Film

Wenn Hollywood seinen Estrich entrümpelt

Orson Welles starb, bevor sein letztes Werk fertig war. Nun ist es doch noch erschienen. Andere Streifen wurden bereits vor Drehbeginn eingemottet. Über Auferweckte, Untote und Filme, die zu Recht in Frieden ruhen.

Von Simon Spiegel, 24.08.2019

Teilen4 Beiträge4
Ein Zitat seiner selbst: Filmregisseur John Huston in der Rolle als Filmregisseur Jake Hannaford in «The Other Side of the Wind» von Orson Welles. Netflix

Die Produktion eines Films ist eine aufwendige Angelegenheit, die auch im besten Fall gern zwei, drei Jahre dauern kann. Dass ein Werk erst nach über vierzig Jahren fertig­gestellt wird, ist aber auch im Filmgewerbe die Ausnahme. So geschehen bei «The Other Side of the Wind», Orson Welles’ letztem Film, der dieses Jahr endlich seine Premiere feiern konnte.

Während Jahrzehnten war «The Other Side of the Wind» für Cineasten eine Mischung aus Heiligem Gral und Yeti. Einerseits ein sagen­umwobenes Ding, zu dem zahlreiche Legenden kursierten, das immer mal wieder kurz gesichtet wurde, von dem aber nie ganz sicher war, ob es wirklich existierte. Andererseits – falls es tatsächlich existieren sollte – ganz ohne Zweifel das formal avancierteste und überhaupt genialste Werk aller Zeiten. Immer wieder gab es Versuche, den Film doch noch fertig­zustellen, immer wieder war davon die Rede, dass es bald endlich vorwärts­gehen würde. Und dann geschah: nichts.

Es ging bei «The Other Side of the Wind» allerdings nicht nur darum, einem mehr oder weniger vollständigen Film noch den letzten Schliff zu verpassen. Welles, der notorisch mit Geld­problemen zu kämpfen hatte, war im Laufe seiner Karriere immer mehr zu einem Arbeits­modus übergegangen, der eher an einen Theater­workshop als an eine professionelle Filmproduktion erinnerte. Anstatt erst die Finanzierung zu sichern und dann den Film am Stück zu drehen, arbeitete er über Jahre hinweg immer nur dann an seinem Projekt, wenn gerade Leute respektive Geld zur Verfügung standen. Eine feste Crew gab es ebenso wenig wie ein definitives Drehbuch. Am Set wurde permanent improvisiert, zahlreiche Rollen mussten im Laufe der Zeit ersetzt werden. Das Ergebnis: rund 45 Minuten Film, die Welles noch zu Lebzeiten geschnitten hatte, dazu noch einmal knapp 100 Stunden belichtetes Material sowie viele Notizen. Aber kein klarer Plan, wie das alles zusammen­gefügt werden sollte.

Eine ständige work in progress

Für Welles war dieser Improvisations­stil nicht neu. Seine «Othello»-Verfilmung, mit der er 1952 den Hauptpreis in Cannes gewann, hatte er auf ähnliche Weise gedreht, ebenso den gut 20 Jahre später entstandenen Filmessay «F For Fake». In beiden Fällen zwang Welles Unmengen von Material erst beim Schnitt zusammen. Aufnahmen wurden verschmolzen, deren Entstehung teilweise Jahre und Kontinente auseinanderlag. In «Othello» gibt es Szenen, in denen Welles in der Titelrolle einen Raum durchschreitet und dabei zwischen den jeweiligen Einstellungen im richtigen Leben jeweils einen Ozean überquert hatte. Wann immer man eine Figur nur von hinten sieht, kann man davon ausgehen, dass der jeweilige Schau­spieler an diesem Tag nicht verfügbar und deshalb durch ein Double ersetzt worden war.

Was ihm bei «Othello» noch gelang – der Triumph des Schnitts über die Widrigkeiten der realen Produktions­bedingungen –, war Welles bei «The Other Side of the Wind» nicht mehr möglich. Ein Grund lag darin, dass einer seiner ursprünglichen Geldgeber eng mit der Familie des Schahs von Persien verbandelt war, was nach der Iranischen Revolution zu langwierigen Rechts­streitigkeiten führte.

Dass Welles zudem auf ganz unterschiedlichen Materialien drehte, Teile davon in schlechtem Zustand waren und die Tonaufnahmen über weite Strecken unbrauchbar, machte die Sache nicht einfacher. Doch nach vielen Anläufen und einer nur mässig erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne ist nun Netflix eingesprungen. Mit dem Geld des Streaming­dienstes wurde der Film nun tatsächlich fertiggeschnitten.

Zusammengestutzte Filme

Es gibt neben dem Kinofilm keine andere Kunstform, in der unvollendete Werke eine derart wichtige Rolle spielen. In der Filmgeschichte wimmelt es von berühmten Werken, die nicht zustande gekommen sind oder nur in verstümmelter Form das Licht der Leinwand erblickten. Fritz Langs Grossstadt-Dystopie «Metropolis» wurde nach der Premiere 1927 massiv zusammen­geschnitten, Sergei Eisenstein hatte immer wieder Zusammen­stösse mit der sowjetischen Zensur, und William Friedkin musste seinen im Schwulen­milieu von New York angesiedelten Thriller «Cruising» um über eine halbe Stunde kürzen, um dem von den Studios gefürchteten X-Rating zu entgehen, der eingeschränkten Altersfreigabe.

Sorgen um die Altersfreigabe: Al Pacino in «Cruising» von William Friedkin. Picture-Alliance/Keystone

Die grosse Anzahl zusammen­gestutzter und halbfertiger Filme kommt unter anderem daher, dass ein Film nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein kommerzielles Produkt ist. Ein Produkt, an dessen Fertig­stellung viele Leute beteiligt sind und bei dem sich somit viele Akteure einmischen können.

Vor allem aber ist die Herstellung von Filmen sehr teuer. Ein Schriftsteller, Maler oder Komponist kann sein Opus zur Not auch einsam und ohne jede Unter­stützung beenden. Das ist beim Kino anders. Filmemacher können Jahre mit der Arbeit am Drehbuch, mit dem Casting, mit der Suche nach geeigneten Schau­plätzen und – mit Abstand am zeitraubendsten – von Finanzierungs­quellen verbringen, ohne je auch nur ein einziges Bild zu belichten.

Regisseure denken sich regelmässig die verrücktesten Dinge aus, ohne dass diese je greifbar würden. Kaum ein grosser Regisseur, in dessen Œuvre nicht ein Film auftaucht, an dem er jahrelang vergeblich gearbeitet hat.

Schlachtenszenen mit Zehn­tausenden von Statisten

Stanley Kubrick etwa wollte Ende der 1960er-Jahre den Erfolg des Weltraum­epos «2001: A Space Odyssey», seines bis dahin mit Abstand aufwendigsten Films, mit einem Historien­drama über das Leben Napoleons noch einmal überbieten. Die Vorproduktion war bereits weit fortgeschritten: Kubrick, ein obsessiver Planer und Sammler, hatte die gesamte verfügbare Literatur zu Napoleon gelesen, ein riesiges Archiv von zeitgenössischen Gemälden zusammen­getragen und einen Zettel­kasten angelegt, in dem jeder Tag im Leben des Generals und späteren Kaisers vermerkt war. Es gab Abmachungen mit der rumänischen Armee – der letzten in Europa, die noch eine Kavallerie hatte – für den Einsatz von Zehn­tausenden von Soldaten in den Schlachten­szenen. Alles schien bereit, doch dann zog Kubricks Studio MGM den Stecker. Der Regisseur musste sich ein neues Projekt suchen: In für seine Verhältnisse ungewöhnlich kurzer Zeit realisierte er den raben­schwarzen Film «A Clockwork Orange».

Wenige Jahre später scheiterte Alejandro Jodorowsky mit einem noch wahnwitzigeren Vorhaben: Für seine Verfilmung von Frank Herberts «Dune», einem Klassiker der epischen Science-Fiction, versammelte er den vielleicht extravagantesten Cast der Filmgeschichte. Als Schauspieler waren unter anderem Mick Jagger, Orson Welles und Salvador Dalí vorgesehen, für die Musik sollten Pink Floyd sorgen. Um die Hauptrolle zu spielen, absolvierte Jodorowskys Sohn Brontis während zweier Jahre ein rigoroses Kampf­training. Zu Beginn hatte der Regisseur die Rücken­deckung seines französischen Produzenten, doch als es Ernst wurde, zogen sich die Geldgeber zurück.

Das Genre des Unmaking-of

Berichte über das Scheitern von Gross­projekten wie «Napoleon» oder «Dune» bilden mittlerweile ein eigenes Genre in der filmischen Sekundär­literatur. Zu Kubricks «Napoleon» hat der Taschen-Verlag einen 800-Seiten-Wälzer herausgebracht, der das Nicht­entstehen des Films dokumentiert, und die Geschichte von «Dune» wurde im Dokumentar­film «Jodorowsky’s Dune» ausführlich aufgearbeitet. In die gleiche Kategorie gehört auch «Lost in La Mancha» über Terry Gilliams gescheiterten Versuch, «Don Quijote» zu adaptieren.

Der Reiz solcher gescheiterter Grossprojekte liegt nicht nur in ihrer Tragik, sondern auch in der klaren Rollen­verteilung. Auf der einen Seite der visionäre Künstler mit seinen grandiosen Ideen; auf der anderen Seite die Geldsäcke, die sich nur dafür interessieren, dass am Ende die Bilanz stimmt.

Die Faszination für die zahlreichen gescheiterten und abgewürgten Filme nährt sich aber auch aus der Selbst­verständlichkeit der Vorstellung, dass der Regisseur – nur selten die Regisseurin – das kreative Zentrum eines Films bildet. Über die Schwierigkeiten einer Drehbuch­autorin, eines Kamera­manns oder selbst eines Produzenten, die eigenen Ideen umzusetzen, erfahren wir nur selten etwas. Heute gilt es als ausgemacht, dass die Regie ausschlag­gebend für das Erscheinen eines Films ist. Doch dem war nicht immer so.

Vom Handwerker zum Autor

Das Studio­system von Hollywood, das sich Ende der 1910er-Jahre heraus­bildete, war eine arbeits­teilige Industrie, in der Spezialisten klar definierte Aufgaben erledigten. Der Regisseur war wie der Drehbuch­autor oder der Kamera­mann ein Handwerker, der nach Drehschluss nur noch wenig Einfluss auf die fertige Form des Films hatte.

Dies änderte sich erst, als in den 1950er-Jahren die Filmkritiker der französischen «Cahiers du cinéma» – allen voran André Bazin und François Truffaut – unter dem Stichwort der politique des auteurs eine Abkehr vom etablierten französischen Film forderten. Nicht mehr das Drehbuch sollte für die Qualität eines Films ausschlag­gebend sein. Sie verstanden den Film vielmehr als persönlichen Ausdruck des Regisseurs, wodurch dieser im Gegenzug zur alle anderen überragenden Instanz im Produktions­prozess aufstieg. Die Regisseure der Nouvelle Vague setzten diese Forderung dann konkret um. Eines ihrer grossen Vorbilder, gewisser­massen der Schutz­heilige aller Autoren­regisseure, war niemand anderer als Orson Welles, der in seinem ersten Film «Citizen Kane» vollkommene Freiheit genossen hatte und eines der unbestrittenen Meister­werke der Filmgeschichte schuf.

Permanente Improvisationen: Orson Welles filmt selbst bei «The Other Side of the Wind». Netflix/Imago Images

Unter dem Begriff der auteur theory machte dieses Konzept etwas zeitversetzt dann in den USA Karriere. Das Hollywood­kino der späten 1960er- und 1970er-Jahre, die Filme von Martin Scorsese und Francis Ford Coppola, aber auch der jüngeren Steven Spielberg und George Lucas sowie all ihrer Nachfolger sind ohne diesen grundlegend veränderten Status des Regisseurs nicht zu verstehen.

Und heute? Steht unser Verständnis von Film noch immer ganz im Zeichen der politique des auteurs. Die Anziehungs­kraft, die von verunstalteten oder nie gedrehten Filmen ausgeht, ist nur dadurch erklärbar. Die unausgesprochene Prämisse ist jeweils, dass hinter jedem Film ein genialer Künstler steht, dessen Vision möglichst getreu umzusetzen ist.

Mit der Realität einer Filmproduktion hat das zwar nur wenig zu tun, aber die Filmindustrie nährt diesen Mythos gerne. Nicht zuletzt seit man erkannt hat, dass sich auf dem DVD- und Blu-Ray-Markt noch einmal kräftig Kasse machen lässt, wenn man alle paar Jahre einen Director’s Cut oder eine Extended Special Edition eines Films nachreicht. Mitunter nimmt diese Masche groteske Züge an. So enthielt die Blu-Ray-Box von «Blade Runner», die 2012 anlässlich des 30. Geburtstags des Films erschien, nicht weniger als fünf verschiedene Fassungen, darunter ausser dem sogenannten Director’s Cut von 1992, an dessen Herstellung Regisseur Ridley Scott gar nicht beteiligt war, auch einen Final Cut von 2007, der nun angeblich genau dem entspricht, was Scott schon immer vorgeschwebt war.

Überholte Vorstellungen

Hier wird eine reichlich antiquierte Vorstellung vom Wesen des Kunstwerks sichtbar. Dieses erscheint nicht nur als ganz persönlicher Ausdruck des Künstlers oder der Künstlerin, sondern auch als für alle Zeiten fixierbar – mag es manchmal auch mehrerer Anläufe bedürfen. Der Director’s Cut wird zur ewig gültigen Version erklärt. Dabei werden Filme von einem Team gemacht, und obwohl dem Regisseur dabei eine wichtige Rolle zukommt, bedeutet das nicht, dass er zwangsläufig immer recht hat. Möglicher­weise wurde das eine oder andere vermeintliche Meister­werk mit gutem Grund nicht gedreht.

Man nehme das Beispiel von «Dune». Die Leidenschaft, mit der der damals über 80-jährige Jodorowsky noch immer über Film spricht, steckt an, und das Storyboard des Comic­zeichners Jean Giraud – der später gemeinsam mit Jodorowsky den grandiosen Comic «John Difool» schuf – würde man gerne in einer schönen Hardcover-Version kaufen.

Doch wenn der Regisseur davon spricht, dass sein Film eine Laufzeit von 14 Stunden gehabt hätte und er Salvador Dalí eine Minuten­gage von 100’000 Dollar zugesagt hatte, kommen doch ernsthafte Zweifel an dem Vorhaben auf. Schaut man sich dann noch «El Topo» und «Montaña Sacra» an, die Filme, die der Chilene vor dem «Dune»-Projekt realisiert hat, fragt man sich nur noch, wie sich je ein Geldgeber auf dieses Unter­fangen einlassen konnte. Es sind Werke, bei deren Beschreibung Filmkritiker gerne auf Adjektive wie «experimentell», «psychedelisch» oder «traumartig» zurück­greifen; als Zeitdokumente interessant, als Filme aber hart an der Grenze zur Geniessbarkeit.

Taifun und Herzinfarkt

Manchmal ist es vielleicht besser, wenn eine verrückte Idee eine verrückte Idee bleibt. Und manchmal erweist sich der Entscheid, einen Film massiv zu kürzen, im Nachhinein als richtig.

Beispielsweise im Fall von «Apocalypse Now». Francis Ford Coppolas monumentaler Vietnam­film gehört zu den irrsinnigsten Vorhaben der Filmgeschichte: Nach einem Dreh auf den Philippinen, in dessen Verlauf das Set von einem Taifun verwüstet wurde, Haupt­darsteller Martin Sheen einen Herzinfarkt erlitt und die Kosten völlig aus dem Ruder liefen, sowie einer endlosen Schnitt­phase kam der Film 1979 schliesslich ins Kino und galt praktisch sofort als moderner Klassiker.

Doch schon früh machte das Gerücht die Runde, dass verschiedene Schnitt­fassungen existierten und dem Publikum Entscheidendes vorenthalten werde. Dieses Gerücht wurde zur Gewissheit, als 1991 der Dokumentar­film «Hearts of Darkness» erschien, der Einblicke in die chaotische Produktion gab. Hier bekam das Publikum erstmals Ausschnitte der sagen­umwobenen «French Plantation Sequence» zu Gesicht, einer rund halbstündigen Sequenz, die Coppola unter grossem Aufwand gedreht hatte, aber nicht in den Film aufnahm, weil sie seiner Ansicht nach nicht zum Rest passte.

Kein Platz in der ersten Version: Die Szene «French Plantation Sequence» mit Martin Sheen (Captain Willard) und Aurore Clément (Roxanne Sarrault) fand erst in der Redux-Version von «Apocalypse Now» Aufnahme. United Archives/Keystone

2001 änderte Coppola seine Meinung und veröffentlichte eine neue Fassung. «Apocalypse Now Redux» war fast 50 Minuten länger und enthielt nun die «French Plantation Sequence». Und siehe da: Der Regisseur hatte mit seiner ursprünglichen Einschätzung vollkommen recht. «Redux» ist zu lang, fliesst deutlich weniger gut, und insbesondere der zweite Teil der «French Plantation Sequence» ist schlicht und einfach übler Kitsch.

Orsons letzter Zaubertrick

Doch was ist nun mit «The Other Side of the Wind», jenem Film, auf dessen Vollendung die Filmwelt seit geschlagenen vierzig Jahren wartet? Ist es möglich zu rekonstruieren, was Welles vorschwebte? Hatte er selber eine klare Vorstellung davon, wie der Film einmal aussehen sollte? Ja, wollte er diesen überhaupt fertigstellen, oder war die Endlos­produktion nur der letzte grosse Zauber­trick des begnadeten Selbst­darstellers und Illusionisten?

Netflix hat parallel zu «The Other Side of the Wind» ein ausführliches Making-of veröffentlicht, das die zahlreichen Probleme beleuchtet, die das Team um Produzent Frank Marshall zu bewältigen hatte. Der kleine Film enthält eine vielsagende Szene: Marshall schaut sich mit seinen engsten Mitarbeitern die Sequenzen an, die Welles mehr oder weniger fertig geschnitten hatte, und die Gesichter der Beteiligten sprechen Bände. Es herrscht völlige Ratlosigkeit. Der Kommentar von Cutter Bob Murawski: «A mess.»

Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, das ganze Unter­nehmen einfach abzublasen, doch war das zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr möglich. Somit war es an Murawski, aus dem Chaos einen Film zu basteln. Ist es ihm gelungen? Schwierig zu sagen.

Der letzte Film im letzten Film

«The Other Side of the Wind» erzählt die Geschichte des gealterten Hollywood­regisseurs Jake Hannaford (Regisseur John Huston in besonders bärbeissiger Laune), der womit Mühe hat? Natürlich damit, seinen letzten Film zu finanzieren. Schauplatz ist Hannafords Geburtstags­party, zu der viel Presse und Hollywood­prominenz, Freunde, Feinde und Intriganten eingeladen sind und an der Teile seines letzten Films – mit dem Titel «The Other Side of the Wind» – gezeigt werden.

So weit, so autobiografisch und augen­zwinkernd selbst­referenziell. «The Other Side of the Wind» ist ein Film über das Schlangen­nest Hollywood, über Freundschaft und Betrug und vor allem über Welles selbst. Geschnitten in einem Stakkato-Stil, bei dem ständig zwischen unter­schiedlichem Filmmaterial, zwischen Farbe und Schwarzweiss und unter­schiedlichen Bildformaten gewechselt wird.

Tummelplatz für Stile, Formate, Kulissen: Ein Kameraobjetiv in Grossaufnahme ...Netflix
... und eine Szene mit Oja Kodar aus «The Other Side of the Wind». Netflix

Das ist stellenweise verblüffend, manchmal begeisternd, aber in seiner Länge von über zwei Stunden auch anstrengend und irgendwie traurig. «The Other Side of the Wind» ist im doppelten Sinne – und in gewisser Weise ganz gewollt – ein Film über das letzte Sich-Aufbäumen eines alten Mannes. Ein Film von ebenso entwaffnender Ehrlichkeit wie monumentaler Eitelkeit, der immer wieder peinlich berührt. Nicht zuletzt wegen der Szenen aus dem Film im Film, die vor allem aus ausgedehnten Nackt­aufnahmen von Welles’ Lebensgefährtin Oja Kodar bestehen.

Auch das ist natürlich ironisch gebrochen, kann als Parodie auf europäisches Kunstkino gelesen werden und wird innerhalb des Films sogleich kritisch kommentiert. Aber am Ende wirkt es vor allem so, als wolle uns der alternde Welles die kurvenreiche Anatomie seiner Freundin vorführen – auch wenn böse Zungen behaupten, dass die Szenen nur deshalb so lange geraten sind, weil Kodar, die sich als ideelle Verwalterin des Nachlasses von Welles versteht, darauf bestanden habe.

«The Other Side of the Wind» ist nicht wirklich schlecht, aber auch nicht wirklich nötig. Letztlich ist es wohl weniger ein Film von Welles als über Welles – und über die Faszination, die nach wie vor von dem Filmgiganten ausgeht.

Übrigens: Zum 40. Geburtstag von «Apocalypse Now» hat Coppola noch einmal eine weitere Version seines Films erstellt. «Apocalypse Now: Final Cut» hatte diesen April Premiere. Demnächst läuft er in den Schweizer Kinos.

Zum Autor

Simon Spiegel ist Filmwissenschaftler und schreibt regelmässig Kritiken für die Republik, zuletzt über den neuen Film von Quentin Tarantino. Er lehrt an der Universität Zürich und hat im Rahmen verschiedener Forschungs­projekte mit Barbara Flückiger zusammen­gearbeitet. Seit 2018 ist er Privat­dozent an der Universität Bayreuth.