fordern nicht nur das Patriarchat, überhaupt die Idee von Geschlecht, sondern auch Drag-Klischees heraus.» Mann oder Frau zu sein, habe ihn ohnehin nie interessiert, Angel sieht sich als non-binär. Da passt diese neue Spielart des Drag, bei der jeder irgendein Wesen, eine eigene Welt erschaffen kann.

Ein klassischer Gender­aktivist, der sich mit Pronomen- oder Benimm­regeln herum­schlägt, ist er auch nicht. Er machts anders­herum: «Meine Figur Kangela sagt die scheusslichsten Dinge auf möglichst groteske Art. Die Leute lachen, aber sie hinterfragen sich dabei: Denke ich vielleicht auch ein bisschen so?» Genau darauf führen die Athener ab, sagt Angel, weil sie unbändigen Durst nach Entertain­ment hätten – und nach dem Neuen, Undefinierten, auch bei sich selbst.

Kuscheln gegen das System

Das Hinterfragen von Stereo­typen ist auch die Mission von Antigoni Tsagkaropoulou. Sie aber tut das auf radikal freundliche Art, derzeit mit ihrer «Fluffy Library» im Kunstraum Atopos, einer Gross­installation anlässlich der Unesco-Welthauptstadt des Buches. 2018 war das Athen. In dieser «genderfluiden, ausser­weltlichen Lese- und Knuddel­atmosphäre» entstehen neue Märchen zu Identität, Gender und zwischen­menschlichen Beziehungen. Mit den Mitteln der Performance, des kollektiven Story­tellings und Plüschskulpturen.

Fluffy ist der Kosename eines pelzigen Monsters, das sich im gesamten oberen Stock des Kunstraums Atopos breitgemacht hat. Nach Zeitungs­berichten finden auch viele Familien ohne Bezug zur Kunst- oder Queer-Szene den Weg an diesen Ort. Sie kommen nicht, weil sie einen gender­fluiden safe space suchen, sie kommen, weil ihnen die Bilder gefallen. Monster und Märchen: ein cooler Ausflug mit den Kindern. Auch bei unseren Besuchen wandeln stets ein paar Knirpse durch die Räume, strahlend staunend, sie kuscheln mit dem Einhorn, lassen sich zu den Eltern auf die riesigen Kissen fallen, kramen aus kleineren Kissen Kinder­bücher hervor.

«Ich spiele mit der Grenze zwischen Kunst und politischem Aktivismus»: Künstlerin Antigoni Tsagkaropoulou in ihrer Installation «Fluffy Library» im Kunstraum Atopos.
Dem Publikum will Tsagkaropoulou mit flauschiger Freundlichkeit die scharfen Kanten des Diskurses abwetzen.
Der Musiker und Künstler Lykourgos Porfyris performt sein audio­visuelles Stück «PopTektonism» in der «Fluffy Library».

Nun hat das Einhorn sowohl Bart als auch Brüste. Die Kissen haben die Gestalt poppiger Vulven. Die Bilder­bücher, welche die Kinder aus den Schlitzen ziehen, erzählen Geschichten von queeren Paaren, die ein verlorenes Ei ausbrüten, von Babys, die Gleichheit für alle fordern, von Queer-Aktivisten.

Antigoni erzählt: «Wenn die Eltern diese Geschichten vorlesen, sagen sie oft nur: ‹Hm, interessant.› Wissen nicht recht, was antworten, wenn die Kinder fragen, was die Plüsch­skulpturen darstellen.» Man könnte sagen: Misch­wesen aus Insekten und Geschlechts­teilen, aber so gefällig, dass man sie sich bestens als Goodie in einem Happy Meal bei McDonald’s vorstellen kann.

Überrascht seien diese Eltern, befremdet vielleicht, aber nie verärgert, sagt die Künstlerin. Inzwischen gebe es viele Anfragen für Kinder­geburtstage. Antigoni freuts, damit hat sie mehr erreicht, als sie zu träumen wagte. Denn im Zusammen­hang mit Kindern, sagt sie, sei die gesellschaftliche Stimmung bei queeren und feministischen Themen ja nicht bloss gereizt, sondern die eines Tabus, gefährlich gar.

«Ich spiele mit der Grenze zwischen Kunst und politischem Aktivismus – aber immer mit einem leichten Touch.» Sie wolle dem Publikum nichts aufzwingen, nur spielen, mit der flauschigen Freundlichkeit die scharfen Kanten des Diskurses etwas abwetzen. Schon bald findet der erste Drag-Workshop für Kinder statt.

Lob der Latenz

Athen könnte überall sein, sagt die Performance­künstlerin und Occupy-Wall-Street-Organisatorin Georgia Sagri, jeder Ort, wo viel auf dem Spiel stehe. Nach über zehn Jahren in New York ist sie zurück in ihrer Heimat­stadt. Keine Rückkehr in die Komfort­zone, im Gegenteil: «Künstlerinnen dürfen sich nie allzu wohl fühlen, sie müssen immer auch fremd sein.»

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In Athen, sagt sie, würden jetzt Themen verhandelt, die uns noch viele Jahrzehnte beschäftigen würden. Und Georgia will Teil des öffentlichen Gesprächs sein, dabei sein bei der Formulierung der Argumente. Das sieht sie als ihre künstlerische Verpflichtung. Denn: «Kunst hat seit den Höhlen­malereien immer die Funktion gehabt, dabei den Ton anzugeben.»

Modernismen, sagt sie, seien als Methode, die Zeit zu verstehen, vorbei. «Der Modernismus geht davon aus, dass man sich von allem Vergangenen löst, um etwas für ein mögliches Später zu kreieren.» Und Kunst habe die Kraft, nach Neuem zu suchen. Aber Kunst brauche auch den Prozess, man müsse üben, bis der Strich sicher werde, der Ton klinge. Das heisst für Georgia: etwas Bestehendes nehmen, auf dem man etwas Neues bauen kann. Die Dinge in die Schwebe bringen zwischen Gewesenem und Künftigem und so Gegenwart erschaffen.

In der von ihr angeregten Kunst­praxis Hyle macht sie sich auf die Suche nach einer neuen Art, die Gegenwart zu verstehen, zu erleben und zu beschreiben. Die zentrale Frage unserer Zeit, sagt Georgia, sei, wie wir politische Repräsentation verstünden. Wer unsere Repräsentanten seien. Was sind das für Figuren? Wer repräsentiert da wen, warum, was geht da vor sich?

Georgia: «Wie Dinge dargestellt und verstanden werden, ist das Kern­geschäft der Kunst.» Politische Repräsentanten seien heute nicht mehr in der Lage, die Alltags­situation – sozial, wirtschaftlich oder emotional – zum Ausdruck zu bringen. Kunst schon, sagt sie: «Sie kann Stimmen pluralisieren, dafür sorgen, dass möglichst viele Sprachen im Diskurs vertreten sind.»

Hyle ist eine Dreizimmer­wohnung im dritten Stock einer Betonburg am Omonia-Platz. Kein behaglicher Ort, eher ein unglücklicher Umstand, wo verfehlte Stadt­planung, korrupte Bürokratie und prekäre Lebens­umstände von allen Seiten aufeinander­prallen. Hier wurde Zak Kostopoulos alias Zackie Oh ermordet. Der Balkon überblickt, nach innen gerichtet, die Passage vom Omonia-Platz in eine kleine Seiten­strasse. Ein Drittel der Läden steht leer, offen sind das Reisebüro Bollywood, ein Hutgeschäft und eine Papeterie.

Für diese Wohnung verteilte Georgia Sagri sieben Schlüssel mit der Einladung, den Raum zu teilen, das Private öffentlicher zu machen. Als eine «Übung in Vertrauen». Die Reaktionen der Schlüssel­empfänger waren ganz unterschiedlich, von Unverständnis, Misstrauen bis zu Einklinken. Mit Video­reihen, Künstler­residenzen und Ausstellungen. Noch ist kein enger Kreis entstanden. Noch, sagt Georgia, ist es vor allem eine «Übung darin, mit Gewissheiten und Gewohnheiten zu brechen».

Die Welt, sagt sie, sei ja eigentlich voller Ideen, voller Erfindungen, voller Informationen – aber der Mensch habe überhaupt keine Zeit, sich das alles zu vergegenwärtigen. In Hyle sollen deshalb verschiedene Denkweisen zusammen­kommen, aus Politik, Wissenschaft und Kunst, um die Gegenwart zu verstehen. Die Kunst sei dabei der Treiber. «Denn die Kunst glaubt immer daran, dass es überhaupt neue Sprachen geben kann.»

Konsequent werden Grenzen verwischt, jegliche Binaritäten aufgehoben, auch in der künstlerischen Praxis. Kunst, sagt Georgia, müsse nicht gesehen werden, um zu existieren. «Wir versuchen die Dualität von Produktion und Reproduktion, Werk und Betrachterin, Künstlerin und Bürger aufzulösen.»

Die kolumbianische Dichterin und Lyrik­übersetzerin Mayra Rodriguez Castro in der Nähe der Kunstpraxis Hyle im Stadtteil Omonia.
«Kunst kann Stimmen pluralisieren, dafür sorgen, dass möglichst viele Sprachen im Diskurs vertreten sind», sagt Hyle-Gründerin Georgia Sagri.

Zum Beispiel so: Die kolumbianische Dichterin und Lyrik­übersetzerin Mayra Rodriguez Castro arbeitet einen Monat in Hyle. An der Verschränkung eigener Texte mit Stimmen von schwarzen Poeten wie June Jordan und Amiri Baraka, die, wie sie sagt, ihr Vokabular der Gefühle erweitern. Dann präsentiert sie die Texte im dreiteiligen Lesezyklus «Fugue».

Sie hat ein Ritual vor ihren Lesungen. In letzter Minute geht sie hinaus zu einem Copy-Shop, um ihr Manuskript zu drucken und sich einen Blumen­strauss für den Lesetisch zu kaufen. Hinaus über den Omonia-Platz. Erst, sagt Mayra, sei sie überfordert gewesen von der Hektik und Schroffheit hier – und sie stammt aus Bogotá. Der Weg zurück ist ihre Haupt­probe, sie rezitiert ihre Stücke, lässt ihre Stimme eins werden mit dem tosenden Verkehrslärm.

Als sie die Wohnung wieder betritt, beginnt das Publikum bereits Platz zu nehmen, einander plaudernd kennenzulernen. Acht Personen sind im Raum, als Mayra beginnt. Der warme Klang ihrer Stimme vermag die Grelle des brutalen Neonlichts etwas zu dimmen. Durch die Wand sind Kinder zu hören, die in der angrenzenden Wohnung spielen. «Ich spreche über das Bild einer gemeinsamen Utopie», rezitiert Mayra aus Amiri Barakas «Short Speech to My Friends». Ein Raunen geht durch den Raum.

Zu den Reporterinnen

Yvonne Kunz ist Reporterin und Autorin mit den Schwer­punkten Justiz, Kultur und Gesellschaft. Ihre Texte erschienen unter anderem in «Die Zeit» und in der WOZ. Ihr Sach­buch «Jihad Rap» (Ventil-Verlag) war 2016 bei laut.de auf der Liste der besten Musikbücher des Jahres. Derzeit berichtet sie für das Strassen­magazin «Surprise» und die Republik regelmässig aus Zürichs Gerichts­sälen. Auf ihren Ausland­reportagen sucht sie nach Gedanken, die man nicht auf Google findet.

Myrto Papadopoulos ist Fotografin, Pädagogin und Filme­macherin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Fragen zu Geschlecht, Identität und Trauma. Sie gewann den Award «Emerging Photographer 2013» der Magenta Foundation. Zu ihren Kunden gehören unter anderem das «Time Magazine», «National Geographic», «GEO», «The New York Times», «The Washington Post», «Die Zeit».

Zum Hintergrund dieses Beitrags

Diese Reportage wurde in Kooperation mit dem Magazin «Surprise» realisiert.