Raus aus der Kolonie
Moutier wollte weg von Bern und hin zum Jura. Mit der Volksabstimmung 2017 sollte die Jurafrage endlich beantwortet sein. Doch der Fall liegt immer noch beim Verwaltungsgericht.
Von Michael Kuratli (Text) und Joan Minder (Bilder), 27.08.2019
Kein anderer Konflikt hat die moderne Schweiz derart herausgefordert wie der Unabhängigkeitskampf der Jurassierinnen. Und noch immer streiten die Leute im kleinen Städtchen Moutier darüber, ob sie nun bei Bern bleiben oder zum Jura wechseln sollen. Eine Abstimmung im Juni 2017 schien Klarheit zu schaffen, eine Mehrheit wollte zum Jura. Doch es gab Rekurse, seither liegt der Fall beim Verwaltungsgericht, das Warten auf den Entscheid dauert an.
Glaubt man den Separatisten, ist die alte Jurafrage aber ohnehin noch lange nicht beantwortet. Und hört man der jurassischen Regierung zu, merkt man, dass die Zugehörigkeit Moutiers auch eine existenzielle Frage für die Zukunft des Kantons ist. Eine Annäherung in drei Kapiteln.
I – Hochburg in Feindesland
Sonntag, 23. Juni, halb neun auf einem Parkplatz in Moutier. Ein paar Autos sind vor einer brutalistischen Kirche versammelt, die wie die zum Himmel gewandte Weiterführung der Asphaltfläche aussieht. Noch liegt das Städtchen zwischen zwei steilen Faltenwürfen der Jurakette ruhig im Schatten.
Hinter der einen Falte im Norden liegt die jurassische Hauptstadt Delémont, jenseits des Grenchenbergs im Süden die flache Ebene des auslaufenden Seelands vom bernischen Biel her. Tunnels für Auto- und Eisenbahnen durchstechen die Berge in nordsüdlicher Richtung. Doch Moutier ist nicht nur verkehrstechnisch der Zwischenhalt zwischen Biel und Delémont. Hier steht auch der politische Zug von Bern nach Jura seit Jahren zur Weiterfahrt bereit – oder wird blockiert, je nach Perspektive.
Die Gruppe auf dem Parkplatz hat ihren eigenen Fahrplan. Ginge es nach ihnen, wäre man schon lange angekommen. Auf ihren T-Shirts prangt die rot-weisse Flagge des Kantons Jura mit dem Baslerstab und den sieben Streifen. In der Morgenfrühe wartet man auf Gleichgesinnte. Nach und nach treffen mehr Menschen in Autos ein. In den Händen Fahnen, bedruckt mit dem Gemeindewappen Moutiers, und mehr Juraflaggen.
Flugblätter mit der Route machen die Runde. Es geht auf nach Saignelégier, wo der Kanton Jura sein 40-jähriges Bestehen feiert. Alle Schweizer Stände werden da sein, auch der Bundesrat – und Moutier. Um neun setzt sich der Autokorso in Bewegung, hupend und fahneschwingend weckt der Konvoi die Anwohner entlang des Wegs nach Norden.
Gespaltene Identität
Moutier ist so unspektakulär wie jedes beliebige Schweizer Provinzstädtchen. Ein kleiner historischer Kern mit Läden, die so aussehen, als würden sie seit 1970 denselben Mietzins bezahlen, ein paar Imbissbuden und Beizen in einst modernen Gebäuden, die auf mehr oder weniger urbane Art den Raum bis zum Bahnhof füllen. Weiter draussen Einfamilienhäuser und ein paar KMU-Betriebe in Wellblechklötzen.
Aber Moutier ist auch die Verkörperung des unschweizerischsten aller Konflikte in der Geschichte des modernen Bundesstaats. In diesem Städtchen formierte sich der jurassische Widerstand im 20. Jahrhundert. Von hier aus wurde die Jurafrage gestellt – und hier sollte sie vor zwei Jahren endgültig beantwortet werden. Doch der Showdown lässt noch immer auf sich warten.
Moutier ist das Zentrum der jurassischen Bewegung. Hier formierten sich die separatistischen Organisationen, die später zum Mouvement autonomiste jurassien (MAJ) verschmolzen. Hier entluden sich die gewaltsamsten Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei. In den Siebzigerjahren flogen Steine gegen die Berner Kantonspolizei, die Projurassier sprachen von einer militärischen Besetzung. Béliers (Widder, Projurassier) und Sangliers (Wildschweine, Proberner) gerieten immer wieder aneinander. Die Spaltung durchdrang den Alltag in Moutier.
Frankreich
Basel-Landschaft
Jura
Delémont
Glovelier
Belprahon
Saignelégier
Moutier
Solothurn
Courtelary
Bern
Neuenburg
Frankreich
BL
Jura
Delémont
Glovelier
Saignelégier
Belprahon
Moutier
Solothurn
Bern
Courtelary
Neuenburg
Beide Seiten hatten ihre Beizen, ihren Metzger, ihre Kirche. Trennlinien, die noch bis heute an der Beflaggung jeder Gaststätte sichtbar sind. Hier steht eine etwas heruntergekommene Berner Kantonalbank unweit der nagelneuen Banque Cantonale du Jura. Jurassische Fahnen zieren das Hôtel de Ville, den Sitz des Bürgermeisters, doch «BE» steht seit eh und je auf der Ortstafel. Die Hälfte der rund 7500 Einwohnerinnen will bei Bern bleiben, die andere gehen.
Moutier ist eine Insel im Berner Jura – oder Südjura, wie die Jurassier die französischsprachigen Gebiete Berns nennen. Überall sonst hält hier eine klare Mehrheit der Menschen Bern die Stange. Nur an Moutier entflammte die Diskussion um weitere Abstimmungen. Man sprach gar von der Gründung eines neuen Kantons, der den Norden mit dem Süden vereinen sollte. Schliesslich vereinbarte man vor allem wegen des Drucks aus Moutier neue Abstimmungen auf Bezirks- und Gemeindeebene. Urne um Urne wurde in den vergangenen Jahren gefüllt.
Eine Abstimmung mit Konsequenzen
Nach jahrzehntelangem Ringen schien das Städtchen am 18. Juni 2017 endlich die Antwort zu haben, auf die die Separatisten seit jeher hingearbeitet hatten: Mit einer knappen Mehrheit von 137 Stimmen entschied Moutier, zum Kanton Jura überzutreten. Endlich Ruhe. Endlich das Kriegsbeil begraben und die Jurafrage abhaken.
Doch Bern, die alte Herrschaft, liess sich das nicht so einfach gefallen. So scheint es zumindest in den Augen der Béliers.
Es hagelte Rekurse von Probernern gegen die Abstimmung. Die Vorwürfe gegen die Gemeindeverwaltung, den Bürgermeister Marcel Winistörfer und die eidgenössische Wahlbeobachtung reichten von Propaganda über Wahltourismus bis zu Fälschung.
Die undankbare Aufgabe, die Vorwürfe zu untersuchen, fiel Stéphanie Niederhauser zu. Die frisch gewählte Regierungsstatthalterin des Berner Jura übernahm das Dossier von ihrem Vorgänger und brütete mit ihrem juristischen Personal mehr als ein Jahr über den Akten.
Vergangenen November kam sie zum Schluss: Ja, Marcel Winistörfer, projurassischer Bürgermeister von Moutier und Lehrer, habe sein Amt und seine berufliche Stellung im Abstimmungskampf missbraucht.
In einer Kolumne auf dem Onlineportal der Gemeinde und mit Briefen an Eltern und Lehrerschaft versuchte er, die wirtschaftlichen Argumente der Berntreuen zu entkräften. Das örtliche Spital, die Tagesschule und die Pensionsleistungen seien im Kanton Jura keinesfalls gefährdet. In den Augen der ersten Rekursinstanz waren dies unlautere Methoden.
Ausserdem kritisierte Statthalterin Niederhauser das briefliche Stimmverfahren als unsichere Methode. Ein weiterer Punkt ihrer Begründung betraf sogar die eidgenössischen Wahlbeobachter. Da die Bewohner von Moutier sich bei der Stimmabgabe nicht identifizieren mussten, sei nicht sicher, ob alles mit rechten Dingen zu und her gegangen sei. Sprich: Das bei jeder Schweizer Abstimmung gängige Verfahren ist in den Augen Niederhausers trotz intensiver Beobachtungen durch alle politischen Instanzen zu unsicher für eine so sensible Abstimmung.
Mit ihrer Entscheidung schlug Niederhauser eine neue Seite im «letzten Kapitel» der Jurafrage auf.
Feinde wider Willen?
Über dem Sitz des Regierungsstatthalteramts in Courtelary prangt gross das Berner Wappen. Von diesem herrschaftlichen Schloss aus wird seit 2010 der gesamte Berner Jura verwaltet. Der Arbeitsort sei schön, meint Niederhauser, die zum Gespräch in der ehemaligen Vogtei empfängt, nur der WLAN-Empfang sei wegen der dicken Mauern schlecht. Niederhauser hat ein einladendes Lächeln auf dem Gesicht, auch wenn sie von unangenehmen Dingen spricht.
Vorab macht sie klar: Über die Details der Entscheidung und die Konsequenzen, die sie persönlich davon erfuhr, möchte sie nicht sprechen. Auf Facebook wurde ihr vorgeworfen, eine Vasallin der Berner Regierung zu sein, langjährige Bekannte hätten sich von ihr enttäuscht gezeigt. Die Angriffe auf ihre Person sind an der einzigen Frau in der Geschichte des männlich geprägten Unabhängigkeitskampfes nicht spurlos vorübergegangen. «Ich habe diese Aufmerksamkeit nicht gesucht. Ich bin keine Politikerin», sagt Niederhauser.
Ins Wanken gerät sie dennoch nicht: «Ich stehe zu meiner Entscheidung.» Wie zum Beweis, dass sie sich redlich mit der Sache auseinandergesetzt hat, zeigt sie auf die beiden Reihen Bundesordner in ihrem Regal – die Akten der Causa Moutier.
Niederhauser weiss, wie stark ihre Meinung in dieser Angelegenheit die Menschen beeinflussen könnte: «Die Jurafrage hat mich nie gekümmert», sagt sie. «Ich habe zwar eine Meinung, aber die ist hier nicht von Belang.» Hört man ihr zu, nimmt man Niederhauser ab, dass sie kein eigenes Interesse an ihrer Entscheidung hat.
Eine Frage des Misstrauens
Zurück am anderen Ende des Berner Juras, zwei Täler weiter. Ein Treffen mit dem Hauptbeschuldigten der statthalterlichen Untersuchung im Restaurant de la Gare, der Stammkneipe der Projurassier.
Moutiers Bürgermeister Marcel Winistörfer nimmt die Entscheidung Niederhausers nicht persönlich. Doch auch er glaubt wie alle Projurassier, dass sie alles andere als neutral gefällt worden sei. «Stéphanie Niederhauser war wenige Monate in ihrem Amt und ist keine Juristin. Sie stützt sich auf ein Team ab. Natürlich steht diese Entscheidung nicht im luftleeren Raum.» Der ältere Herr versprüht die Milde des Lehrers, der er ist. In Bezug auf den Jura ist sein Kampfgeist aber ungetrübt.
Den Vorwürfen, Propaganda betrieben zu haben, entgegnet der Bürgermeister mit einem Schulterzucken. «Ich bin gewählt worden, weil ich Projurassier bin. Wie alle meine Vorgänger seit 1986. Es ist ja klar, welche Meinung ich da vertrete.» Ebenso klar ist für Winistörfer: Die Entscheidung der ersten Instanz passt nur zu gut zum Verhalten, das Bern seit jeher an den Tag lege. «Dem alten Kanton sind bekanntlich alle Mittel recht, um eine Abspaltung Moutiers zu verhindern.»
Winistörfer spricht damit das Lieblingsargument der Separatisten an. Wenige Jahre nach der Abstimmung zur Kantonsschaffung 1974 wurde öffentlich, dass Bern schwarze Kassen unterhielt, die die Proberner finanzierten. Der Skandal befeuerte die Jurafrage erneut, brachte Moutier Strassenschlachten und Tränengas ein und ist einer der Gründe dafür, dass der Streit bis in die Gegenwart andauert.
War die Entscheidung Niederhausers also auch politisch gesteuert? Eine neue Schikane der alten Vögte? Oder hat sie mit ihrem Verdikt recht und die quengelnden Jurafreunde haben tatsächlich die Gunst der Stunde missbraucht? Muss deshalb die Abstimmung wiederholt werden? Der Fall liegt zurzeit beim Berner Verwaltungsgericht, das diesen Sommer entscheiden will.
Egal wie das Gericht entscheidet, die Verlierer werden nicht ruhen, bis alle Instanzen in der Frage ausgereizt sind. Sagt das Verwaltungsgericht, dass die Abstimmung rechtens war, und hebt es damit die Entscheidung Niederhausers auf, werden die Proberner das Urteil ans Bundesgericht weiterziehen. Stützt es Niederhausers Annullation, werden die Gemeindeverwaltung und der Bürgermeister von Moutier nach Lausanne ziehen. Die Stadt wird derweil weiterhin auf die Folter gespannt.
II – Jurafrage und -antworten
Durch die Gorges schlängelt sich der Korso auf der Kantonsstrasse nach Norden. Das Hupen hallt von den steilen Kalksteinwänden wider. Irgendwo hier im Gebirge fängt der Kanton Jura an. Kurz vor der Hauptstadt, bei der Einfahrt Delémont-Est, setzen die Wagen auf die A16 – die Transjurane – über. Die Fahnen werden eingezogen, die Kolonne fährt brav auf der rechten Spur in Einerreihe über die neue Autobahn, den ganzen Stolz der jurassischen Regierung.
Dreizehn Kilometer später lassen die Jurassierinnen mit den Berner Nummernschildern die Fenster wieder runter und die Fahnen wieder fliegen. Über die erhabene Landschaft mit den weissen, breitgezogenen Bauernhäusern geht es von Glovelier weiter bis zur stolzen Einfahrt in Saignelégier. Moutier ist im Jura angekommen – oder zumindest an der 40-Jahr-Feier des Kantons.
Die Béliers packen ihren symbolträchtigen Rammbock mit dem Widderkopf aus, auf Transparenten prangen die Forderungen «Hände weg von Moutier» und «Cochlea, vade retro in domum tuam» – Schnecke, geh zurück in dein Haus. Gemeint sind natürlich die Berner. Die Jungen zeigen sich empört über die Entscheidung von Regierungsstatthalterin Niederhauser. «Wir erwarten, dass die Berner Moutier endlich gehen lassen. Die Argumente für die Annullation sind lächerlich», sagen Anwesende. Mit der Abstimmung über den Kantonswechsel kam frischer Wind in die Separatistenbewegung. Gerade die Mobilisierung der Jungen soll den Ausschlag für ein Ja gegeben haben.
Die jungen Separatisten in Saignelégier müssen los. Der Marsch zum knapp fünfhundert Meter entfernten Festplatz setzt sich in Bewegung. «Ce n’est qu’un début, continuons le combat», skandiert der Umzug und «Liberons Belprahon».
Gewalt und Gegengewalt
Nicht immer beschränkten sich die Separatisten auf Parolen. Die zweifache Entführung des Unspunnensteins, gewalttätige Auseinandersetzungen der verfeindeten Lager mit Polizeieinsätzen, die Explosion einer Autobombe in der Berner Innenstadt, mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge und die Besetzungen von Botschaften brachten die Schweiz in den Sechzigerjahren an den Rande eines Bürgerkriegs.
Nur: Weshalb das ganze Aufhebens? In der Schweiz ist die Staatsgewalt doch schön föderalistisch auf Regionen verteilt.
Die Jurassier sehen das anders. Mehr als zweihundert Jahre lang wurde in ihren Augen über ihre Köpfe hinweg bestimmt. Am Wiener Kongress 1815 fällten die Siegermächte über Napoleon weitreichende Entscheidungen über die Neuordnung der Völker Europas. Grenzen wurden über den Kontinent hinweg neu gezogen, auch in der Schweiz. Der Kanton Aargau blieb als Puffer zwischen Zürich und Bern erhalten, die Waadt, das ehemalige Berner Untertanengebiet, durfte seine unter französischer Herrschaft gewonnene Unabhängigkeit behalten.
Nur der Jura, zuvor Teil des Fürstbistums Basel, wurde neu unter Berner Herrschaft gestellt. Glücklich waren die Jurassier darüber nicht. Der Konflikt zwischen der deutschsprachigen Mehr- und der französischsprachigen Minderheit war programmiert und rumorte bereits im 19. Jahrhundert vor sich hin.
«Der Jura war eine Art Kolonie Berns», sagt Alain Charpilloz, Autor des Buchs «Jura irlandisé» («Ir(r)land Jura: Südjurassier im Konflikt»). Charpilloz ist der Chronist des Mouvement autonomiste jurassien MAJ. Es ist der heutige Kern des jurassischen Separatismus, entstanden aus früheren Bewegungen. Charpilloz’ Vater war Gründungspräsident des einstigen Rassemblement jurassien (RJ), dem späteren MAJ. «Für Bern war der Jura eine nützliche Provinz, die man langsam mit der überzähligen Bevölkerung aus dem Simmental und anderen Gegenden bevölkern und damit germanisieren konnte», sagt Charpilloz.
Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung vor allem im heutigen Berner Jura stieg damals stetig. In vielen Gemeinden des Berner Jura stellte sie bald die Mehrheit. Deutschsprachige Schulen und Kirchen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts systematisch gegründet. Die Katholiken, vor allem im nördlichen Jura heimisch, waren in den Augen des reformierten Berns problematische Bürger.
1947 gab schliesslich die Affäre Möckli den Anstoss für den aktiven Widerstand. Der Berner Grosse Rat hatte sich damals geweigert, dem französischsprachigen Regierungsrat Georges Möckli die Bau- und Eisenbahndirektion zu übertragen. Mit der Begründung, dass man ein derart wichtiges politisches Amt nicht einem Welschen überlassen könne. Wenn es drauf ankam, zeigte die unliebsame Herrschaft ihr wahres Gesicht. So sahen es zumindest die Jurassier. Die Affäre wurde zum Anstoss der Forderung eines eigenen Kantons und der Gründung des Rassemblement jurassien.
Weniger als dreissig Jahre nach der Gründung des RJ trugen die Rebellen den Sieg davon. Bern räumte Anfangs Siebzigerjahre den jurassischen Bezirken das Recht ein, über ihre Kantonszugehörigkeit selbst zu bestimmen.
Das taten sie und 1974 entschieden sich die drei nördlichen für die Gründung des Kantons Jura. Die drei übrigen Bezirke – La Neuveville, Courtelary und Moutier – stimmten dafür, beim Kanton Bern zu bleiben.
Nachdem die Schweizer Stimmbevölkerung 1978 grünes Licht für den neuen Kanton gegeben hatte, erfolgte ein Jahr später die feierliche Aufnahme des neuen Mitglieds in die Eidgenossenschaft. Der jüngste Kanton war geboren – auch wenn er nur halb so gross war, wie sich die Separatisten das vorgestellt hatten. Ein Teilsieg, aber das Rassemblement kämpfte weiter für seinen vereinten Jura.
Kampf ohne Ende
Das heutige MAJ hat seinen Sitz in Moutier, gleich neben dem Restaurant de la Gare. Ausgerechnet in der Gemeinde, die zusammen mit dem gleichnamigen Bezirk dazu bestimmt war, bei Bern zu bleiben. Auch hier sind die Wände voll mit Bundesordnern. «Caisses noires» steht auf manchen Rücken, schwarze Kassen. Jede Wendung im jahrzehntealten Konflikt ist hier minutiös festgehalten.
Vereint ist die Führungsriege zum Gespräch erschienen: Buchautor Charpilloz, Präsident Laurent Coste und Generalsekretär Pierre-André Comte sind Veteranen im Kampf um einen freien Jura und erzählen anekdotenhaft aus dem langjährigen Widerstand. Natürlich waren sie schon als Junge beim Plebiszit, der Abstimmung zur Kantonsgründung 1974, dabei. In den Jahren darauf schmissen sie auf dem Platz vor dem Bahnhof Pflastersteine gegen Polizisten, als der Skandal um die heimliche Finanzierung der Proberner durch die Regierung publik wurde.
Die drei pensionierten Herren stehen in den Fussstapfen der jurassischen Volkshelden Roland Béguelin und Roger Schaffter. Sie tragen das Erbe der kantonsgründenden Generation vor ihnen weiter.
Obwohl die Jurafrage vor allem ein politischer Kampf ist, überlässt das «Mouvement» konkrete politische Forderungen den einzelnen Parteien. Der Frage, welchen Vorteil Moutier mit dem Anschluss an den Kanton Jura hätte, weicht Präsident Coste aus. «Unsere Aufgabe in der Abstimmung war es, den Leuten zu sagen, dass sie keine Angst haben müssen. Dass sie ihrem Gefühl folgen sollen», sagt er. Die Zugehörigkeit zum Jura sei eine Herzensangelegenheit, eine Identitäts- und Zugehörigkeitsfrage. Es ist etwas, das man dans les trippes spüre, ein Bauchgefühl.
Die militante Symbolik überlassen die drei gesetzten Herren der jüngeren Generation: Noch immer ist die Jugendorganisation Groupe Bélier mit ihrem Rammbock ein wichtiges Symbol für den Kampf der Jurassier, auch wenn sie der Gewalt längst abgeschworen hat.
Von ihren ursprünglichen Forderungen sind die jungen Separatisten keinen Zentimeter abgerückt. Noch immer fordern sie die «Befreiung» von Gemeinden wie Belprahon. Obwohl sich das kleine Nachbardorf drei Monate nach Moutiers Bekenntnis zum Jura für den Verbleib bei Bern entschieden hat. Der Kern der Bewegten wird kaum Ruhe geben, bis der Berner Jura mit dem neuen Kanton vereint ist.
Eine Forderung, die angesichts der haushohen Mehrheiten zum Verbleib bei Bern in allen Gemeinden des Berner Jura mit Ausnahme von Moutier seit Jahrzehnten unrealistisch ist. Das wissen auch die drei Herren vom «Mouvement». «Aus institutioneller Sicht können wir nicht mehr fordern, dass Gemeinden wie Saint-Imier sich dem Kanton Jura anschliessen», sagt Coste. «Die Separatisten in den bernjurassischen Gemeinden müssen nun für sich selbst einstehen.»
Für die Veteranen im Kampf ist die Jurafrage damit abgeschlossen – vorerst. Denn an der grossen Idee, den Nord- und Südjura eines Tages zu vereinigen, will das MAJ festhalten. Für jemanden, der den Jura als ehemalige Kolonie Berns sieht, ist das einleuchtend. Und mit der Forderung nach der (Wieder-)Vereinigung sichert sich die Bewegung in Zukunft ihre eigene Existenzberechtigung. In der Hoffnung, dass eine jüngere Generation den Kampf eines Tages weiterführt.
Nach Moutier ist also erst einmal Ruhe. Doch in der Geschichte des jurassischen Separatismus könnten eines Tages noch weitere Kapitel erzählt werden.
III – Ein Kanton sucht den Anschluss
Der Fahnenzug nähert sich einem Feldweg entlang dem Festgelände. Hin und wieder wird die «Rauracienne» angestimmt, die jurassische Hymne. Auf dem Festplatz vor der Halle du Marché warten schon die Delegierten der Kantone. Die Regierungsvertretungen sind mit ihren feingewandeten und mit den Emblemen der Stände geschmückten Weibeln gekommen. Sogar eine Berner Delegation hatte sich angemeldet, verzichtete dann aber in Absprache mit den Sicherheitskräften auf eine Teilnahme.
Die Angst vor Ausschreitungen herrscht noch immer vor. Gewichtig setzen sich denn auch die Béliers mit dem Rammbock vor der Gesellschaft in Szene, später rufen sie ihre Forderung nach einem freien Moutier mit dem Megafon vom Dach der Halle und rollen rebellisch ein Transparent aus: «Liberté pour Moutier!». Eine Forderung, die auf dem Platz viel Sympathie geniesst.
Die Sonne brennt auf die Köpfe des locker gestreuten Publikums, unter anderem auf die Glatze von Bundesrat Alain Berset. Auf der Bühne wechseln sich die durchs Band männlichen Redner am Mikrofon ab. Lobeshymnen auf die typisch schweizerische, demokratische Lösungsfindung werden angestimmt, und dem Kampfgeist der befreiten Jurassier wird gehuldigt. Und immer wieder blitzt bei den Rednern selbst die resolute Haltung von Revolutionären auf, sobald von Moutier die Rede ist.
«Die Grenzen des Jura sind noch immer nicht definitiv», sagt Jacques Gerber, Regierungspräsident des Kantons Jura. Sofort wird er von einem Sprechchor aus dem Publikum unterbrochen. «Moutier au Jura!», rufen die Zuhörerinnen. «Wir können es kaum erwarten, dass Moutier endlich zu uns stösst und den Kanton aktiv mitgestaltet», proklamiert Gerber. Im Publikum schreibt sich bei dieser Gelegenheit Berset eine Anmerkung in seine Notizen.
«Wir können es auch kaum erwarten, Herr Regierungspräsident», antwortet Berset im Anschluss an Gerber bei seinem eigenen Auftritt. Doch der Bundesrat möchte nur, dass Klarheit herrscht. Wie die gespaltene Gemeinde entscheidet, kann Bundesbern egal sein. «Man wünscht sich, eines Tages Woody Allen zitieren zu können», sagt Berset: «Die Antwort ist Ja. Aber was war die Frage?»
Neuer Kanton, neue Fragen
Wer einen Kanton gründet, wirft mehr Fragen auf, als Antworten parat sind. Vierzig Jahre nach der Aufnahme des neuen Mitglieds in der Eidgenossenschaft ist es Zeit, Bilanz zum Experiment Jura zu ziehen. Hat sich – polemisch gesagt – der neue Kanton gelohnt?
Regierungspräsident Jacques Gerber und Finanzdirektor Charles Juillard geben Antworten in einem schlichten Büroblock gleich neben dem Bahnhof von Delémont.
«Ohne die Eigenständigkeit gäbe es keine Autobahn durch den Jura, keinen Anschluss an den TGV und wir würden heute nicht ein Theater in Delémont bauen», sagt Jacques Gerber. Tatsächlich hat der Jura in den vergangenen vierzig Jahren einiges an Infrastruktur realisiert. Darauf hätte die Region unter Berner Herrschaft lange warten können.
Man kann die A16 auch als späte Genugtuung für die Affäre Möckli lesen. Der Jura bekam auf lange Sicht eine Autobahn als Ausgleich für die ihm damals verwehrte Bau- und Eisenbahndirektion in der Berner Regierung. Das letzte Teilstück der «politischen Autobahn», wie sie Verkehrsminister Moritz Leuenberger einst nannte, wurde vor drei Jahren eingeweiht.
Doch der Verkehrsanschluss an die Restschweiz löst noch längst nicht alle Probleme des Kantons. In die Wirtschaftskrise hineingeboren, machte der Jura seit der Gründung keine grossen Sprünge. Seit der Etablierung des kantonalen Finanzausgleichs ist der Jura Nettoempfänger und rangiert stets als ärmster Kanton des Landes. Warum hat der Jura nicht wie andere vormals arme Kantone – etwa Zug oder Obwalden – den finanziellen Aufstieg geschafft?
«Es können halt nicht alle schummeln», sagt Gerber. Juillard, der die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren präsidiert, wirft ein, dass man nicht von schummeln sprechen sollte. «Nein, schummeln ist das falsche Wort», korrigiert sich Gerber. «Aber wenn alle schwarzfahren, rentiert die Bahn ja irgendwann auch nicht mehr.»
Der Jura wollte also beim Steuerwettbewerb aus moralischen Gründen nicht mitmachen. Schliesslich beheimatet der Kanton ja auch bereits einiges an Industrie. Die zahlungskräftige British American Tabacco dreht hier etwa die Parisiennes fürs Land. Zahlreiche KMUs beliefern die Uhrenindustrie der Romandie. Doch der Kanton leidet an seiner Abhängigkeit von Industrie und Gewerbe. Bricht die Wirtschaft ein, spürt es der Jura als Erstes. Viele Perspektiven für gut ausgebildete Junge gibt es nicht. Über die Jahrzehnte kehrte zu viel Nachwuchs dem Kanton den Rücken und suchte anderswo Arbeit.
Bescheidenes Wachstum?
Hoffnung setzen Gerber und Juillard in die neu gefundene Verbindung über den Röstigraben hinweg. Im Herbst wird in Delémont ein Innovationspark in Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt eröffnet. Hier sollen die im Jura starke Mikroelektronik mit der Pharmaindustrie in neuen Start-ups im Bereich der «Life Sciences» verheiratet werden. Als Zeichen der guten Nachbarschaft schenkte die Stadt Basel dem Kanton ausserdem 300’000 Franken für die Projektierung des «Théâtre du Jura», das zurzeit in Delémont gebaut wird.
«Die Nähe zu Basel ist nicht neu», sagt Juillard. Er bezieht sich auf die Zeit vor dem Wiener Kongress, als der Jura noch zum Fürstbistum Basel gehörte. «Kulturell steht man sich allein deswegen schon sehr nahe. Und geografisch. Die Sprachbarriere ist aber nicht zu unterschätzen.»
Der Jura sucht angestrengt den Ausweg aus der Peripherie. Und natürlich will er auch wachsen. Juillard gibt sich optimistisch, was die Zukunft angeht. «In zehn Jahren ist der Jura ein hypermoderner, hyperverbundener Kanton mit 10’000 Einwohnern mehr.» Allerdings relativiert er mit einem Augenzwinkern: «Aber wir bleiben bescheiden. Schliesslich sind da die 7500 Einwohner von Moutier schon mit einberechnet.»
Die jurassische Regierung macht aus ihrer Haltung bezüglich Moutier keinen Hehl. Die Annullierung der Abstimmung sieht auch sie klar politisch motiviert. Und allmählich wird klar: Der Kampf um Moutier ist nicht nur eine Frage der Identität und des Bauchgefühls. Für den Jura und Moutier ist die Kantonszugehörigkeit der gespaltenen Gemeinde zwischen den Falten der Kalksteinberge auch eine existenzielle Frage. Denn Moutier wäre nach dem Hauptort Delémont der zweitgrösste Ort im Kanton.
Während Bern ein Dorf verlöre, gewänne Jura eine Stadt. Und damit die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.